GRIECHENLAND 1970
Athen, Griechenland, geheimer Gipfel der Fabel,
gefaßt in Topas, der es
umschließt.
Auf eignem Azur erstanden in winzigen
Grenzen, Maß zu sein, Freiheit
des Maßes, Gesetzesfreiheit, die
das Gesetz befreie zu sich.
Aus dem Meere, vom Himmel zum Meere
befreie den menschlichen Gipfel, das Gesetz
der Freiheit, vom Meere zum Himmel.
Wärest du nun mehr nicht, Athen, Griechenland, als
Erde von Toren?
Erde des Unmaßes, mein Athen,
Athen, offene Augen, die dem Suchenden
menschlicher Würde die Augen öffneten.
Jetzt, Ungeheuerliche, solltest du erblinden?
Wer hat dich so weit gebracht, welche
Ungeheuer?
Im Januar 1970, wenige Monate vor seinem Tod, las Giuseppe Ungaretti auf einer Veranstaltung in Rom sein Gedicht „Griechenland 1970“. Mit flammendem Blick unter dem weißen Haar sprach der zweiundachtzigjährige Dichter inmitten von Jugendlichen Worte der Liebe für Griechenlands kostbare Schönheit und den Glanz seiner Geschichte, Worte des Abscheus vor den faschistischen Generälen.
Ungaretti unter Jugendlichen, die seine schwierigen lyrischen Bilder aufnehmen und verstehen, Ungaretti, dessen Verse auf einem Denkmal für die Toten des Widerstandskampfes stehen, Ungaretti, der an seinem achtzigsten Geburtstag von ganz Italien gefeiert wird und der im hohen Alter in seinen Gedichten von Interkontinentalflügen und den künstlichen Satelliten spricht – welch bemerkenswertes Schicksal eines „hermetischen“, dunklen Dichters, als den ihn die zeitgenössische Literaturkritik gern deklarierte.
Es ist wahr: Ungarettis Gedichte sind in seinen verschiedenen Perioden auf verschiedene Weise schwer zugänglich. Aber diese Dunkelheiten – die es in der Geschichte der Poesie immer gegeben hat – sind nicht Verweigerung von Kommunikation, sondern Aufruf, Stachel zu intensiver, vertiefter Vereinigung mit dem Gedanken des Dichters. Die große Verbreitung, die Ungarettis Werk heute in Italien gefunden hat (eine Taschenbuchausgabe erschien kürzlich in einer Auflage von 20.000 Exemplaren), beweist, daß diese Dichtung nicht für einen engen Kreis von Eingeweihten bestimmt war. Liest man Ungarettis Anmerkungen zu seinen Gedichten, ist man betroffen von der Einfachheit und Bescheidenheit, mit der er über seine Verse spricht. Nichts ist da exklusiv, nichts von olympischer Erhabenheit. „Man darf nichts an menschlicher Erfahrung für sich allein behalten“, schreibt er zu einem sehr persönlichen Gedicht über den Tod seines Sohnes, „wenn man nicht hochmütig sein will.“
Nichts anderes ist sein Ziel als Dichter: menschliche Erfahrung auszusprechen. Es gibt viele Äußerungen, in denen er den biographischen Charakter seiner Dichtung betont. 1931 schreibt er in einem Vorwort zu einer Neuausgabe seiner ersten Gedichte: „Dieses alte Buch ist ein Tagebuch. Der Autor hat keinen anderen Ehrgeiz – und glaubt, auch die großen Dichter hatten keinen anderen −, als eine eigene schöne Biographie zu hinterlassen.“ So wird auch der Titel verständlich, den er seiner Gesamtausgabe gibt, Leben eines Menschen (Vita d’un uomo). Daß ein Dichter sein Leben lang sich selbst in den Mittelpunkt der Wellt stellt, würde ihm nicht die Bedeutung geben, die Ungaretti für die italienische, aber auch für die europäische Lyrik des 20. Jahrhunderts gewonnen hat. Ungaretti jedoch spricht von sich als einem Menschen, einem unter vielen, und gerade hierin manifestieren sich seine Humanität und Bescheidenheit. Schon in den ersten Gedichten nennt sich Ungaretti eine „Fiber im Universum“, er ist ein Leidender, der seine Brüder sucht:
Von welchem Regiment seid ihr,
Brüder?
Diese Suche nach Brüderlichkeit und einem „unschuldigen Land“, wo sie möglich ist, hat man bei Erscheinen dieser Gedichte wenig gewürdigt. Geblendet von der Neuheit dieses poetischen Ausdrucks, übersahen die Kritiker die so gar nicht nach Vereinzelung, sondern nach Mit-Leiden, Mit-Fühlen drängende Haltung dieses Dichtens.
Ungaretti hat es schwer gehabt, ein Publikum zu finden. Seine ersten Veröffentlichungen, 1916 in der Zeitschrift Lacerba, 1919 ein Privatdruck mit einer Auflage von 80 Exemplaren und 1923 eine Auflage von 500 Exemplaren, erreichten nur einen kleinen Kreis von Literaten. Erst 1932 wurde Ungaretti eine öffentliche Anerkennung zuteil, der Premio Gondoliere in Venedig.
Wirklich entdeckt wurde Ungaretti von der nächsten Generation. Der Lyriker und Kritiker Michele Rago schreibt dazu: „Abgesehen von den Entdeckungen einiger Kritiker in den Jahren des ersten Weltkrieges, entstand das erste Interesse für Ungaretti und für andere ,neue Dichter‘ von damals unter jungen Antifaschisten, die die Spiegelung der Widersprüche und der Situation jener Zeit auch in der Literatur fanden. Das Neuartige jener Lyrik aus vereinzelten und eingemeißelten Worten war keine leichte Entdeckung. Aber je leiser und abweisender sie war, desto heller klang sie und unterschied sich damit von der Flut der mißtönenden Rhetorik des Regimes.“ Und der Lyriker und Literaturkritiker Sergio Solmi schreibt: „An wenig glaubten wir in unserer Jugend, und zu diesem wenigen gehörte ganz gewiß die Poesie.“
Die „neue Lyrik“, die mit der Dichtung von Saba, Montale, Quasimodo in Italien heranwuchs, hatte in Ungarettis Jugendwerk ihren wichtigsten Grundstein. Seine „vereinzelten und eingemeißelten“ Worte gewannen für die Poesie neuen Sinn und Klang. Das einsame Wort war plötzlich wieder reich an Bedeutung, ja an Bedeutungen, es war nicht mehr lediglich eine Partikel im konventionell dahinströmenden Vers. „Worte, in das Schweigen gelegt, wie Blitze in der Nacht“, beschrieb Ungaretti selbst diese Lyrik.
Ungarettis Dichtung ist außerhalb des italienischen Literaturlebens gewachsen. Kindheit und Jugend in der ägyptischen Stadt Alexandria (sein Vater gehörte zu den Erbauern des Suezkanals), in einer sichtbar vergehenden und immer neu erstehenden Stadt am Rande der Wüste, haben ihn geprägt, und alles Dichten geht immer wieder zu den Bildern jener Zeit zurück. Die Wüste, das Nichts, die Oasen, der vom Sand begrabene Hafen, das gleißende Licht und der vernichtende Schatten kehren als Bilder bis in die letzten Dichtungen wieder. Ungaretti verläßt Ägypten mit sechsundzwanzig Jahren, da ist er schon ein Dichter, bald wird sich seine lyrische Sprache einen Weg bahnen. In Paris, wohin er sich zuerst wendet, findet er eine Fülle von Anregungen, viele Freunde, zu denen Apollinaire, Breton, Paulhan zählen. Bei Ausbruch des ersten Weltkrieges geht er nach Italien, und bald darauf ist er an der Karstfront in den Schützengräben, einer von jenen Soldaten, die ihm erscheinen
So
wie im Herbst
am Baum
Blatt und Blatt.
Ungaretti notiert die in ihm aufblitzenden Gedanken und Bilder, seinen Aufschrei angesichts des Todes, Momente der Tröstung, in denen er in die Natur eindringt, sich fühlt wie ein Stein oder wie das Land unter der weißen Schneedecke, wie ein Blatt. Neben einem Toten liegend, schreibt er „Briefe voll Liebe“.
Dies ist die Geburt einer neuen Lyrik. Sie ist nicht neu, weil sie traditionelle Formen zertrümmert. Zerstörend, nicht erneuernd, hatten schon die Futuristen gewirkt, deren erstes Manifest 1909 erschienen war. Ungaretti schrieb ohne polemische Absichten, er schrieb nieder, was in ihm herangereift war und sich unter dem Eindruck des Furchtbaren zu Versen formte. Seine Zeilen aus ein, zwei Worten klingen, als wären sie noch nie ausgesprochen worden oder nur nach einem tiefen Schweigen. Neu ist die Teilnahme des Dichters am Leiden des Volkes und an seiner Sehnsucht nach Frieden und Menschlichkeit, einem „unschuldigen Land“. Zwischen dieser Dichtung und dem imperialen Pathos eines D’Annunzio, aber auch der Zerstörungswut der Futuristen, die in freudige Kriegstrunkenheit ausartete, tat sich ein Abgrund auf.
Ungaretti war sich selbst bewußt, wie tief seine Lyrik in der Geschichte verwurzelt war. 1931 schrieb er:
Seine Gedichte stellen also sein Ringen mit der Form dar, doch sollte es ein für allemal klar sein, daß die Form ihm nur deshalb zu schaffen macht, weil er von ihr fordert, daß sie den Wandlungen seines Gemüts entspreche, und weil er sollte er Fortschritte als Künstler gemacht haben – wünscht, daß diese Ausdruck seiner menschlichen Vervollkommnung seien. Er ist als Mensch inmitten außerordentlicher Ereignisse herangereift, denen er niemals fremd gegenüberstand. Ohne je die Notwendigkeit einer Ausrichtung der Poesie aufs Universale zu leugnen, hat er immer dafürgehalten, daß das Universale, um vorstellbar zu werden, durch ein lebendiges Geschichtsbewußtsein mit der einzelnen Dichterstimme im Einklang stehen muß.
Im Jahre 1933 veröffentlicht Ungaretti seine zweite Gedichtsammlung, die Lyrik aus den Jahren 1919 bis 1932 umfaßt. Dieses Buch löst ein breites Echo aus, aber wiederum sind es formale Besonderheiten – daß der Dichter der „vereinzelten Worte“ wieder zu traditionellen Versformen wie dem Elfsilbner zurückkehrt, zu Vorbildern wie Leopardi und Petrarca −, die das Interesse der Kritiker wecken. Ungaretti hat sich 1921 in Rom niedergelassen und versucht, in einem fremden und doch heimatlichen Land Wurzel zu fassen, Teil der Geschichte zu werden, die ihm Rom mit seinen antiken Ruinen und der Fülle des Barocks vor Augen führt.
Im „Gefühl der Zeit“ erheben sich neue formale Probleme. Die Unmittelbarkeit, der „Aufschrei“ der ersten Gedichte ist verloren – und überwunden. Ein vielschichtiges – Reflektieren über die sich in der Zeit entfaltende Existenz des Menschen setzt ein, dargestellt mit Bildern aus der Natur und aus Mythen, klang- und nuancenreich ohnegleichen. Strenge Form wird hier auch ein Mittel der Filterung, der Bändigung des Überschwanges, der sich in der Mitte dieses Lebens ausspricht. Ungaretti hat, seine Entdecker enttäuschend, mit dieser Dichtung größere Freiheit bewiesen als mit einer zum Kanon verhärteten Weiterführung seiner frühen Gedichte. Zwischen dem „ersten“ und dem „späteren“ Ungaretti gibt es aber keinen Gegensatz, wie ihn manche konstruiert haben. Überblickt man heute Ungarettis Gesamtwerk, so wird sichtbar, daß er das Fragment als formales Mittel nicht aufgegeben hat, sondern als notwendiges Element immer wieder herbeiruft und es dabei erneuert und bereichert. Das Gefühl der Zeit besteht aber nicht nur in einem Innewerden des Wandels, es ist auch Meditation, Frage, verzweifeltes Gebet. Unruhe, Zweifel an dem, was sich rings um den Dichter ereignet, drücken sich aus in dem wie eine Klagelitanei tönenden Gedicht „Barmherzigkeit“:
Ein verwundeter Mensch bin ich.
…
Und ich fühle mich ausgestoßen inmitten der Menschen.
…
Der Mensch, das eintönige All,
Glaubt, seine Güter zu weiten,
Und von seinen fiebrigen Händen
Kommt ohne Ende nichts als Begrenztes.
Diese in das Gebet eingeschlossene Mahnung spricht der Dichter zu einer Zeit aus, da der Faschismus seine Eroberungskriege vorbereitet. Seine Sehnsucht nach „ewiger Menschlichkeit“ bleibt ein Traum, der sich nur im Gebet zu artikulieren wagt.
Ungaretti wendet sich der Tradition des italienischen Verses zu. Vor allem Leopardi, dieser größte italienische Dichter des 19. Jahrhunderts, beschäftigt ihn, und er ist sich bewußt, daß sich diese Annäherung aus einer inhaltlichen Verwandtschaft erklärt. Er schreibt: „In seiner Dichtung hat Leopardi voll Verzweiflung das Gefühl des Niederganges manifestiert, er hat empfunden, daß die Lebenszeit einer Kultur, jener, an die er sich gebunden fühlte, an ihren Endpunkt gelangt war, an dem eine Kultur sich von Grund auf wandelt. Etwas ging unter, gleichzeitig damit gingen Formen unter. Eine Sprache wurde sich ihres Alterns bewußt.“
Ungarettis Gefühl der Zeit erwächst aus diesem Bewußtsein von Untergang und Leere, diese innere Verwandtschaft führt ihn zu Leopardi. Die Ähnlichkeit ihrer Lage in verschiedenen Entwicklungsphasen der bürgerlichen Gesellschaft ist deutlich: Ausgeschlossene beide, suchen sie nach Menschlichkeit, auch wenn sie sich nur im Leiden manifestieren kann. In der verwirrenden Dunkelheit der Zeit sucht der Dichter nach Ordnung und Festigkeit, er studiert die Lyrik der Vergangenheit, neben Leopardi vor allem Petrarca, und ihn fesseln strenge Versformen und schwierige, rätselhaft komprimierte Bilder.
Aber die Meditation wird unterbrochen. Schon in der Kindheit war Ungaretti dem Tod begegnet: in Alexandria starb sein Vater, und einmal in der Woche führte ihn die Mutter an das Grab; in Paris nahm sich sein Freund Mohammed Sneab das Leben; im Krieg sah er rings um sich Sterbende, und als er von der Front nach Paris kam, fand er seinen Freund Apollinaire auf dem Totenbett. Nun aber trifft ihn ein Tod so tief, daß sich seine Dichtung in einen langen Klageschrei verwandelt. Ungaretti ist 1936 nach Brasilien gegangen, wo er Vorlesungen über italienische Literatur an der Universität von São Paulo hält; in Brasilien stirbt sein Sohn, neun Jahre alt, und dieser Verlust schlägt die tiefste Wunde im Herzen des Dichters. Im Jahre 1942 kehrt er nach Italien zurück und erlebt die Schrecken des Krieges. Sein Schmerz weitet sich aus, wird ein großes Mit-Leiden:
Nicht mehr meine Klagen allein klage ich.
Diese Gedichte, zwischen 1937 und 1946 entstanden, veröffentlicht Ungaretti 1947 unter dem Titel Der Schmerz (Il dolore), aber noch in dem Band Ein Aufschrei und Landschaften (Un grido e paesaggi) aus dem Jahr 1952 kehrt er zu dieser Klage zurück.
Seit 1936 veröffentlicht Ungaretti Übersetzungen. Er dichtet Sonette von Shakespeare nach, Verse von Saint-John Perse, Blake, Góngora, Jessenin, Mallarmé, Paulhan. Von Racine übersetzt er die Phädra.
Mit der Gedichtsammlung Das verheißene Land (La terra promessa) nimmt Ungaretti Themen des „Gefühls der Zeit“ wieder auf, nun aus der Sicht des Alters. „Chöre, Didos Gemütszustände zu beschreiben“, nennt er das Hauptstück des Bandes. Dido, die das vergehende Leben (und auch den Dichter) verkörpert, klagt in diesen Gesängen um Äneas, den Geliebten, um die für immer verlorene Jugend. Dieser Abschied des Dichters von der Vergangenheit, mit immer neuen, überraschenden Bildern des Schmerzes, des Sich-Trennens, ist kein resignierendes Zurückblicken, sondern wiederum tiefstes, intensives Erforschen auch dieses Existenzmoments. Wiederum wird die Zeit in allen schmerzvollen Nuancen erlebt und erlebbar gemacht. Mit diesem und dem folgenden Band kehrt Ungaretti zur fragmentarischen Sprache zurück. Jetzt aber ist nicht mehr das einsame, aus der Stille hervorleuchtende Wort die Grundstruktur, sondern es sind Bildfragmente, die höchste Intensität des Ausdrucks erreichen.
Alterslyrik, sagt der Titel der letzten Sammlung Ungarettis: Merkbuch des Alten (Il taccuino del vecchio, 1960). Auch hier klingt das Motiv der Suche nach dem verheißenen Land an: „Letzte Chöre für das verheißene Land“ nennt er die siebenundzwanzig Gedichte, die wie ein Destillat aus acht Jahren Tagebuch erscheinen. Wiederum meditiert er über Zeit und Vergänglichkeit, faßt sie als aktivierende Momente des Lebens. Und er fügt in die Reflexionen die Gegenwart ein, Satelliten, die um die Erde kreisen, eine Reise im Düsenflugzeug über die Kontinente, mahnt vor der Gefahr, die Maße des Menschen zu vergessen.
Scheinbar ist das Werk abgeschlossen. Der alte Dichter fügt ihm nur noch wenige Zeilen hinzu, die er in den Neujahrsnächten niederschreibt. Da brechen mit aller Vitalität die Liebesgedichte des „Dialogs“ (Dialogo, 1966 – 1968) hervor, neun Gedichte voller Gefühlskraft und Sinnlichkeit, in denen der achtzigjährige Dichter die Zeit überwunden zu haben scheint.
In der Gegenwart verwurzelt, an ihren Übeln leidend, dabei seiner dichterischen Sprache treu, artikuliert sich Ungaretti noch einmal kraftvoll in seinen letzten Versen, eben jenem Gedicht „Griechenland 1970“.
Ungarettis Gesamtwerk, das von 1916 bis ins Jahr 1970 reicht, ist schmal, es füllt nicht mehr als einen Band. Der umfangreiche Nachlaß an Varianten bezeugt, welch langen Weg zu dem treffendsten, intensivsten Ausdruck er jedesmal gegangen ist. Ein Leben lang mit der Sprache ringend, auf der Suche nach dem „unschuldigen Land“, nach „ewiger Menschlichkeit“ und nach dem „verheißenen Land“, hat der Dichter Ungaretti das Leid und die Sehnsucht dieses Jahrhunderts ausgesprochen.
Christine Wolter, Nachwort, August 1974
1888 in Alexandria als Sohn italienischer Einwanderer geboren, steht Giuseppe Ungaretti in seiner Kindheit unter dem Eindruck nordafrikanischer Landschaft: unbarmherzige Sonne, Wüste, Einsamkeit. Von 1912 bis 1914 setzt der junge Italiener die in Ägypten begonnenen Studien in Paris fort, er schließt Freundschaft mit den avantgardistischen Künstlern der Epoche – Apollinaire, Breton, Max Jacob, Picasso. 1915 wird er als Infanterist einberufen, verbringt die folgenden Jahre in den Schützengräben des norditalienischen Karsts. Die Daseinserfahrung dieser Zeit, seinen Aufschrei im Angesicht von Grauen und Tod hält der junge Dichter in einer Art poetischem Tagebuch fest. Nach dem Weltkrieg kehrt Ungaretti für kurze Zeit nach Paris zurück, läßt sich ab 1920 in Rom nieder, ist als Dolmetscher und Zeitungskorrespondent tätig. 1936 folgt er einem Ruf als Professor für italienische Literatur an die Universität São Paulo. 1942 kehrt er nach Rom zurück, hat bis 1958 den Lehrstuhl für zeitgenössische Literatur an der dortigen Universität inne. Dieses Leben in den äußeren Bahnen bürgerlicher Normalität ist stets begleitet von einer hartnäckigen Suche nach der eigenen Identität. Wenige schmale Gedichtbände legen Zeugnis ab von diesem Bemühen: Freude der Schiffbrüche (1919), Der begrabene Hafen (1923), Die Freude (1931), Gefühl der Zeit (1936), Der Schmerz (1947), Das verheißene Land (1950), Das Merkbuch des Alten (1960), Dialog (1968). 1969, ein Jahr bevor Ungaretti in Mailand stirbt, erscheint die erste Ausgabe sämtlicher Gedichte. Ihr Titel ist poetische Konfession: Vita d’un uomo – Leben eines Menschen.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1977
Entwürfe
Sein Gesicht war freundlich, das Gesicht eines alten Mannes, eines Mannes, der verzeiht, der viele Sorgen gehabt hat, vieles erfahren hat und niemand damit im Wege sein möchte. Er war an diesem Mittag nicht der große Mann, er sagte nichts Bedeutendes, und man vermöchte ihn ebensogut mit seinem Werk in Zusammenhang zu bringen wie ihn zu erinnern ohne sein Werk, so wie es wohl mit allen rechten Menschen sein mag. Ungaretti, uomo di pena.
Ich halte es für verkehrt, daß man, über so verschiedene Erfahrungen hinweg, über so große Altersunterschiede hinweg, es mit dem Sprechen versucht.
In Fiumicino, an einem fürchterlichen Tag, an dem er mich zu einem Flugzeug bringen wollte, das dann einen ganzen Tag lang nicht wollte oder konnte oder gar nicht da war, haben wir stundenlang miteinander getrunken und gewartet, und schließlich, von ()isten, wie es sie nur in Fiumicino gibt, die wissen wollten, was der „Professare“ dort vorhabe oder zu welchem Land es ginge (), einen der seltsamsten Tage zugebracht, an die ich mich erinnere. Seit ich weiß, daß Giuseppe Ungaretti nie krank war, (weder) weiß, was Kopfschmerzen sind, noch Leiden, wie alle gewöhnlichen Menschen sie haben, kommt es mir noch viel sonderbarer vor, daß er allein bemerkt hat, daß ich vor Schmerzen nicht mehr ein und aus wußte und daß er dort geblieben ist, bis dieses verdammte Flugzeug endlich doch abgeflogen ist.
Seit damals reise und lebe ich mit vier Glücksbringern, den portafortuna, die er mir an dem Tag gegeben hat, und wenn ich sie jetzt nicht mehr alle brauche, sondern nur noch freundlich ansehe und sie sogar zuhause lasse, dann fällt mir doch immer ein, daß er mich gegen etwas schützen wollte, und weil ich nie mehr in Fiumicino umkomme vor Schmerzen und weil mein Haus geschützt ist, jedes Zimmer von einem Glücksbringer, kommt es mir nicht mehr so zufällig und seltsam vor, daß ich diesem Mann begegnet bin.
Wenn auch die Achtung und die Ehrfurcht es verbieten – wenn die Schönheit eines verdienten Gesichts es verbietet, so meine ich doch, wie man sich erlaubt, manchmal einen Stern anzuschauen, und meint, von seinem Licht angestrahlt zu werden, daß mich etwas angestrahlt hat und mich beschützt, und wenn (es) auch immer zerbrechlicher wird, wie das Licht, von dem er in seinen letzten Gedichten schreibt, so ist es stark genug, daß ich (es) in seiner größten Zerbrechlichkeit und Fernheit auf mir haben werde.
Er hat mir gesagt, schreiben Sie nicht, daß Sie mich für einen großen Dichter halten, und das habe ich ihm versprochen, schreiben Sie, daß ich ein ragazzino bin, das ist ein einfacher Gefallen, den man jemand tun kann.
Aber die großen Männer – was sind sie, man trifft sie sehr selten, (sie) sind sehr einfach, sie lachen wunderbar, sie sind streng, ohne es denen zu zeigen, die von Strenge nichts verstehen (aber ich hoffe, ich habe die seine verstanden), und sie sind nicht furchtbar, sondern sie sind etwas mitleidiger als die anderen, etwas großzügiger, etwas kindlicher, sehr viel reifer, und am Ende berührt sich die Weisheit mit der Kindlichkeit, mit der einmal die Götter, die es nicht mehr gibt, ihre Lieblinge zu sich geholt haben.
Ich kenne die Götter Ungarettis nicht, ich glaube nicht, daß er je gehört (hat) Dasein ist Pflicht, denn die Pflicht heißt hier „dovere“, und müssen ist ein tragisches Geschenk, dessen Heiterkeit nie in Frage gestellt ist, man muß leben, man muß seine Arbeit tun, dann kommen den helfenden Händen die hilfreichen entgegen.
Ich glaube nicht, daß Giuseppe Ungaretti je gemeint hat, er müsse mir oder jemand helfen, ich hoffe vielmehr, er hat es für wichtiger gehalten, einen Satz zu schreiben oder Blakes Hölle zu beschreiben, sein Leben und nichts als sein Leben zu leben. Es ist hilfreicher als die Hilfen vieler.
Wie die Glücksbringer umstehen dann die Sätze jemand, und das ist die Hilfe.
Wenn ein alter Mann fähig ist, Freude zu erzeugen, dann ist er sich nie untreu gewesen, wenn er zuerst allegria geschrieben hat.
Es ist aber die Freude der Schiffbrüche.
Sie zu erlernen, die Fahrt wie (ein) alter Seelöwe wiederaufzunehmen, ders eben nicht lassen kann, das ist nicht Dasein ist Pflicht, sondern das herrliche Laster des Lebens, und zu leben und zu leben.
Und wer es nicht kann, wird auch nie schreiben können, da Dasein keine Pflicht ist, sondern ein Laster, aber wer viel versteht, wird auch ein wenig verstehen, ()
Die Huldigung, die einem großen Dichter sicher ist, ist geringer als die Bewunderung für ein Leben, das von Verlusten, Erniedrigungen, Kränkungen, Schmerzen und der immerwährenden Infamie, der ein Schriftsteller ausgesetzt ist, der seine vier Wände doch verläßt, wie jeder andere, einen Triumph hat, der in etwas Immensem besteht, im illumino, und ich sehe es so zusammen, den Mann, den ich heute verlassen habe in einem Taxi an einer beliebigen Straße in Rom, und der mir seine Feder geschenkt hat oder sein Lachen, in dem es heißt, ich habe alles verstanden, aber es geht vorüber.
Es ist das Geheimnis der großen Männer, daß sie uns mit einem Gelächter entlassen.
Im Jahr 1961, nachdem ich die erste Auswahl der Gedichte von Ungaretti ins Deutsche übersetzt hatte, lernte ich den großen alten Mann kennen. Die Begegnung hatte ich die längste Zeit vermieden, nicht einmal zwei wunderbare Briefe von ihm beantwortet, weil ich fürchtete, mein fehlerhaftes Italienisch könne ihn erschrecken oder mißtrauisch machen. Allerdings hätte ich mir sagen müssen, daß niemand besser als Ungaretti verstehen würde, daß man in der eigenen Sprache zuhause sein muß, um ein Gedicht von einem Ufer ans andre ziehen zu können. Meine Furcht vor dem mostro sacro der italienischen Dichtung ist in einem der legendären Ungaretti-Gelächter vergangen: ich habe ihn nicht zuerst sprechen gehört, sondern lachen, lachen.
Wenn ich heute oder Jahre später sagen sollte, Menschen, die ihn nicht gekannt haben, was der hervorragendste Zug an dem Menschen Ungaretti war, das Überwältigende, so würde ich zuerst immer blindlings sagen: seine Großzügigkeit. Niemand konnte schenken wie Ungaretti, niemand den anderen mehr verwöhnen. Nie bin ich von ihm weggegangen, ohne ein Geschenk von ihm in der Hand zu haben, eine grüne Feder, ein lang gewünschtes Buch, und mit ihm essen gehen oder reisen zu einem Kongreß, das hieß auch, von ihm immerzu umsorgt werden, es war ihm nichts gut genug für den anderen.
Das größte Geschenk hat mir Ungaretti mit einem Tag in Fiumicino gemacht. Ich weiß noch heute nicht, wie er bemerken konnte, daß es mir schlecht ging, aber er bestand darauf, mich frühmorgens vom Hotel zum Flugplatz zu bringen, dort zu warten bis zum Abflug, auf ein Flugzeug, das erst am Abend abfliegen sollte, und so verlor er einen ganzen Tag in dem infernalischen Lärm des Flugplatzes, sorgte sich, suchte einen abgelegenen Raum für mich, ließ Champagner bringen, tat geheimnisvoll und breitete vier Glücksbringer aus, mit denen ich seither immer reise und wohne, darunter einen antiken chinesischen, den er einmal von Jean Paulhan bekommen hatte und den ich deswegen nicht annehmen wollte. Aber Ungaretti sagte begütigend: Ich brauche ja nichts mehr, ich habe alles gehabt. Aber Sie brauchen noch etwas, und das alles soll Sie beschützen.
Ingeborg Bachmann, in Ingeborg Bachmann: Kritische Schriften, Piper Verlag, 2005
Wir finden selten Gelegenheit, mit lauter Stimme und ohne jegliches literarisches Ansinnen, nur aus reinem Vergnügen, aus all unserem Empfinden heraus zu verkünden, wieviel uns das Werk und das Leben eines großen Dichters, der unser Zeitgenosse ist, bedeutet. Offensichtlich hat Ungaretti nur ein einziges Vaterland, ob er selbst es nun gewußt haben mag oder nicht: die Dichtung.
René Char
Adolf Endler: Eine Reihe internationaler Lyrik, Sinn und Form, Heft 4, 1973
Christa Wolf: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar
DU
Rolf Löchel: Es schmerzte sie alles, das Leben, die Menschen, die Zeit
literaturkritik.de, Oktober 2003
Jan Kuhlbrodt: Zum 40 Todestag von Ingeborg Bachmann
signaturen.de
Susanne Petersen: „Keine neue Welt ohne neue Sprache“
Sonntagsblatt
Diemut Roether: Ein Ungeheuer mit Namen Ingeborg
die taz, 23.6.2001
Otto Friedrich: Zum 75. Geburtstag von Ingeborg Bachmann
Die Furche, 20.6.2001
Evelyne von Beime: „Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen“
literaturkritik.de, Juni 2006
Ria Endres: „Es kommen härtere Tage“
faustkultur.de, 15.6.2016
Hans Höller: Ingeborg Bachmann: Phänomenales Gedächtnis ganz aus Flimmerhaar
Der Standart, 25.6.2016
Hans Höller: Die Utopie der Sprache
junge Welt, 26.6.2021
Hannes Hintermeier: Horror vor der Sprache der Bundesdeutschen
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2022
Edwin Baumgartner: Bachmann für Verehrer
Wiener Zeitung, 24.11.2022
Ingeborg Bachmann: Eine poetische Existenz auf der Rasierklinge
Kleine Zeitung, 16.10.2023
Hans Höller: Kriminalgeschichte der Autorschaft
junge Welt, 17.10.2023
Claudia Schülke: Elementare Grenzgängerin
Sonntagsblatt, 11.10.2023
Paul Jandl: Vor fünfzig Jahren starb Ingeborg Bachmann an schweren Brandverletzungen. Dann gab es Gerüchte über einen Mord, und es entstand ein Mysterium
Neue Zürcher Zeitung, 17.10.2023
Teresa Präauer: Nur kurz hineinlesen – und nächtelang hängen bleiben
Die Welt, 17.10.2023
Andrea Heinz: Erinnerung an eine Unvergessene: Vor 50 Jahren starb Ingeborg Bachmann
Der Standart, 17.10.2023
Hans-Jürgen Heise: Ungaretti: Die lichtvolle Hermetik
Die Tat, 10.2.1973
Giuseppe Ungaretti liest Inno alla morte.
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