STERNE
Dort oben glühen wieder die Märchen.
Und fallen mit den Blättern im ersten Windstoß.
Doch laß es ein andermal wehen,
so kehren sie wieder mit neuem Strahlen.
Zum hundertsten Geburtstag Giuseppe Ungarettis erscheint dieser Band, der dem deutschen Leser zum erstenmal das lyrische Werk aller Schaffensperioden des nach Leopardi wohl bedeutendsten italienischen Dichters vorstellt. Was die Bände L’Allegria, Sentimento del Tempo, Il Dolore und La Terra Promessa angeht, handelt es sich um eine Auswahl. Das Spätwerk mit den beiden berühmten großen Zyklen „Il Taccuino del Vecchio“ und „Dialogo“ ist vollständig wiedergegeben. Die herrlichen Dunja-Gedichte aus den letzten Lebensmonaten des Dichters und die den Toten des Widerstands gewidmeten Verse schließen den Band ab.
Man mag daran zweifeln, ob es überhaupt möglich sei, diese auf den ersten Blick so dunklen, ,hermetischen‘ Gedichte in eine andere Sprache zu übertragen. Und auch der Übersetzer hat sich diese Frage immer wieder gestellt. Die manchmal extreme Kürze des poetischen Ausdrucks und die grammatikalischen Umstellungen, die die italienische Sprache gestattet, ohne sie freilich im Alltag zu verwenden, sollten ihr Äquivalent im Deutschen finden, das ganz anderen Gesetzen folgt. Bilder und Strukturen aus der Feder Ungarettis durften nicht aufgelöst werden, sollten erhalten bleiben: in neuen eigenständigen Versen. Und aus dem, was anfangs dunkel erschien, brach immer mehr Licht hervor, helles mittelmeerisches Licht. Vers für Vers wurde die Arbeit von der Erinnerung an Ungarettis Heiterkeit, an sein verschmitztes Lachen getragen, an seine Antwort auch auf die Frage, was nun in einem bestimmten Gedicht Objekt, was Subjekt sein solle. Er sagte: „Fai come ti pare“, mach es, wie es dir gut und richtig scheint. Das klingt, nicht ganz zufällig, an Paul Valérys Worte an: „Mes vers ont le sens qu’on leurs prête“. Eine Ermunterung, nicht immer ein Trost.
Über Leben und Werk Ungarettis, die als eine Einheit zu sehen sind, gibt das Nachwort Auskunft. Die entscheidenden Motive: Spracherneuerung und Bekenntnis zur Gegenwart, Erinnerung und Suche nach dem unschuldigen Land, das gleichzeitig das unschuldige Land der Kindheit ist, stilistische Einordnung und Entwicklung und gleichzeitig Ausbruch aus allen Stilzwängen – sie sollen dem deutschen Leser, wenn auch gewiß nicht vollkommen erklärt, so doch näher gebracht werden.
Ungaretti hundert Jahre alt. 1968, als der Dichter zu seinem 80. Geburtstag geehrt wurde, sprach er in einer Dankesrede von den vier mal zwanzig Jahren seines Lebens und unterstrich damit seine Jugendlichkeit, die in seinen Gedichten Ausdruck fand, die klassische Formen aufgriffen und sie doch hinter sich ließen, die das ganze junge Leben des alten Mannes zum Gegenstand hatten, der mit den Malern und Bildhauern jüngerer Generationen zusammenarbeitete und schöne Editionen schuf: Dorazio, Fazzini, Burri. Auch ein Gleichaltriger war in der Freundesgruppe, der 1988 ebenfalls ein Jahrhundert vollendet: Hans Richter. Es war die Zeit, da wir uns in Palermo zum Festival der neuen Musik trafen. Ungaretti inmitten der jungen Dichter, Maler und Komponisten: Evangelisti, Nono, Alfredo Giuliani, Aldo Clementi, Franeo Nonnis. Luigi Nonos Vertonungen der Dido-Chöre legen Zeugnis von dieser zauberhaften Symbiose des großen alten Mannes mit den Jüngeren ab. Sechziger Jahre. Es war auch die Zeit, da Ungaretti mit lachenden Augen und dröhnender Stimme „Il Mare“, das klang wie „il maaaare“ vortrug, und Ingeborg Bachmann und ich im Wechsel unsere Übersetzungen lasen. Paul Celan übertrug Verse Ungarettis, Horst Bienek schrieb über ihn:
Alter Freund -Giu-
was hast du gemeint
mit deiner letzten Zeile:
Für immer auf ewig von nun an
allezeit Immerzeit Allzeit
Und Ariodante Marianni begleitete ihn: sein Eckermann.
Ungaretti lebte in und aus der Gesellschaft der Jüngeren, der Künstler, der Freunde, – der Frauen. Die Liebesgedichte der Spätzeit, der Dialog mit der südamerikanischen Freundin Bruna und die letzten Gedichte des Achtzigjährigen für Dunja, bezeugen diese Lebensfreude, Lebensnotwendigkeit.
Ich suche ein unschuldiges Land lautet der Titel des vorliegenden Bandes. Gemeint ist die Terra Promessa, das verheißene Land, das Land der Kindheit, das Land ,Heimat‘, das der Dichter auf seiner lebenslangen Wanderung durch Ägypten, Italien, Frankreich, Brasilien und wieder Italien suchte und nicht finden konnte. Ausgangs der sechziger Jahre las Ungaretti in der Bayerischen Akademie und sprach am Radio zu den italienischen Gastarbeitern in Deutschland. Ich stand neben ihm und erinnere mich seiner Worte, die ungefähr lauteten:
Ich gehöre zu Euch, bin ein Girovago, ein Landstreicher, immer auf der Suche nach Arbeit, Leben und Liebe und eben nach der Terra Promessa, dem verheißenen Land, der patria, der Heimat.
Ungà – so nannten ihn seine Freunde – pflegte an seinem Geburtstag, dem 10. Februar, die nichtanwesenden Lieben durch einen Kartengruß aufzufordern, mit ihm und auf ihn anzustoßen.
Stoßen wir also auf die fünf mal zwanzig Jahre des großen Dichters an.
Jedes Jahr, wenn ich eben entdecke, wie reizbar
der Februar ist und wie trübe aus Scham,
bricht übertupft mit Blüten gelb
die Mimose herein. Sie umrahmt das Fenster
meiner Bleibe von damals,
meiner Bleibe von heute, wo ich die alten Tage verbringe.
Während ich dem großen Schweigen näher komme,
sollte sie nicht Zeichen sein, daß kein Ding stirbt,
solange sein Bild uns wieder und wieder erscheint?
Oder sollte ich endlich erfahren, daß der Tod
nur über den Schein Macht hat?
(„Die Notizen des Alten, 9“)
Michael Marschall von Bieberstein, Vorwort, November 1987
GIROVAGO
In nessuna
parte
di terra
mi posso
accasare
A ogni
nuovo
clima
che incontro
mi trovo
languente
che
una volta
già gli ero stato
assuefatto
E me ne stacco sempre
straniero
Nascendo
tornato da epoche troppo
vissute
Godere un solo
minuto di vita
iniziale
Cerco un paese
innocente
LANDSTREICHER
In keinem
Teil
der Erde
bin ich
zu Hause
In jeder
neuen
Umgebung
spüre ich
Sehnsucht
da ich
schon einmal
an sie
gewöhnt war
Und ich trenne mich
für immer ein Fremder
Geboren
nur wiedergekehrt
aus zu Ende gelebten Zeiten
Nur einen Augenblick
ursprüngliches Leben
genießen
Ich suche in
unschuldiges Land
Mit diesen Versen Giuseppe Ungarettis, 1918 geschrieben und im ersten Band der Vita d’un uomo, L’Allegria, veröffentlicht, stehen wir schon mitten in der biographischen und dichterischen Erfahrung, mitten in einem Werk, das sich über fast sechs Jahrzehnte erstreckt und einen nicht mehr bestrittenen oder zu bestreitenden Rang in der modernen Lyrik einnimmt. Was die polemische, aber auch die zustimmende Kritik nicht sehen wollte oder konnte, ist der enge Zusammenhang von biographischen und stilistischen Elementen, die doch vom Dichter selbst in aller Deutlichkeit schon in der Einführung zum ersten Band, der Allegria (1914–1919), dargelegt wurde:
Dieses Buch ist ein Tagebuch. Der Autor hat keinen andern Ehrgeiz, und glaubt auch, daß die großen Dichter keinen andern hatten, als eine eigene schöne Biographie zu hinterlassen. Die Gedichte sind daher seine formalen Qualen, aber er wünscht, ein für allemal begreiflich zu machen, daß die Form ihn bloß quält, weil er von ihr fordert, daß sie den Veränderungen seines Sinnes, seines Gemütes entspricht, und wenn er irgendeinen Fortschritt als Künstler gemacht hat, so möchte er, daß dies nichts anderes bedeutet, als daß er auch einige Vollkommenheit als Mensch erreicht hat.
Ungaretti hat es der Literaturwissenschaft schwer gemacht. Er scheint, oberflächlich gesehen, ein Mann des totalen Widerspruchs: Der Erneuerer der italienischen Dichtungssprache, der das Pathos eines D’Annunzio durch die Konzentration auf das einzelne Wort ersetzt, der das Fragment liebt, ist doch gleichzeitig der Tradition verpflichtet wie kaum ein anderer. Im zentralen Werk, der Terra Promessa, beruft sich Ungaretti auf Petrarca, die Legende des Gedichtes geht zurück auf die Landsuche des Aeneas, hier und in den letzten großen Zyklen, im „Taccuino del Vecchio“ und im „Dialogo“, steht ein Begriff im Vordergrund, der auf Leopardi verweist, die „Erinnerung“, „memoria“. Ungaretti wurde als Anführer der ,hermetischen Schule‘ als ein ,dunkler‘ Dichter verdammt, wenngleich eben dieses dunkle Dichten in Italien nun seinerseits eine eigene Geschichte hat, die bis zu Horaz zurückreicht, sein Werk wurde von der Kritik Benedetto Croces und seiner Schüler der ,non-poesia‘ zugerechnet, weil seine Verse nur Intellekt, aber keine Inspiration spüren ließen. Positiv, aber auch einseitig die Interpretation Hugo Friedrichs, der das Werk Ungarettis einzig in der Nachfolge des französischen Symbolismus und vor allem Mallarmés sieht. Leben und Werk widerlegen die Ausschließlichkeit beider Thesen.
Die Suche nach dem „paese innocente“, dem unschuldigen, dem verheißenen Land, jenseits der Wüste, an deren Rand Ungaretti 1888 als Kind emigrierter lucchesischer Eltern geboren wird, bleibt im gesamten Werk beherrschend und wird immer wieder aufgenommen, gleichviel ob in den Kriegsgedichten der Allegria oder in der in Brasilien begonnenen Canzone (1950) oder in den Notizen des Alten. Die biographischen Erfahrungen des Dichters sind immer gegenwärtig, ihre poetische Fassung und Steigerung geht von sinnlicher zu metaphysischer Realität, hin zur Wirklichkeit des Traums, des Mythos.
M’illumino
d’immenso
Ich erleuchte mich
aus Unermeßlichem
Diese beiden Verse mit ihrer unvergleichlichen musikalischen Intensität, 1917 geschrieben, sind ein Aufschrei im Schweigen des Krieges, zwei Worte zwischen zwei Pausen. Mit diesen und anderen Versen aus derselben Zeit erwirbt sich Ungaretti den Ruf eines Revolutionärs der italienischen Dichtungssprache, die bis dahin von den hymnischen Klängen eines D’Annunzio oder den sanften Versen eines Pascoli bestimmt war. Jedes einzelne Wort erhält eine neue Kraft, einen Suggestionswert, der durchaus nichts Fragmentarisches hat, sondern Wesentliches beinhaltet. Das Thema des Lichtes ist angeschlagen, eines inneren Lichtes, das zum Klang wird. – Suggestionstechnik und Musikalität im Vers verweisen auf E.A. Poe, Mallarmé und auf die große französische Lyrik der zweiten Hälfte des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts.
1912 verläßt Ungaretti Ägypten, er geht nach Paris, hört an der Sorbonne die Vorlesungen von Bergson und Bédier und befreundet sich mit den Malern und Dichtern der Avantgarde, vor allen andern mit Apollinaire. Die italienischen Schriftsteller Papini und Palazzeschi bitten um seine Mitarbeit an der Zeitschrift Lacerba. Ob und inwieweit die Begegnung mit Paul Valéry Ungarettis eigene Dichtung beeinflußt hat, ist strittig. Sicher zeigen beide Dichter eine gewisse stilistische Abhängigkeit von Mallarmé, Valéry entwickelt sie in der ihm eigenen rationellen und cartesianischen Weise, Ungaretti übernimmt – für eine kurze Zeit jedenfalls – die Technik der Suggestion, die sich im fragmentarisch anmutenden Einzelwort erfüllt, weiß seine Arbeit aber doch in der Fülle italienischer Tradition, deren Weg von der Natur zum Symbolbild geht.
1915 wird Ungaretti zum Kriegsdienst in Italien einberufen, er dient als Soldat auf dem Carso bei Triest, und ein junger Offizier, Ettore Serra, gibt 1916 den ersten Gedichtband Il porto sepolto in Udine heraus. Das Erlebnis des Krieges und die Pariser Begegnungen sind bestimmend für die Verse der Allegria.
NOIA
Anche questa notte passerà
Questa solitudine in giro
titubante ombra dei fili tranviari
sull’umido asfalto
Guardo le teste dei brumisti
nel mezzo sonno
tentennare
LEERE
Auch diese Nacht geht vorüber
Diese Verlassenheit ringsumher
der zitternde Schatten der Trambahndrähte
auf dem nassen Asphalt
Ich sehe die Köpfe der Kutscher
im Halbschlaf schwanken
Dem schöpferischen Ennui Mallarmés gesellt sich die Melancholie Leopardis zu, in einer Nacht-Welt wartet der Dichter auf die den zweiten Band Sentimento del Tempo beherrschende ,aurora‘ – Morgenröte. Ein anderes Kriegsgedicht:
Si sta come
d’autunno
sugli alberi
le foglie
So
wie im Herbst
auf den Bäumen
die Blätter
enthüllt seinen Sinn im Titel: Soldaten.
Die Kürze der dichterischen Formel enthält die Frage nach dem ,Warum‘ der Dunkelheit, der Ausweglosigkeit. Leopardi hatte geschrieben:
I lavori di poesia vogliono per natura essere corti.
Die scheinbare Dunkelheit, die sich aus Klangkonzentration und semantischer Dichtheit ergibt, verdrängt doch nicht die leidende Stimme des Menschen, verstärkt vielmehr: Leiden und Heimatlosigkeit.
In dem großen Gedicht „Die Flüsse“ aus dem Jahr 1916 spricht Ungaretti von den Stationen seines Lebens, vom Serchio, der unweit Lucca, der Heimatstadt der Familie, ins Meer mündet, vom Nil, an dessen Ufern er aufgewachsen ist und wo er die ersten vierundzwanzig Jahre seines Lebens verbracht, von der Seine, in deren trübem Wasser er sich eingetaucht und „erkannt“ hat, schließlich vom Kriegsfluß Isonzo. Das Gedicht endet mit der Identifizierung des eigenen Lebens mit der Nacht:
Questa è la mia nostalgia
che in ognuno
mi traspare
ora ch’è notte
che la mia vita mi pare
una corolla
di tenebre.
Dies ist meine Sehnsucht
die in jedem Fluß
mir leuchtet
nun da es Nacht ist
da mir mein Leben erscheint
eine Blütenkrone
aus Finsternissen.
Die konkreten Stationen des Lebens werden hier wie immer im Werk Ungarettis durch die Erinnerung abstrahiert und gleichzeitig intensiviert.
Das Leiden am Krieg und am Elend heißt Ungaretti die Kindheit oder gar Zeiten erinnern, die er selbst nicht erlebt, die dem Mythos angehören und dem Ideal der Unschuld entsprechen. Ägypten, Frankreich, Italien – der Dichter ist überall zuhause und nirgends, heimisch ist er nur im Wort, das das Schweigen zerreißt, in einer Dichtung, die mit dem Leben gleichgesetzt wird:
COMMIATO
Gentile
Ettore Serra
poesia
è il mondo l’umanità
la propria vita
fioriti dalla parola
la limpida meraviglia
di un delirante fermento
Quando trovo
in questo mio silenzio
una parola
scavata è nella mia vita
come un abisso
ABSCHIED
Verehrter
Ettore Serra
Dichtung
ist die Welt die Menschheit
das eigene Leben
erblüht aus dem Wort
glasklares Staunen
aus fiebriger Gärung
Finde ich
in meinem Schweigen
ein Wort
gräbt es sich ein in mein Leben
wie ein Abgrund
Für Ungaretti ist Dichtung weder rhetorische noch ästhetische Übung, sie hat lebensrettenden und lebenserhaltenden Charakter, auch oder gerade wenn sie sich an irdisches Geschehen, an Begegnungen, Erinnerungen und Landschaften anlehnt. Der Achtzigjährige dichtet:
S’incomincia per cantare
e si can ta per finire.
Beginn um zu singen
sing fort um zu Ende zu bringen.
Die Allegria ist ein Gedichtband des Leidens und Mit-Leidens.
Nach dem Krieg wohnt Ungaretti erneut und für nur kurze Zeit in Paris, ein Band von Versen in französischer Sprache, La guerre, erscheint im Jahr 1919. Beinahe gleichzeitig gibt der Verleger Vallecchi in Florenz den Zyklus Allegria di naufragi heraus. Ungaretti übernimmt die Pariser Korrespondenz des Popolo d’Italia. Er heiratet Jeanne Dupoix. Die letzten Verse der Allegria leiten über zum Sentimento del Tempo (1919–1935).
Dall’ampia ansia dell’alba
Svelata alberatura.
Aus der weiten Angst des Morgengrauens
lösen sich entschleierte Masten.
So beginnt das erste Gedicht dieses zweiten Bandes, das zugleich das Nachtthema der Allegria fortsetzt und auf die Morgenröte hinweist. Viel später erst wird das Gesamtwerk Ungarettis unter dem Titel Vita d’un uomo herausgegeben, doch haben wir mit dem Sentimento del Tempo die zweite Jahreszeit in diesem Menschenleben erreicht, den Sommer, die Reifezeit, die Auseinandersetzung mit der Religion und auch die Feier der Liebe, der Sinne. Ungaretti, der „Landstreicher“, lebt nun in Italien, zunächst als Mitarbeiter des Außenministeriums, später als Journalist.
Unter dem Titel Ragioni d’una poesia (Gründe für eine Dichtung) erscheint, zunächst in französischer Ausgabe, später in der Gesamtausgabe der Lyrik Ungarettis (bei Mondadori), eine Reihe von dichtungstheoretischen Überlegungen, die im Verlauf vieler Jahrzehnte geschrieben und z.T. in Zeitschriften veröffentlicht sind, deren für das Werk wesentliche Aussagen aber aus den ausgehenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahren stammen, also zeitlich mit der Entstehung des Sentimento del Tempo zusammenfallen. 1930 schreibt Ungaretti:
… die Erinnerung, so schien mir, müsse ein Rettungsanker sein: demütig las ich die Dichter, die Dichter, die singen. Ich forschte nicht nach dem Versmaß von Jacopone oder Dante, Petrarca oder Guittone, Tasso oder Cavalcanti oder Leopardi: ich suchte nach ihrem Gesang… es war der Klang der italienischen Sprache, den ich suchte… es war der Schlag meines Herzens, den ich in Übereinstimmung fühlen wollte mit dem Herzschlag der Größten meines verzweifelt geliebten Landes…
Es galt, den Rhythmus wiederzufinden, ihn durch die Intensität von Klängen und Schweigen vom alten Staub zu befreien. Die Metren der neuen Gedichte, Elfsilber, Neunsilber, Siebensilber, haben ihre Bedeutung als Träger von stark ausgeprägten Klangelementen. So entsteht ein Gedicht wie „Die Insel“:
A una proda ove sera era perenne
Di anziane selve assorte, scese,
E s’inoltrò
E lo richiamò rumore di penne
Ch’erasi sciolto dallo stridulo
Batticuore dell’acqua torrida,
E una larva (languiva
E rifioriva) vide;
Ritornato a salire vide
Ch’era una ninfa e dormiva
Ritta abbracciata a un olmo.
In sé da simulacro a fiamma vera
Errando, giunse a un prato ove
L’ombra negli occhi s’addensava
Delle vergini come
Sera appiè degli ulivi;
Distillavano i rami
Una pioggia pigra di dardi,
Qua pecore s’erano appisolate
Sotto il liscio tepore,
Altre brucavano
La coltre luminosa;
Le mani del pas tore erano un vetro
Levigato di fioca febbre.
Zu einem Ufer, wo ewiger Abend war
in alten versonnenen Wäldern, stieg er hinab
und ging weiter
und es rief ihn zurück ein Flügelrauschen,
das sich losgelöst hatte vom schrillen Herzschlag
des glühenden Wassers,
und eine Maske (sie starb hin
und blühte wieder auf) sah er;
zum Aufstieg gewandt sah er
es war eine Nymphe, sie schlief,
aufrecht eine Ulme umarmend.
In sich von Trugbild zu wahrer Flamme
irrend, kam er zu einer Wiese,
wo der Schatten in den Augen der Mädchen
sich verdichtete
wie Abend am Fuß der Oliven;
es ließen die Zweige
einen trägen Pfeilregen tropfen,
hier waren Schafe entschlummert
unter der glatten Wärme,
andere grasten
auf der lichten Decke;
die Hände des Hirten waren ein Glas,
geschliffen aus fahlem Fieber.
Eine barocke, fast bukolische Schäferlandschaft taucht vor uns auf, Latium, die Landschaft um Rom, in der Ungaretti jetzt lebt, und in der mythische Gestalten genauso zuhause sind wie die Hirten: .
Le mani del pastore erano un vetro
Levigato di fioca febbre.
Die Hände des Hirten waren ein Glas,
geschliffen aus fahlem Fieber.
Alliteration, Binnenreime, reiche Reime, Assonanzen. Das musikalische Element dominiert, die Sprache ist zunächst einmal, wie Poe lehrte, Trägerin des Klangs. Die Unbestimmtheit der Gestalten oder Verschwommenheit der Bilder und die Umstellung grammatikalischer Funktionen wie Objekt und Subjekt, das plötzliche Anhalten des Sprachflusses – sie führen zu dem was man ,poesia della distanza‘ nannte, zu einer Dichtkunst, die sich von den Dingen, den Nichtigkeiten löst. Die Mythologie spielt eine immer wichtigere Rolle. In dem Zyklus „Fine di Ciono“ („Kronos’ Ende“) finden wir neben dem Titelgedicht Kompositionen, die so bezeichnende Titel tragen wie „Juno“, „Leda“, „Geburt der Morgenröte“, „Apollo“. Diese mythisch-klassischen Bezüge begleiten das Werk Ungarettis von nun ab, wobei es dem nicht italienisch-mittelmeerischen Leser in der Mitte unseres Jahrhunderts wohl schwer verständlich sein wird, daß ausgerechnet der Erneuerer der italienischen Dichtungssprache, dessen Fragmente und syntaktische Gewagtheiten gerade im Band Sentimento del Tempo den einhelligen Zorn klassischer Kritik hervorriefen, daß dieser Sprachrevolutionär den Mythos sucht, wie vor ihm die Meister des französischen Symbolismus:
rien n’est plus vrai que le mythe.
Tradition und Erneuerung der Sprache sind für Ungaretti keine Gegensätze, er beruft sich auf Petrarca und Dante, seltener auf Valéry und Mallarmé, er sieht auch das Fragment als Form sprachlicher Konzentration in der Nachfolge Leopardis. „Aus andern Sintfluten höre ich eine Taube“ („Kronos’ Ende“) – dieser ins Schweigen gestellte, auf die ,page blanche‘ geschriebene Vers erinnert noch einmal an die Gedichte der Allegria, deren Schreie, deren Kurzverse aus der biographischen Situation herzuleiten sind und die, will man Ungarettis Erklärungen folgen, die traditionellen italienischen Verse enthielten: zerbrochen, zerstückelt, von der alten Kantilene gelöst, aber doch gegenwärtig und mächtig in einer neuen Musik. Die Rhetorik eines D’Annunzio war mit einem Schlag weggefegt, und trotz massiver Kritik, die ausgehend von B. Croce und F. Flora („La poesia ermetica“) ihren Höhepunkt eben anläßlich der Veröffentlichung des Sentimento del Tempo fand, wurden die Verse nicht nur von den hervorragenden Romanisten Gargiulo, De Robertis, Contini, Bo gelesen, besprochen und erklärend interpretiert, sie wurden populär.
Neben Landschaftsbildern und mythischem Geschehen finden wir im ersten Teil des Sentimento del Tempo Liebesgedichte, deren vielleicht schönstes „Dove la luce“ („Wohin Licht“) aus dem Jahr 1930 stammt.
In derselben Zeit beginnt die Arbeit an den Hymnen (Inni), deren auch im Hinblick auf die weitere Entwicklung wichtigste den Titel „La Pietà“ trägt. Ungaretti schreibt:
Meine Dichtung nahm die Landschaften nicht mehr wahr, beschäftigte sich statt dessen voller Angst und Unruhe, voller Schrecken mit dem Schicksal des Menschen.
Die „Pietà“ ist einmal die sogenannte Pietà Rondanini Michelangelos, mit dessen Werk Ungaretti sich damals auseinandersetzte, und ist dann Sinnbild für das Schicksal des Menschen, Leid und Mitleid.
Ungaretti verbringt einige Tage der Osterwoche des Jahres 1928 bei einem Freund im Kloster Subiaco in den Abruzzen und erlebt dort in einer tiefen religiösen Krise die Osterliturgie. Die Literaturkritik hat später gern und oft von Ungarettis ,Konversion‘ gesprochen, er selbst schrieb von „einem ersten Anzeichen einer Rückkehr zum christlichen Glauben“. Das Gedicht „Pietà“ zeigt uns, daß und wie der Dichter seine Gottsuche und seine Verzweiflung an Gott erlebt. Die Frage nach Gott, als einer Alternative zum irdischen Sein, wird nicht zum erstenmal gestellt. Schon im Gedicht „Verdammnis“ („Dannazione“) aus dem Jahr 1916 heißt es:
Chiuso fra cose mortali
(Anche il cielo stellato finirà)
Perché bramo Dio?
Eingeschlossen in lauter Sterblichkeit
(Auch der gestirnte Himmel wird enden)
Warum verlange ich nach Gott?
Die Nichtigkeit der Materie, die fiebernde Suche nach einer letztlich falschen Wahrheit durch den schon nicht mehr menschlichen Wissensdurst der Menschen – das sind Themen, auf die wir im Spätwerk, in den Notizen des Alten (Il taccuino del Vecchio) und in der Apokalypse (Apocalissi) stoßen, die aber hier schon anklingen, fast als Vorwegnahme unserer heutigen Konsumgesellschaft. Der Absatz 4 der „Pietà“ beginnt:
L’uomo, monotono universo
Crede allargarsi i beni
E dalle sue mani febbrili
Non escono senza fine che limiti.
Der Mensch, eintöniges All,
glaubt seine Güter zu mehren,
und aus seinen fiebernden Händen
kommen ohne Ende nur Grenzen.
Auch in der Pietà ist das Hauptthema Ungarettis die Suche nach dem verheißenen Land, nach dem Paradies der Kindheit angeschlagen. Die ersten Verse der Pietà lauten:
Sono un uomo ferito.
E me ne vorrei andare
E finalmente giungere,
Pietà, dove si ascolta
L’uomo che è solo con sé.
Non ho che superbia e bontà.
E mi sento esiliato in mezzo agli uomini.
Ma per essi sto in pena.
Non sarei degno di tornare in me?
Ho popolato di nomi il silenzio.
…
Dio, coloro che t’implorano
Non ti conoscono più che di nome?
M’hai discacciato dalla vita.
Mi discaccerai dalla morte?
Ich bin ein verwundeter Mensch.
Und ich möchte fortgehen
und ankommen dort,
Barmherzigkeit, wo man anhört
den Menschen, der allein ist mit sich.
Ich kenne nur Stolz und Güte.
Und ich fühle mich ausgestoßen mitten unter den Menschen.
Aber für sie leide ich.
Wäre ich nicht würdig in mich zurückzukehren?
Mit Namen habe ich das Schweigen bevölkert.
…
Gott, die dich anflehen,
kennen sie dich nur noch dem Namen nach?
Du hast mich aus dem Leben verjagt.
Wirst du mich auch vom Tode verjagen?
Der Dichter hat mit Namen, mit Worten das Schweigen bevölkert, er leidet mit und für die Menschen, aber seine Sehnsucht läßt ihn Gott suchen, der ihn heimführen möge in das unschuldige Land, das außerhalb der irdischen Grenzen liegt, in die Verheißung. Wie immer bei Ungaretti, und dieses Faktum kann nicht genug unterstrichen werden, ist biographisches Erleben im Zusammenhang mit der Entwicklung des Werkes zu sehen. Er schreibt etwa gleichzeitig zur Entstehung der Hymnen in Gründe für eine Dichtung:
Heute weiß der Dichter und er besteht darauf, daß Dichtung Zeugenschaft Gottes ist, auch wenn sie ein Fluch ist.
Und weiter:
Heute weiß der Dichter wieder, hat er wieder die Augen zu sehen, sieht er und will er sehen: das Unsichtbare im Sichtbaren.
Der neue Dichter, der Dichter von heute möchte mit seinen Worten die Stimme der Gnade in die Welt bringen. „Dafür hat er geschrien, dafür geweint.“ Der Schrei, „grido“, aus dem Band Allegria, kehrt wieder, zwischen den beiden großen Kriegen und angesichts der immer stärkeren Bedrohung durch das Unrecht, das der Faschismus den Menschen antut.
Das Unsichtbare im Sichtbaren zu sehen und darzustellen ist ein altes Anliegen der Dichter. Leopardi hat in seinem Gedicht „L’infinito“ das Bild der Hecke gewählt, das die Grenze, den Horizont darstellt, an dem sich Endliches und Unendliches scheiden.
In einem der letzten Gedichte des Sentimento del Tempo, Auguri per il proprio compleanno (1935), wird uns nach des Dichters eigenen Worten der erste Hinweis auf die dritte große Jahreszeit des Menschenlebens, den Herbst, gegeben.
Veloce gioventù dei sensi
Che all’oscuro mi tieni di me stesso
E consenti le immagini all’eterno,
Non mi lasciare, resta, sofferenza!
Du Jugend schneller Sinnlichkeit,
die mir mein Selbst verdunkelt
und die Bilder des Ewigen gibt,
verlasse mich nicht, bleib, meine Qual!
Diesen Versen kommt in zweifacher Weise Bedeutung zu. Einmal, weil sie das Zentralthema der Terra Promessa und des Taccuino del Vecchio, also der letzten Bücher des Dichters, nämlich die Auseinandersetzung zwischen der sinnlichen Realität der Bilder und einer anderen gedachten Wirklichkeit, die aus der Erinnerung kommt und den Mythos einbezieht, vorwegnehmen, dann aber, weil Ungaretti den letzten Vers „Verlaß mich nicht, bleib, meine Qual“, rückblickend gesehen, nahezu als wörtliche Prophetie bezeichnen mußte.
Ungaretti verläßt Italien 1937 und folgt einer Einladung der Universität São Paolo in Brasilien zur Übernahme des Lehrstuhls für italienische Sprache und Literatur. Kurz nach dem Tod des Bruders stirbt ihm 1939 der neunjährige Sohn Antonietto. Giorno per giorno (Tag für Tag) heißt der in den Jahren 1940–1946 geschriebene Zyklus von Versen, ein Tagebuch des Schmerzes, dessen zarte Unmittelbarkeit jedes Schema und jeden ,Art poétique‘ zur Seite stößt. Der Mann, der von sich selbst sagt, er wisse nicht, was von seiner Dichtung Wert habe und bleibe, aber er wisse, daß und wieviel er geliebt und gelitten habe, tritt dem Leser mit aller Unmittelbarkeit gegenüber:
1
„Nessuno, mamma, ha mai sofferto tanto…“
E il volto già scomparso
Ma gli occhi ancora vivi
Dal guanciale volgeva alla finestra,
E riempivano passeri la stanza
Verso le briciole dal babbo sparse
Per distrarre il suo bimbo…
1
„Niemand, Mutter, hat je soviel gelitten…“
Und mit schon erloschenem Gesicht
aber noch lebendigen Augen
sah er vom Kissen zum Fenster,
und Spatzen füllten das Zimmer,
suchten Krumen, die der Vater gestreut,
um sein Kind abzulenken…
2
Ora potrò baciare solo in sogno
Le fiduciose mani…
E discorro, lavoro,
Sono appena mutato, temo, fumo…
Come si può ch’io regga a tanta notte?…
2
Jetzt werde ich nur im Traum
die vertrauenden Hände küssen…
und ich rede, arbeite,
bin kaum verändert, fürchte mich, rauche…
wie kann es sein, daß ich soviel Nacht ertrage?…
Die Verzweiflung des Vaters, der hilflos und hoffnungslos dem langsamen Sterben des kleinen Sohnes zusieht, ihn zu zerstreuen sucht, indem er den Spatzen Brotkrumen streut, und der die kleinen Hände sucht, die er nicht mehr fassen kann, findet Ausdruck in einer leicht verständlichen Sprache, die immer wieder zu stocken, ja selbst zu sterben scheint:
Jede andere Stimme ist ein endendes Echo
nun da die eine mich ruft
aus unsterblichen Höhen…
Und weiter:
ich liebe dich, liebe dich, und es ist dauernde Qual.
Der Zyklus erscheint zusammen mit zwei Gedichten für den toten Bruder, „Alles ging mir verloren“, und einer Reihe von Versen, die das besetzte Rom („Roma occupata“) zum Thema haben, als Band mit dem Titel Il Dolore. Der von Francesco Flora erhobene Vorwurf bewußter Dunkelheit und hermetischer Verfremdung muß angesichts dieser Verse endgültig verstummen. Seltsam genug ist der Band von den meisten Kritikern nur als eine Art Einschub zwischen Sentimento del Tempo und Terra Promessa gewertet worden, obgleich doch gerade hier die beiden das ganze Werk beherrschenden großen Themen Liebe und Leid in ganz elementarer und persönlicher Weise in den Vordergrund treten, stellvertretend für alles, was der Dichter erlitten und geliebt hat. Der Tod des Bruders nimmt ihm die Kindheit:
Alles ging mir verloren von der Kindheit
und nie mehr werde ich mich in einem Schrei vergessen.
Kriegsbedrohung und Kriegszerstörung sind die Themen der Zyklen „Roma occupata“ und „Ricordi“. Ungaretti war 1942 nach Italien zurückgekehrt, und er schreibt nun über die gemarterte Landschaft, über den Schicksalsfluß Tiber, die Kirchen und Stätten des antiken Rom. Das religiöse Thema des Sentimento del Tempo wird in den beiden großen Gedichten „Mein Fluß auch du“ und „Wird es geschehen!“ wieder aufgenommen.
NON GRIDATE PIÙ
Cessate d’uccidere i morti,
Non gridate più, non gridate
Se li volete ancora udire,
Se sperate di non perire.
Hanno l’impercettibile sussurro,
Non fanno più rumore
Del crescere dell’erba,
Lieta dove non passa l’uomo
SCHREIT NICHT MEHR
Laßt ab, die Toten zu morden,
laßt ab zu schreien, laßt ab,
wenn ihr sie noch einmal wollt hören,
wenn ihr hofft, nicht unterzugehen.
Sie summen unmerklich leise
Und stiller noch
Als das Gras im Wachstum,
Das froh ist, wo es kein Mensch betritt.
Schon in Brasilien aber hatte Ungaretti die Arbeit an der Terra Promessa begonnen, in Fortführung der großen Themen der früheren Bände, doch mußten „le ricerche di pura poesia“, also die Arbeiten an der reinen, geistigen Poesie, den Nöten und Sorgen der Kriegsjahre weichen. Das verheißene Land tritt uns wirklich wie ein poetischer Diskurs gegenüber, zunächst sehr abstrakt, gedankenbeladen, welt- und menschenfremd. 1942 ist ein entscheidendes Jahr im Leben des Dichters: er kehrt nach Italien zurück und wird, „per chiara fama“, auf Grund seines literarischen Ruhmes, als Professor für zeitgenössische italienische Literatur an die Universität Rom berufen. Der Verlag Mondadori beginnt die Herausgabe des Gesamtœuvres mit dem Titel Vita d’un uomo – Leben eines Mannes, Menschenleben. In den folgenden Jahren (1945–1952) erscheinen schnell hintereinander die bisher gesondert veröffentlichten Gedichtzyklen, gesammelt unter den Haupttiteln Allegria, Sentimento del Tempo, Il Dolore, La Terra Promessa und die Übersetzungen von Shakespeare, Góngora, Mallarmé und Racine. Ungaretti erhält verschiedene Literaturpreise und unternimmt Vortrags- und Lesereisen nach Amerika, Japan, schließlich Ägypten u.a.
„Die Äneis ist immer gegenwärtig“ – so schreibt Ungaretti über den Band La Terra Promessa (1935–1953). Die eigene Lebenserfahrung soll zu Ideen und Mythen erhoben werden, die Erinnerung, als der poetische Raum zwischen Tun und Traum, tritt in den Vordergrund. Die Gestalten des Bandes: Aeneas, Dido, Palinurus, die Orte: Lethe und Ithaka wie auch die Verwendung des Danteschen Elfsilbers (endecasillabo) machen deutlich, daß wir es mit einer Heimkehr in die mittelmeerische Klassik zu tun haben. Aeneas, Abbild von Schönheit und Jugend, sucht das verheißene Land mit der grausamen Kraft der Erinnerung, „la carità feroce del ricordo“. Sinnenfreude und Verzicht (Didochöre), Schlaf und Traum (Palinurus) begleiten ihn.
Die Canzóne (Kanzone) mit dem Untertitel beschreibt den Gemütszustand des Dichters eröffnet den Band. Ungaretti selbst hat uns in seinen Vorlesungen an der Columbia University wesentliche Hinweise für dieses nun in der Tat schwer zu enträtselnde Gedicht gegeben. Im Fluß Lethe lösen Schmerz und Freude sich auf, Wachen und Schlaf haben keine Zeiten mehr:
Nulla è muto più della strana strada
Dove foglia non nasce o cade o sverna,
Dove nessuna cosa pena o aggrada,
Dove la veglia mai, mai il sonno alterna.
Nichts ist stummer als die seltsame Straße,
wo Blätter nicht wachsen,
nicht fallen, nicht überwintern,
wo keine Sache schmerzt oder gefällt,
wo Wachsein nie, nie Schlafen Wechsel findet.
Ursprünglich wollte Ungaretti in diesem seinem zentralen Werk, dem Verheißenen Land, den Herbst des Menschenlebens besingen, als „penultima stagione“ war das Werk zunächst angekündigt, dann kamen Krieg und persönliche Schicksalsschläge dazwischen, aus dem Herbstgesang wurde das Winterlied des alten Mannes. Morte delle stagioni (Tod der Jahreszeiten) heißen nun die beiden letzten Bände zusammen: eben die Terra Ptomessa und der Taccuino del vecchio (Notizen des Alten), die 1952–1960 entstanden sind und den Untertitel Letzte Chöre für das Gelobte Land tragen. Hinzuzuzählen sind ferner die vier Kurzgedichte Apocalissi.
Den Herbst des Lebens wollte Ungaretti darstellen, das Hinüberspielen der Inspiration aus der Sphäre der sinnlichen in die Sphäre der geistigen Wirklichkeit. Doch beide Realitäten durchdringen einander besonders in einer Dichtung, die so stark wie die Ungarettis auf musikalische Elemente angelegt ist. Wichtiger erscheint uns, daß der gedankliche Ausgangspunkt des Werkes, nach Ungarettis Worten die „Odyssee des Dichters“, nun nicht mehr in der Gegenwart, vielmehr in der Vergangenheit zu suchen ist. Gegen Ende der Canzone klingt ein Hauptthema des Dichters, die Morgenröte, wieder an: freilich handelt es sich hier nicht mehr um ein rein sinnlich zu begreifendes Tagbeginnen, wie im Sentimento deI tempo, eine Morgenröte, die die Nachtwelt, die Leere der Allegria ablöst, diese letzte Metamorphose der Morgenröte ist die absolute Erkenntnis des Dichters, die aus der Reflexion kommt und zum Tod als einem neuen Sein hinführt. Sinne und Reflexion, Natur und Mythos, vordergründiges Bild und Echobild aus der Erinnerung – in der Canzone wie überhaupt in der Terra Promessa und im Taccuino müssen wir immer wieder über dieses Doppelspiel, dieses Rätsel nachdenken, das der Dichter sich und uns zur Lösung aufgibt: in der Zeit zu sein und aus der Zeit zu gehen, in sie zurückzukommen. Die Realität liefert dem Dichter die Symbole, die Natur, so schreibt Ungaretti in seinen amerikanischen Vorlesungen, ist der reale Ausgangspunkt für die Reise in den Mythos. Und hier nun bezieht sich Ungaretti einmal mehr und in aller Deutlichkeit auf Leopardi: die Stunde der Canzone wird jenem Augenblick in Leopardis Tiamonto della luna (Monduntergang) verglichen, wo eine absolute, apokalyptische Dunkelheit herrscht, weil das Sonnenlicht noch nicht da, noch nicht einmal angekündigt, der Mond aber schon völlig untergegangen ist. Das Thema des Todes, des Nichts, schon einmal im Sentimento del Tempo angeschlagen, klingt in einer unerbittlicheren Form wieder an, der Dichter fragt sich, ob die Welt, wie man sie bei Tag- und Nachtlicht sieht, nicht eine optische Täuschung sei. Es ist die Stunde der mythischen Realität, die die sinnliche und geistige Wirklichkeit beinhaltet und hinter sich läßt. Das neue Abenteuer sieht den Dichter Ithakas Mauern, die ihn von der absoluten Erkenntnis trennten, übersteigen, die menschlichen, irdischen Ängste und Begierden werden belanglos, der neue Tagbeginn läßt neue Ziele und neue Liebe erkennen. Im Kommentar zur Canzone, die oft als eine Art Dichtungslehre des späten Ungaretti bezeichnet wird, beruft der Verfasser sich auf Plato: wir kennen die Ideen, d.h. Formen und Bilder, nicht direkt, der unmittelbare Zugang zur „prima immagine“ fehlt uns, wohl aber haben wir Erinnerungen an Ideen und Bilder, kennen diese aus ihrem ,Echo‘. Und bezogen auf das Gedicht selbst: wir kennen nur die nicht vollendete, die tagtägliche Morgenröte, hinter der sich die unsichtbare, vollendete verbirgt.
E se, tuttora fuoco d’avventura,
Tornati gli attimi da angoscia a brama,
D’Itaca varco le fuggenti mura,
So, ultima metamorfosi all’aurora,
Oramai so che il filo della trama
Umana, pare rompersi in quell ’ora.
Nulla più nuovo parve della strada
Dove lo spazio mai non si degrada
Per la luce o per tenebra, o altro tempo.
Und wenn auch jetzt noch abenteuer-glühend,
und da von Angst zu Lust die Augenblicke kehrten,
Ithakas flüchtige Mauern ich übersteige,
weiß ich, in letzter Wandlung hin zum Morgenrot,
weiß, daß der Faden aller menschlichen Verflechtung
in dieser Stunde abzureißen scheint.
Nichts erscheint neuer als die Straße,
wo aller Raum in Licht und Finsternis
und auch in anderer Zeit nie schwächer wird.
Hier wird ein erneuter Verweis auf Leopardi notwendig. Von ihm schreibt Ungaretti: „La mémoire et l’innocence sont les pôles indissociables de la poétique de Leopardi“, Leopardi habe den Höhepunkt seiner Kunst in jenen Gedichten erreicht, in denen er, kraft seiner Erinnerung, den Schatten der Toten neues Leben verleiht. In ganz familiärem Ton beginnt Leopardi sein Gedicht „A Silvia“:
Silvia, rimembri ancora
quel tempo della tua vita mortale…
Silvia geht in die Erinnerung ein, die keine Grenzen kennt, sie bleibt für immer lebendig: „corps present“. Die Parallelen sind evident: über die Erinnerungen an die Kindheit, an Landschaften und Menschen führt der Weg zum „paese innocente“, zur „terra promessa“, zum unschuldigen, verheißenen Land. „Pour renouer avec les traditions de notre poésie, pour la replonger dans l’histoire, il fallait remonter à Leopardi, et le comprendre.“ Ein Gutteil der theoretischen Schriften Ungarettis sind Leopardi gewidmet, auf dessen Canti die Dichtung des 20. Jahrhunderts sich besinnen mußte, wie auf Petrarca und auf seine Gedichte über Tod und Vergänglichkeit, die, will man Leone Piccioni, Ungarettis Biograph, glauben, eine wesentliche Rolle bei der Niederschrift der Terra Promessa gespielt haben.
Die Didochöre, wie später die Notizen des Alten, kehren rein äußerlich zur Kurzform der Allegria zurück. Nach der streng geformten Canzone und den Hymnen des Sentimento del Tempo eine neue Musikalität, die Komponisten anregt.
Luigi Nono, einer der jungen Freunde des nun über sechzigjährigen Meisters, vertont die Chöre. Inhaltlich gehören sie in das schon beschriebene Gesamtthema des Bandes: die Chöre beschreiben den Seelenzustand Didos, die physische Erfahrung der Auflehnung letzter Jugend, verbunden mit der Erinnerung an Leidenschaft, Glück und der zunehmenden Sicherheit, allein und verlassen zu sein. Auch das Palinurus-Gedicht unterstreicht als Rezitativ, als Erzählung das Thema der Landsuche Aeneas’ oder vielmehr des Dichters selbst. Sturm, Schiffbruch und Traum – schließlich und in Analogie zur „Pietà“ aus Sentimento del Tempo die Versteinerung des Palinurus als ein Symbol der Nichtigkeit allen Bemühens, allen menschlich-irdischen Tuns. Das Gedicht „Finale“, das letzte des Bandes, evoziert am Beispiel des Meeres, das doch in seiner ständigen Bewegung und Bewegtheit die Endlichkeit auszuschließen scheint, den Zerfall aller Materie:
Più non muggisce, non sussurra il mare,
Il mare.
Senza i sogni, incolore campo è il mare,
Il mare.
Fa pietà anche il mare,
Il mare
Muovono nuvole irriflesse ilmare,
Il mare.
A fumi tristi cedé il letto ilmare,
Il mare.
Morto è anche lui, vedi, il mare,
Il mare.
Nicht mehr braust, nicht mehr flüstert das Meer,
das Meer.
Ohne die Träume farbloses Feld ist das Meer,
das Meer.
Erbarmen heischt auch das Meer,
das Meer.
Entspiegelte Wolken bewegen das Meer,
das Meer.
Traurigen Dünsten überließ sein Bett nun das Meer,
das Meer.
Gestorben ist es auch, siehe nur, das Meer,
das Meer.
Im Taccuino del Vecchio wird die Thematik der Terra Promessa zwar fortgeführt, die Person des Dichters steht aber viel stärker, unmittelbarer im Vordergrund. Der „Girovago“ – „Landstreicher“ – der Allegria ist in diesen Jahren erneut auf Reisen, er fliegt mit Freunden nach Japan und erlebt die ersten Satellitenflüge. Die Landschaften der Kindheit, Afrika und der nahe Osten, sind im Bild, über dem Wüstensand erhebt sich der Sinai, ein Zielpunkt für die kurze Lebensreise, die durch die Wüste führt:
IL TACCUINO DEL VECCHIO
5
Si percorre il deserto con residui
Di qualche immagine di prima in mente,
Della Terra Promessa
Nient’altro un vivo sa.
DIE NOTIZEN DES ALTEN
5
Du läufst durch die Wüste mit Resten
versunkener Bilder im Sinn,
nichts weiter weiß ein Lebender
vom Gelobten Land.
Der Taccuino ist ein Reisetagebuch, im wörtlichen wie übertragenen Sinn: die Reisen des Dichters geben Anlaß zu Betrachtungen über die Erfindungsgabe, über das schon übermenschliche Können der Menschen, das doch nur eine Illusion, eine Entfernung von der Wahrheit ist.
23
In questo secolo della pazienza
E di fretta angosciosa,
Al cielo volto, che si doppia giù
E più, formando guscio, ci fa minimi
In sua balìa, privi d’ogni limite,
Nel volo dall’altezza
Di dodici chilometri vedere
Puoi il tempo ehe s’imbian ca e che diventa
Una dolce mattina,
Puoi, non riferimento
Dall’attorniante spazio
Venendo a rammentarti
Che alla velocità ti catapultano
Di mille miglia all’ora,
L’irrefrenabile curiosità
E il volere fatale
Scordandoti dell’uomo
Che non saprà mai smettere di crescere
E cresce già in misura disumana,
Puoi imparare come avvenga si assenti
Uno, senza mai fretta né pazienza
Sotto veli guardando
Fino all’incendio della terra a sera.
23
In diesem Jahrhundert der Geduld
und der angstvollen Eile,
dem Himmel zugewandt,
der sich nach unten verdoppelt und uns einkapselt,
uns immer kleiner werden läßt in seiner Macht,
beraubt jeder Begrenzung,
kannst du im Höhenflug,
zwölf Kilometer über der
Erde, die Zeit sehen,
die sich weiß verdichtet und zum süßen Morgen wird,
kannst du, ohne daß der umgebende Raum
dich daran mahnte, daß du mit einer Geschwindigkeit
von tausend Meilen in der Stunde
hochgeschleudert wirst,
und vergessend den unaufhaltsamen Wissensdurst
und das schicksalsbedingte Wollen des Menschen,
der nie aufhören kann zu wachsen
und der doch schon wächst
in unmenschlichem Maß,
kannst du begreifen, wie es geschieht,
daß einer fortgeht
ohne alle Eile und Geduld
und zuschaut hinter Schleiern
bis zum Brand der Erde am Abend.
In diesem über dreiundzwanzig Verse hin gespannten großen Gedicht-Satz zeigt Ungaretti den Menschen in seinem Verhältnis zur Technik, er schildert die unaufhaltsame Neugier, die schließlich zur totalen Abhängigkeit, zum Weltenbrand führt, den der Dichter fast von außen betrachtet. Die Reise Ungarettis bleibt dabei immer und auch jetzt noch im Jetflugzeug dieselbe, die der alte Seebär zu Beginn der Allegria (1917) angetreten hat, dort heißt es:
und gleich nimmt er
die Fahrt wieder auf
wie
nachdem Schiffbruch
ein überlebender
Seebär
Und hier im Taccuino, vierzig Jahre später
27
L’amore piú non è quella tempesta
Che nel notturno abbaglio
Ancora mi avvinceva poco fa
Tra l’insonnia e le smanie,
Balugina da un faro
Verso cui va tranquillo
Il vecchio capitano.
27
Die Liebe ist nicht mehr jener Sturm,
der in nächtlicher Blendung
noch vor kurzem mich fesselte
zwischen Unrast und Schlaflosigkeit,
sie schimmert vom Leuchtturm her,
auf den ruhig zuhält
der alte Kapitän.
Das letzte Gedicht des Bandes, Per sempre (Für immer), zählt nicht mehr zu den Ultimi cori per la Terra Promessa, es nimmt eine Sonderstellung ein, schließt es doch die beiden Bände der Herbstgedichte Terra Promessa und Taccuino ab, ein Gespräch mit der im Jahr 1958 verstorbenen Frau, ein Versprechen, über die tägliche ruhige Arbeit zu einem Wiedersehen zu finden. Stellt man dieses Gedicht neben die den Jet- und Satellitenflügen gewidmeten Verse, so wird man unschwer feststellen, wie der Dichter die Anregungen und Erfindungen genau verfolgt und miterlebt, wie er sich aber immer wieder aus dieser Wahrheit technischer Errungenschaften in eine andere, innere Wahrheit zurückzieht, die aus der Erinnerung lebendig wird und bleibt. Die Materie hält auf die Dauer nicht stand, die Stimme der Verstorbenen aber wird immer lauter, zärtlicher und deutlicher, die Hände strecken sich ihm entgegen, Augen und Stimme leiten den Dichter wieder und für immer.
PER SEMPRE
Roma, il 24 Maggio 1959
Senza niuna impazienza sognerò,
Mi piegherò al lavoro
Che non può mai finire,
E a poco a poco in cima
Alle braccia rinate
Si riapriranno mani soccorrevoli,
Nelle cavità loro
Riapparsi gli occhi, ridaranno luce,
E, d’improvviso intatta
Sarai risorta, mi farà da guida
Di nuovo la tua voce,
Per sempre ti rivedo.
Giuseppe Ungarettti liest sein Gedicht „Per Sempre“
FÜR IMMER
Rom, am 24. Mai 1959
Ohne alle Ungeduld will ich träumen,
ich mache mich an die Arbeit,
die nie enden kann,
und nach und nach öffnen sich
den wiedergeborenen Armen
an der Spitze hilfreiche Hände,
in ihrer Höhlung erscheinen
die Augen wieder, geben wieder Licht,
unversehens bist du auferstanden,
unberührt, und deine Stimme
wird erneut mich führen.
Für immer seh’ ich dich wieder.
Die Bücher Terra Promessa und Taccuino del Vecchio schließen, so wollte es scheinen, ein Lebenswerk ab. Die Auflösung aller Materie und das poetische Werk, einzig aus der Erinnerung gesehen, wurden als Höhe- und Endpunkt von Ungarettis Schaffen verstanden. Übersetzungen von Blake erscheinen, Ungaretti wird zum Präsidenten des europäischen Schriftstellerverbandes ernannt, er erhält Preise und wird, klassische Dichterehrung, zu seinem 80. Geburtstag von der italienischen Regierung auf dem Kapitol gefeiert. Zeitschriften widmen ihm Sondernummern. Aber eben in diesem Jahr 1968 entsteht ein neues Werk, ein Zyklus von Liebesgedichten, der Dialog mit einer jungen Südamerikanerin, Bruna Bianco. Die Verse erscheinen zunächst in einer bibliophilen Ausgabe – es ist die Zeit der großen und produktiven Freundschaften mit jungen und jüngeren Künstlern wie Piero Dorazio, Luigi Nono, Ario Marianni, Manzù und Burri – zusammen mit den Antwortgedichten der Freundin. Sie sind als ein poetischer Briefwechsel zu verstehen. Eine neue und heftige Sinnlichkeit, verbunden freilich mit Skepsis und Ironie, flammt auf, die Anhäufung der Erinnerungen weicht dem einen Erlebnis, aber gleichzeitig überkommt den Dichter auch die Verzweiflung grenzenloser Einsamkeit:
HAI VISTO SPEGNERSI
A solitudine orrenda tu presti
Il potere di corse dentro l’Eden,
Amata donatrice.
Hai visto spegnersi negli occhi miei
L’accumularsi di tanti ricordi,
Ogni giorno di più distruggitori,
E un unico ricordo.
Formarsi d’improvviso.
L’anima tua l’ha chiuso nel mio cuore
E ne sono rinato.
A solitudine che fa spavento
Offri il miracolo di giorni liberi.
Redimi dall’età, piccola generosa.
AUFLÖSEN SAHST DU SICH
Furchtbarer Einsamkeit leihst du die Zauberkraft
paradiesischer Spiele,
geliebte Schenkerin.
Auflösen sahst du sich in meinen Augen
die Masse so vieler Erinnerungen,
die täglich mehr zerstörten,
sahst unvermutet eine einzige Erinnerung sich bilden.
Du hast sie eingeschlossen in mein Herz,
aus ihr bin ich neu geboren.
Grausamer Einsamkeit schenkst du
das Wunder befreiter Tage.
Rette mich vor dem Alter, großherzige Kleine.
Nach dem Tod der Jahreszeiten findet Ungaretti in diesem neuen Liebeserlebnis einen Garten Eden, ein Echobild, das bei aller Sinnenfreude schon aus dem Jenseits zu kommen scheint. Der neugeborene Dichter flieht in die „superstite infanzia“, in die überlebende Kindheit, sein, des Alten, Lärmen nennt er den „Liebesbericht eines Narren, nur noch vernehmbar in der Stunde der Geister“.
Ist aus diesem letzten Zyklus Ungarettis – einer Interpretation Piero Bigongiaris folgend – eine Parallele zu Dantes Paradies herauszulesen? Manches mag dafür sprechen: die Liebste erscheint im ersten Gedicht „in einem roten Kleid, mir zu zeigen, daß du Feuer bist, das verzehrt und wieder entzündet“. Dem Florentiner war Beatrice in einem blutigroten Kleid im Traum erschienen, in der Vita nuova Dantes reicht Amor das Herz des Dichters der Frau zur Speise, ein Thema, das in Ungarettis Wolfshungerstunde wiederzufinden ist:
Frucht so vieler Tränen, dieses Herz,
reiß es dir raus, iß es auf, sättige dich.
In dem Gedicht „La conchiglia“, das Ungaretti in zwei Fassungen in den Zyklus aufgenommen hat und das in unvergleichlicher Konzentration eine Summa poetica darstellt, wird das Echobild auf das Meer übertragen, das in der Muschel weiterrauscht, auch fern von seinen Ufern, und das Herz durch ein plötzliches Beben erstarren läßt. Woher, so heißt der Dichter die Liebste fragen, kommt dieser Lärm? Aus welcher Zeit, aus welchem Raum? Die Frage, die nur durch das Ohr der Liebsten aufgenommen und enträtselt werden kann, zielt auf das Leben des Dichters und auf die Geschichte seines Werkes hin, also auf die ganze Vita d’un uomo, der Liebesbericht ist Lebensbericht des Mannes, der bald schon selbst ein Greis, eine Erinnerung sein wird.
LA CONCHIGLIA
1
A conchiglia del buio
Se tu, carissima, accostassi
Orecchio d’indovina,
Per forza ti dovresti domandare:
„Tra disperdersi d’echi,
Da quale dove a noi quel chiasso arriva?“
D’un tremito il tuo cuore ammutirebbe
Se poi quel chiasso,
Dagli echi genrato, tu scrutassi
Insieme al tuo spavento nell’udirlo.
Dice la sua risposta a chi l’interroga:
„Insopportabile quel chiasso arriva
Dal racconto d’amore d’un demente;
Ormai è unicamente percettibile
Nell’ora degli spettri.“
DIE MUSCHEL
1
Wenn an die Muschel der Nacht
du, geliebte Wahrsagerin,
das Ohr hieltest,
unweigerlich müßtest du fragen:
„Woher, aus verklingendem Echo,
kommt solcher Lärm zu uns?“
In einem Beben würde dein Herz verstummen,
wenn solchen Lärm
aus Echoklängen geboren, du prüftest
zusammen mit deinem erschreckten Lauschen.
Ihre Antwort sagt dem, der fragt:
„Unerträglich kommt solcher Lärm
aus dem Liebesbericht eines Narren,
nur noch vernehmbar
in der Stunde der Geister“
Michael Marschall von Bieberstein, Nachwort
„Alles in allem versuche ich zu verstehen, warum ein Kind mir lieber ist als eine Rechenmaschine.“ schreibt Giuseppe Ungaretti 1962 in der Zeitschrift Epoca. Eine schöne Formel, ein Schlüssel auch zu seinem Werk, das sich über nahezu sechs Jahrzehnte erstreckt. Zum hundertsten Geburtstag des Dichters hat Michael Marschall von Bieberstein eine große Anzahl der Gedichte aus den ersten Bänden, das Spätwerk vollständig übersetzt. Damit liegt nach Übertragungen von Ingeborg Bachmann und Nachdichtungen Paul Celans die umfangreichste zweisprachige Sammlung vor.
Giuseppe Ungaretti wurde 1888 in Alexandria geboren. Als er 1915 zum Kriegsdienst gerufen wird, betritt er ein in doppelter Hinsicht unbekanntes Land: unvertraut ist ihm nicht nur der Karst bei Triest, auch die Idee, ein Vaterland verteidigen zu sollen, muß ihm, dem Kosmopoliten, fremd sein. Was Wunder, wenn er in die patriotischen Gesänge eines D’Annunzio nicht einstimmen mochte. Doch Ungarettis erste Gedichte stellen sich nicht nur dem nationalen Taumel entgegen, sie sind eine Attacke auf die akademische, rhetorisch überladene Dichtung der Jahrhundertwende schlechthin.
Die Absage an den Krieg bedingt eine Abkehr von der Sprache, die diesen Krieg verherrlicht. Sein Gedicht „Nachtwache“ beispielsweise lautet:
Eine ganze lange Nacht
hingestreckt
neben einem niedergemetzelten
Kameraden
mit seinem Zähne fletschenden Mund
im Licht des Vollmonds
mit der Verkrampfung
seiner Hände
die in mein Schweigen
einbrach
habe ich Briefe geschrieben
voll Liebe
Nie habe ich
so sehr
am Leben gehangen.
Ungaretti nimmt für die italienische Lyrik das vorweg, was Brecht später „Sprachwaschung“ nannte: radikal wird die Diktion von ornamentalen und sentimentalen Schnörkeln befreit. Das Wort, so Ungaretti, sollte „nackt“ sein, bei „jeder Kadenz des Rhythmus, bei jedem Herzschlag anhalten“, aus einer „expressiven Spannung“ kommen. „Poesie“, so der Dichter, „entsteht in dem Augenblick, da wir den Dingen, die uns am meisten am Herzen liegen…, Ausdruck geben. Poesie entsteht aus persönlicher Erfahrung.“ Deutlicher noch wird er in der Einleitung zu seinem Band Allegria (1919; Bieberstein übersetzt das mit „Heiterkeit“, die Bachmann mit dem volleren Wort „Freude“; es ist unübersetzbar wie das deutsche „Gemütlichkeit“). Hier schreibt er:
Dieses Buch ist ein Tagebuch. Der Autor hat keinen anderen Ehrgeiz und glaubt auch, daß die großen Dichter keinen anderen haben, als eine eigene schöne Biographie zu hinterlassen.
Anders als die französischen Symbolisten, insbesondere Mallarmé, die Ungaretti beeinflußt haben, gibt dieser sein Ich nicht auf. Im Gegenteil. Er reiht sich ein in die große Tradition der Dichter, die da, wo sie rücksichtslos nur von sich sprechen, dies gleichzeitig für alle tun. In seinen besten Poemen gelingt es auch ihm, persönliches Erleben unmittelbar in der Sprache zu verankern und gleichzeitig auf das Essentielle zu konzentrieren. So nehmen die frühen Gedichte deutlich Bezug auf den Krieg und sind doch weit mehr als Kriegsgedichte.
Sie erschauern vor dem Schrecken des Todes, dem Chaos der Einsamkeit und der Zerbrechlichkeit menschlichen Schicksals aller Zeiten. Und: sie wollen zu verstehen suchen:
Verdammnis
Eingeschlossen in lauter Sterblichkeit
(Auch der gestirnte Himmel nimmt ein Ende)
Warum verlange ich nach Gott?
Auf diese Frage wird Ungaretti lebenslang eine Antwort suchen. Denn poesia pura, reine Dichtung, versteht er nicht nur, wie die Franzosen, im ästhetischen, sondern gleicherweise im ethischen Sinne. Sprache ist ihm auch immer „Offenbarung des Gewissens“. Ungarettis Suche nach dem Absoluten meint Gott, einen ganz persönlichen christlichen Gott, ist immer auch das Begehren einer Antwort auf die Frage nach dem Sinne des Lebens, des Schreibens; unaufhörlich sucht er sein „unschuldiges Land“. Daraus erwächst sein poetisches Credo:
Das höchste Streben der Poesie ist, in der Sprache die Welt in ihrer ursprünglichen und glückstrahlenden Reinheit neu zu schaffen. In den besten Stunden großer Dichter erreichen die Worte manchmal jene vollkommene Schönheit, in der sich die göttliche Idee der Schöpfung spiegelt.
Im zweiten Gedichtband Sentimento del tempo, „Zeitgefühl“ (1933), hat der Dichter die Technik der Balance zwischen persönlicher, und öffentlicher Aussage, zwischen sprachlicher Experimentierfreude und direktem Bezug auf die Wirklichkeit weiter ausgebaut. Von der italienischen Kritik wurde dieser Bezug eine Zeitlang geflissentlich übersehen. Ihren Vorwurf, Ungaretti sei ein hermetischer Dichter, zu zitieren und zurückzuweisen gehört inzwischen zur Pflichtübung eines jeden, der über ihn schreibt. Mehr noch aber irritierte die Rezensenten, daß Ungaretti in diesem Band poetische Mittel benutzte, die er im ersten verschmäht hatte.
Vierzehn Jahre liegen zwischen diesen beiden Büchern. In dieser Zeit beschäftigte ihr Autor sich mit Dante, Petrarca, Leopardi, übersetzte Shakespeare und Racine; und er entdeckte den Mythos als Möglichkeit, „die Grenzen der Geschichte zu durchbrechen und nach einer Freiheit zu streben, die jenseits der geschichtlichen Gegebenheit liegt“. Er fühlte, „daß die Erinnerung das zentrale Thema meiner Poesie werden mußte. In ihr fand ich alles zusammengefaßt: den Gegensatz zwischen dem Individuum und der modernen Gesellschaft, die Haltung des Menschen zu Gott…, Geburt, Tod, Unruhe, Haß, Liebe… Erst durch die Fähigkeit der Erinnerung wird der Mensch zum Menschen.“
Bewahrt die persönliche Erinnerung das individuelle Erleben, speichert der Mythos die Quellen der gesamten Menschheitsgeschichte. Kronos, Aurora, Apoll tauchen als Titel auf, Reime und strenge Strophenformen, der Dantesche Elfsilbler werden wieder gebraucht. Die Gedichte des Bandes La terra promessa (1950), an dem der Dichter dreizehn Jahre arbeitete, suchen und finden das „verheißene Land“ im versunkenen Land, in der unvergänglichen Vergangenheit, dem Mythos. Sie gelten als unübersetzbar; auch Bieberstein wählte nur zwei aus und verzichtete zu Recht auf eine Nachbildung des Reims. Wir begegnen einer traditionellen Erhabenheit, einer dunklen Rhetorik, die Gedichte sind nicht frei von Posen und drapierten Metaphern.
Es scheint, als habe Ungaretti diese Gedichte parallel zu seinen theoretischen Überlegungen verfaßt als Beweis, „daß Metrik nicht etwas Akademisches ist, sondern gebunden an das Leben, der Wörter“, deren geschichtliche Dimension er sichtbar machen will. Doch nur die Sprache, die Bilder und die Metaphorik schließen sich in dieser Periode gegenüber der Wirklichkeit ab, nicht die Erfahrungs- und Aufnahmebereitschaft des Dichters. „Das Wichtigste bleibt das, was man für sich und die anderen ausdrücken will, um sich selber kennenzulernen.“ Wollte er, obwohl in den zwanziger Jahren vom Faschismus durchaus angetan, mit dieser zeitweiligen Betonung der Autonomie der Dichtung sich gegen eine politische Vereinnahmung wehren?
Wieder ist es ein elementarer Schock, vergleichbar dem Kriegserlebnis, der den Dichter zu seiner poesia pura zurückbringt. 1936 gibt er seine Mitarbeit im Pressebüro des Außenministeriums auf und geht als Literaturprofessor nach São Paulo. Kurz nach dem Tod seines Bruders stirbt hier sein neunjähriger Sohn. Wieder schreibt Ungaretti Gedichte, giorno per giorno, die wie die Gedichte aus dem Krieg an Tagebuchnotizen erinnern. Er veröffentlicht den Band Il dolore („Der Schmerz“) vier Jahre nach seiner Rückkehr 1947 in Rom, wo er eine Literaturprofessur erhält. Die Rhetorik hat vor der Realität kapituliert, die Metapher ihre Macht verloren. Das Wort ist nackt wie der Schmerz. Trauer hat die Schlacken der literarischen Überanstrengung weggebrannt, aus der Asche steigt wieder die Dichtung, die ans Herz greift.
„Niemand, Mutter, hat je soviel gelitten…“
Und mit schon erloschenem Gesicht,
aber noch lebendigen Augen
sah er vom Kissen zum Fenster,
und Spatzen füllten das Zimmer,
suchten Krumen, die der Vater gestreut,
um sein Kind abzulenken…
So das erste Stück aus „Tag für Tag“.
Das Spätwerk Ungarettis, Il taccuino del vecchio („Die Notizen des Alten“), Dialogo („Dialog“), Apocaissi („Apokalypse“) und Croazia segreta („Geheimnisvolles Kroatien“) knüpft an die frühen Gedichte und an Il dolore an. Italienische, aber auch deutsche Kritiker haben den späten oft abfällig vom frühen Ungaretti geschieden, glaubten schwindenden Glanz und ein Verstummen der Musikalität beklagen zu müssen. Sie übersehen dabei, daß Ungaretti bewußt auf jede Politur verzichtet, seine Sprache kommt ohne rhetorischen Aufputz aus. Weil er weiß, daß er’s kann, kann er’s auch lassen. Souverän gebietet er über seine poetischen Mittel, findet zurück zur knappen Form, zum einleuchtenden Bild, die Metaphern geben ihr dekoratives Gepränge auf, haben wieder unmittelbar funktionalen Charakter.
Mit dieser Rückkehr zu einer einfacheren Diktion folgt dieser Schriftsteller einer allgemeinen Entwicklung europäischer Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich ohne besondere Sprache mitteilen wollte und auf einen überzogenen Gebrauch der Metaphern verzichtete. Wieder gelingen ihm sprachliche Kondensate als Ergebnisse von Denkbemühungen, in denen der Gegenstand seine reinste, dichteste Form annimmt. So im Gedicht „Für die Toten des Widerstandes“:
Hier
Wachen für immer
Die Augen die verschlossen wurden
dem Licht
Damit alle
Sie offen behielten
Für immer
Dem Licht
Wer ein solches Gedicht schreiben kann, hat die „Antithese, die sie (die Erinnerung) liebenswert und lebensfreundlich“ macht, gefunden. Fehle sie, so der Dichter, führe Erinnern „in Verzweiflung, zum Selbstmord, nicht zur Poesie“.
Diese Antithese ist Ungarettis bedingungsloses, unverzagtes Ja zu allem Lebendigen, Werdenden. Immer ist ihm das Kind lieber als die Rechenmaschine. Er leidet, klagt und klagt an, spricht von sich als dem l’uomo di penna, dem Schmerzensmann, und dennoch: Die Morgen-, nicht die Abendröte beleuchtet sein Gedicht. Als er als Achtzigjähriger noch einmal liebt, lesen wir in dem Band „Dialog“:
AUFLÖSEN SAHST DU SICH
Auflösen sahst du sich in meinen Augen
die Masse so vieler Erinnerungen,
die täglich mehr zerstörten,
sahst unvermutet eine einzige
Erinnerung sich bilden.
Du hast sie eingeschlossen in mein Herz,
aus ihr bin ich neu geboren.
Ungaretti hatte den Mut, immer neu geboren zu werden. Er wollte „versuchen zu verstehen“ und „nicht von der Klage leben / wie ein geblendeter Distelfink“. Nicht zuletzt diese Haltung macht seine Größe aus. Er starb 1970 in Mailand. Die behutsame Übersetzung von Michael Marschall von Bieberstein und sein kluges Nachwort bringen ihn uns nah.
Ulla Hahn, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.3.1988
Für alle diejenigen, die wie ich selbst und viele andere meiner Generation auch von frühester Jugend an die Verse der Freude und des Zeitgefühls als „Wort-Bild-Kristalle“ im Innern des Gedächtnisses aufbewahrt haben (Rhythmen eines Inneren, die sich die Tatsachen des Lebens untertan machen), ist es eine große Genugtuung zu sehen, daß Ungaretti immer er selbst geblieben ist…: ein Meister, der sich ständig mit dem befaßt, was am literarischen Schaffen der Jüngeren neu und unvoreingenommen ist. Seine im internationalen Klima der literarischen und künstlerischen Revolution der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts verbrachte Jugend hat letztlich eine Haltung herangebildet, die sich niemals verändert hat, nicht einmal am Busen des tristen Triebes der Selbstgenügsamkeit und der Nachsicht im literarischen Rom der letzten Jahre.
Italo Calvino
Schon D’Annunzio, der grosse Künder des Wortes, erkannte den künstlerischen Wert der Pause. Er sagte:
Die geheimnisvollsten Verbindungen der Seele können bis heute nicht ausgesprochen worden, ausser in den Pausen, den Worten des Schweigens…
In der Tat hat gerade seine Dichtung weitere Uebersteigerungen nicht zugelassen und besonders nach dem Ersten Weltkrieg negative Wirkungen hervorgebracht: Rebellion der jungen Dichter gegen Pathos und Heroismus, das Unechte und Künstliche; eine Revolte nicht nur gegen die Inhalte, sondern auch gegen die traditionelle Technik und Form.
So verliess die Lyrik die ihr anvertrauten Regeln: Das Versmass wurde aufgelöst, die Syntax auf den Kopf gestellt, das Wort flüchtige Andeutung: eine Zersetzung, die sich zu Beginn mit Skizzen und Fragmenten begnügte und alles Althergebrachte über den Haufen warf.
Ungaretti hat das Wort zum Primat in der Lyrik erhoben. Er sagt darüber:
Mir schien gleich, als müsse das Wort eine Spannung zum Ausdruck bringen, die es mit der ganzen Fülle seiner Bedeutung durchdringt. Das Wort, mitgerissen von einer Welle oratorischer Leere oder schwebend als ästhetische Dekoration, festgehalten vom Malerisch-Skizzenhaften, verfehlt für mein Gefühl seinen dichterischen Zweck.
Man sieht, es ist eine Ansicht, die jeden Aesthetizismus ablehnt.
So wurde Ungaretti zum Schöpfer rhythmischer Werte, ein Dichter, der den Gehalt jedes Wortes abwägt, ehe er es an ein anderes bindet; der sich von der Tradition entfernt, um besondere dichterische und technische Resultate zu erzielen. D’Annunzios Pause tritt ihre Herrschaft an, das Unausgesprochene, dessen grösster Meister Ungaretti ist.
Giuseppe Ungaretti, am 10. Februar 1888 in Alexandrien in Aegypten geboren, studierte in Paris an der Sorbonne. Er nahm 1914 am Weltkrieg teil und sammelte während der Kämpfe am Karst die tiefsten Eindrücke, die seine Dichtung bestimmen sollten. Er lebte dann bis zum Jahr 1936 in Italien, um sich, nach einem sechsjährigen Aufenthalt in Brasilien, ganz in Rom niederzulassen, wo er heute, der Dichter des Fortschrittes im wahrsten Sinn des Wortes, heute noch lebt. Ein Dichter, von dem ein anderer Grosser, Eugenio Montalo, sagt:
Er hat uns über die Grenzen und den Sinn der Dichtung eine Leere gegeben, die für immer von unschätzbarem Wert sein wird.
Seine Dichtungen: Il porto sepolto, Sentimenlo del tempo, Il dolore, sind zum grössten Teil in den vier Bänden: Vita d’un uomo – Ein Menschenleben – bei Mondadori, 1954, erschienen. In Mailand wurde 1949 ein Prosawerk – Il povero della città – Der Stadtarme – herausgegeben und folgten 1950 Uebersetzungen von Gongora bis Mallarmé.
Seine Lyrik ist sehr schweigsam. Er sagt darüber:
Finde ich
in meiner Stille
ein Wort
ist es aus meinem Leben gerissen
wie aus einem Abgrund.
Ueber seine Kriegserlebnisse:
Wie dieser Felsen
des San Michele
so hart
so dürr
so ganz entseelt
wie dieser Felsen
ist mein Weinen
das niemand sieht.
Lebend
berichtet man
vom Tod.
In der Uniform
eines Soldaten
ruhe ich
als wäre sie
meines Vaters Rock.
Von Anbeginn lebt in ihm die Ueberzeugung, dass zwei aneinandergefügte, wohlgewählte Worte die Wirkung eines ganzen Satzes überbieten. Es ist eine ganz neue Art des Ausdrucks, mit dem geheimnisvollen Sinn für das Gewicht, die Farbe, den inneren Reichtum der Sprache, die technisch auch die leeren Zeilen mit einbezieht.
VANITÀ
D’improvviso
è alto
sulle macerie
il limpido
stupore
dell’immensità
E l’uomo
curvato
sull’ acqua
sorpresa
dal sole
si rinviene
un’ombra
Cullata
e piano
franta
(Allegria. 1917)
EITELKEIT
Unerwartet
schwebt hoch
über den Trümmern
das klare
Staunen
der Unendlichkeit
Und der Mensch
gebeugt
über ein Wasser
das Sonne überrascht
entdeckt
sich selbst
einen Schatten
Sich wiegend
zerbricht er
allmählich
Aber aus dem poetischen Wort, das anfangs nackt er wieder zu gewinnen suchte, entwickelte sich allmählich der Rhythmus, und der Vers, den er zerstörte um ihn aus dem Staub neu zu bilden – elementare Metrik – wird wieder zum Gedicht.
GEBURT DER AURORA
In ihrem sanften Mantel
und im Glorienschein,
aus dem Schosse, flüchtig,
spöttisch, als lüde
eine Blüte blasser Glut
uns ein, löst sich und stürzt
die jungfräuliche Nacht.
Es ist die Stunde,
in der sich erste Helle
vom letzten Zittern
des Himmelssaumes trennt,
der bleiche Schlund sich öffnet.
Mit smaragdenen Fingern
webt sie wechselnd
veränderlich ein Leinen,
und goldene Schatten,
unbewusste Seufzer stillend,
ziehen ihre Furchen
durch den satten Strand.
(Sentimento del tempo. 1925)
WIDMUNG
Durch den Nesselrock
meiner Zeit
trifft mich das Bild
deiner Strophe.
Giuseppe Ungaretti,
unter deinen Pinien
will ich heimwärts gehen,
wenn die Zikade,
abendhell,
die Erde in ein Lied
verwandelt.
Hanns Cibulka
Hans-Jürgen Heise: Ungaretti: Die lichtvolle Hermetik
Die Tat, 10.2.1973
Giuseppe Ungaretti liest Inno alla morte.
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