TRAUERMANTEL
I
Sah heute im wald
einen Trauermantel, groß, prächtig
auf der dunklen lichtung
zwischen hohen bäumen
neben dem großen ameisenhaufen
Wie ein kleiner vogel flog er
mit leuchtend hellem saum
Ich ließ ihn sich setzen,
neben mir, dort wo ich
kauerte, bei dem stein
Die flügel bräunliches dunkelrot, geädert
dann das band von perlen in leuchtendem
blau, und ganz außen der saum, cremegelb
Die vorderränder der flügel schwach gebogen, leicht gesprenkelt
hinter jeder flügelspitze ein kleiner zacken
der hinterleib stark behaart
Sah ihn dort an, lange, bis ich
eine hand ausstreckte
und das trockne gras, berührte
Da flog er schnell auf, hoch, fort
Doe vorliegende Auswahl aus dem Werk Göran Sonnevis umfaßt im wesentlichen die Produktion der Jahre 1975-87.
Die deutsche Auswahl präsentiert die beiden langen zyklischen Gedichte Einhunderteins Stücke; 25.6.77–27.10.78 und Sprache; Werkzeug; Feuer jeweils nur in Auszügen. In ihrer Originalgestalt nehmen sie 48 bzw. 208 Seiten ein; ihre Anordnung folgt bis auf die ersten Texte von Sprache; Werkzeug; Feuer der Chronologie ihrer Entstehung. Während der zeitliche Rahmen von Einhunderteins Stücke durch die im Titel angegebenen Datierungen gesetzt ist, wurde die Komposition von Sprache; Werkzeug; Feuer im Herbst 1957 begonnen und am 13.7.1979 abgeschlossen. Bei der Zusammenstellung der deutschen Ausgabe wurde auf die frühen Textpassagen weitgehend verzichtet.
Nachwort
– Der schwedische Lyriker Göran Sonnevi in Zürich. –
Zu der Reihe Lyrik der Welt – Welt der Lyrik hat die Galeristin Susanna Rüegg Steiner für gestern Sonntag einen der bedeutendsten Lyriker Schwedens nach Zürich eingeladen. Göran Sonnevis Dichtung spricht von Blumen, Sprache, Krieg.
Im Spätwinter 1965 schrieb der schwedische Lyriker Göran Sonnevi ein Gedicht über den Schnee.
Am Morgen
war alles zugeschneit. Ich gehe jetzt
hinaus und fege nach dem Sturm.
Das Gedicht heisst „Über den Krieg in Vietnam“ und hat es in die Spalten der Literaturgeschichten geschafft: als literarischer Anstoss zur schwedischen Anti-Vietnamkriegs-Bewegung.
Mit jedem Tag
werden mehr getötet in dem widerwärtigen Krieg der USA.
… Mehr Tote, mehr Rechtfertigungen,
bis alles zugeschneit ist.
Am Wochenende kam Sonnevi aus Stockholm nach Zürich, um in der Galerie Savoir-vivre an der Schipfe auf Schwedisch und Deutsch aus seinem Werk zu lesen. Am schwedischen Mälarsee zeigen sich zaghaft erst die Schneeglöckchen, an der frühlingshaft rauschenden Limmat blühen die Osterglocken. Sonnevi geniesst den Frühling und die Blumenpracht. – Und der Krieg?
Lyrischer Langstreckenlauf
Göran Sonnevi ist einer der bedeutendsten Lyriker der schwedischen Gegenwartsliteratur. Der Titel seines ersten Gedichtbands von 1961, Outfört (Unvollendet), enthält schon ein Programm für sein gesamtes Werk. Die Gedichte – und auch die Gedichtsammlungen – sind keine abgeschlossenen Sinneinheiten, sondern Bausteine in einem fortlaufenden Prozess, einer unermüdlichen lyrischen Arbeit an den Bedeutungsgefügen der Sprache, die unser Denken beherrschen, unsere Wirklichkeit herstellen. In diesem „lyrischen Langstreckenlauf“, so der Romancier Lars Gustafsson über Sonnevis Hauptwerk, die 400 Seiten starke Gedichtsammlung Det omöjliga (Das Unmögliche, 1975), bewegt sich der Dichter in kühnen Reflexionsbögen über die Grenzen der Wissensgebiete hinweg. Souverän verwandelt er Psychiatrie und Sprachphilosophie, Geschichte und Astrophysik, Mathematik und Erotik in – Poesie. Er schliesst Persönliches und Politisches, kurz, Konkretes und Abstraktes, Emotion und Reflexion. Nicht nur in Det omöjliga und im folgenden Band Språk; Verktyg; Eld (Sprache, Werkzeug, Feuer, 1979), die beide von Klaus-Jürgen Liedke ins Deutsche übersetzt wurden, arbeitet er sich unablässig ab an den Grenzen des Wissens, des Denkens, der Sprache, der Individualität. Und springt doch immer wieder zurück ins Zentrum der Lebenswirklichkeit: zum Du, zur Liebe, zu Erlen und Schwalben, zur Antiterrorgesetzgebung in Schweden oder zum Völkermord in Kambodscha.
Sonnevi ist Lyriker. Kein Literaturwissenschafter, obwohl er, der ursprünglich Ingenieur werden wollte, neben Geschichte und Philosophie an der Universität Lund einst auch dieses Fach studiert hat. Auf Fragen nach Einflüssen auf seine Dichtung reagiert er zögernd. Celan hat ihn als jungen Mann so beeindruckt, dass er eine Reihe seiner Gedichte ins Schwedische übersetzte. Auch Hölderlin, Mandelstam oder Bobrowski gehören zu der auserwählten Schar, die er in eine Sammlung eigener Lyrikübersetzungen unter dem Titel Framför ordens väggar (Vor den Wänden der Worte, 1993) aufgenommen hat. Aber Einflüsse? Seine Dichtung entstehe nicht geplant, nicht durch bewusste Konstruktion, sondern in einem Prozess, in dem das Unbewusste, die Sprache selbst oder der Zusammenstoss von Ich und Sprache, ebenso viel Anteil habe wie das rationale Bewusstsein. Strukturen, Logiken werden sichtbar erst im Nachhinein.
Poesie und Politik
Und der Krieg? – Göran Sonnevi, ein mittelgrosser, eher unscheinbarer Mann Anfang sechzig, sitzt in der Galerie an der Schipfe und lächelt freundlich, nachdenklich. Die Limmat rauscht, die Grossmünstertürme leuchten in der Abendsonne, Glocken läuten. „Ein Gedicht kommt von selbst“, sagt der Autor, „nicht weil ich es will“. Sonnevi ist Lyriker. Kein Politiker. Er ging früher zu Protestveranstaltungen gegen den Vietnamkrieg, heute zu Demonstrationen gegen den Irakkrieg. Aber ein Gedicht über den Krieg gegen Saddam braucht er nicht mehr zu schreiben. Er hat es schon geschrieben – irgendwo und irgendwann in dem endlosen lyrischen Prozess, den sein Werk darstellt. Letzte Woche leitete eine schwedische Tageszeitung ihren Kommentar zum Irakkrieg mit Zeilen aus Sonnevis 1981 veröffentlichtem Sonettband Små klanger; en röst (Kleine Klänge; eine Stimme) ein:
Ich kann den unbeholfenen Worten nicht glauben,
die versprechen, der Sieg sei nahe,
wenn ich den Preis sehe, die Absichten.
Göran Sonnevi liest beim Södermalms poesifestival 2015.
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