– Zu Hugo von Hofmannsthals Gedicht „Terzinen. Über Vergänglichkeit“ aus Hugo von Hofmannsthal: Gedichte und kleine Dramen. –
HUGO VON HOFMANNSTHAL
Terzinen
Über Vergänglichkeit
Noch spür ich ihren Atem auf den Wangen:
Wie kann das sein, daß diese nahen Tage
Fort sind, für immer fort, und ganz vergangen?
Dies ist ein Ding, das keiner voll aussinnt,
Und viel zu grauenvoll, als daß man klage:
Daß alles gleitet und vorüberrinnt.
Und daß mein eignes Ich, durch nichts gehemmt,
Herüberglitt aus einem kleinen Kind
Mir wie ein Hund unheimlich stumm und fremd.
Dann: daß ich auch vor hundert Jahren war
Und meine Ahnen, die im Totenhemd,
Mit mir verwandt sind wie mein eignes Haar,
So eins mit mir als wie mein eignes Haar.
Eines von Hofmannsthals vollkommenen, oder nahezu vollkommenen Gedichten, von Urerlebnissen handelnd. Das erste ist elementar, jeder auch nur etwas zum Staunen Geneigte kennt es. Das zweite ist neurotischer Natur, aber dem ersten verwandt und zur condition humaine gehörig. Das dritte ist kein echtes und dient nur der Abrundung.
„Wie kann das sein, daß diese nahen Tage…“ Hier geht es nicht um jene Vergänglichkeit, von der, Urquell der Lyrik, so viele Dichter künden: das Altern, das Sterben, die welkende Liebe („Leben und Liebe, wie flog es vorbei!“ heißt es bei Storm): Um den Schock geht es, hervorgerufen durch das plötzliche Aufhören einer Situation, die eben noch war und nicht mehr ist und nie wieder sein wird.
Einige Tage müssen es gewesen sein, „diese nahen Tage“; bloße Stunden genügten nicht. Daß ein einziger Abend nicht dauert, das weiß man. Daß einige Tage enden werden, weiß man auch, aber will es nicht wissen, sie werden zur Gewohnheit, zur Dauer, wie das Leben selber; traurig ist erst der letzte Tag. Natürlich müssen es schöne Tage gewesen sein, im Sommer vermutlich (der Atem von Wind und Sonne „auf den Wangen“), die Gegenwart einer geliebten Person, ein freundlicher Kreis. Und nun ist’s aus.
Hofmannsthal liebt das Verbum „gleiten“. In den „Terzinen“ erscheint es zweimal und führt neue Gedanken-Erlebnisse ein. Denn diese nahen Tage glitten ja gerade nicht, veränderten sich nicht, solange sie waren; eben darin liegt der Schrecken ihres Endes. Daß auch ihre Dauer Täuschung war, kommt dem Dichter erst in der zweiten Strophe in den Sinn. Ein Pedant mag einwenden, man könne sich das Gegenteil von „gleiten“, das Stehenbleiben der Zeit, das nunc stans, erst recht nicht ausdenken. Worauf zu antworten wäre: zutiefst staunenswert ist nur, was man sich anders, als es ist, nicht denken kann, und nur da taugt auch keine Klage.
Vom Gleiten der Zeit zum gleitenden Ich in der Zeit: ein Hofmannsthalsches Thema. Die Marschallin im Rosenkavalier weiß schön davon zu singen. Sie war das Kind Resi am Anfang und folglich immer; der Teil von ihr, der es blieb, schaut dem andern zu, der sich wandeln muß und bald „die alte Fürstin Resi“ sein wird, und fragt staunend, wie der Liebe Gott denn das macht, und fragt nicht weiter, denn Resi ist eine gesunde Untertanin der Maria Theresia, keine Neurotikerin.
In des Dichters direkter Rede spaltet das Ich sich im Herübergleiten, so, daß der Herangewachsene sich selber fremd wird, wenn er, absehend von den Dingen, sich auf sein Selbstbewußtsein zentriert. Über diesen psychischen Vorgang gibt es eine Fußnote in Schopenhauers „Hauptwerk“: das Ich bedürfe allezeit der „Percipierung“ von Gegenständen und finde, wenn es sich selber sucht, ohne Objekt, nichts als ein bestandloses Gespenst. In den „Terzinen“ wird das Gespenst zu etwas, was wohl ist, aber sich – ihm – unheimlich stumm und fremd ist wie ein Hund – das der Tiernatur entfremdete Tier, welches doch kein Mensch sein kann.
„Dann: daß ich auch…“ Es stimmt nicht. Wir waren keineswegs schon vor hundert Jahren und sind nichts weniger als eins mit unseren Ahnen, die durch ihre gleitende Zeit bestimmt waren, wie wir von der unseren und wenn wir ihre blassen Photographien, dunklen Porträts, verwitterten Grabsteine sehen, so mit einem Gefühl recht matten Interesses: Der Konvention nach waren das meine Vorfahren, und glauben muß ich es wohl und ein bißchen kurios ist es auch. Gott sei Dank braucht es zwei, nicht einen, um das Leben fortzusetzen dann vier, dann acht und so weiter; Gott sei Dank ist jede Individualität für sich, von unerschöpflich vielen möglichen Variationen diese eine einzigartige Mischung verwirklichend. Einheit mit allen den Erzeugten und Erzeugern vor hundert Jahren findet nicht statt.
Die letzte Zeile, die vorletzte wiederholend und steigernd, könnte formal nicht wirksamer sein. Aber auf Kosten der Aussagekraft. Für diese wären, bei einem Gedicht von nur dreizehn Zeilen, zwei, sieht man genauer hin: drei Denk-Anstöße auch reichlich genug gewesen.
Golo Mann, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Fünfter Band, Insel Verlag, 1980
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