NUR ZWEI DINGE
Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
– ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Ästhetische Werte in Deutschland,
Artistik in einem Land, wo man von
Haus aus so viel träumt und trübt?
Außen verdienst du dir dein Geld und
innen gibst du deinem Affen Zucker, mehr
kann nicht sein, das ist die Lage, erkenne
sie, verlange nicht, was unmöglich ist!
Die Lage
Das Prinzip Hoffnung hat uns als Irrlicht zur besseren Zukunft bereits bis heute heimgeleuchtet. Was sich so alles als große Befreiung angekündigt und vorgestellt hat, erwies sich nach Augenschein der Praxis als Kulissenschiebung.
Der ewige Frieden auf Erden, der ewige Frühling am Nordpol… Nein, auch nicht unter dem Weihnachtsbaum kann ich mir einreden, daß sich die Geschichte demokratisch gibt, daß sie ein anderes Sein hat, als ihre Wirklichkeit.
Diese Art Defaitismus wird sekretiert oder nicht verziehen.
Kritik ja, Kritik der durchgängig miserablen Zustände im einzelnen ja, wird zur verordneten Pflichtübung. Dabei gelingen Schriftstellern die miesen Typen, Wissenschaftlern die Analysen der miesen Verhältnisse stets excellent; positive Gegenwelten bleiben dünn oder aus, es fehlt offensichtlich an Anschauungsmaterial; Hauptsache, irgendwann irgendwo findet sich ein Bekenntnis zur grundsätzlichen Meliorisierbarkeit.
Ein Herr sitzt: vor mir in meinem Sprechzimmer, er will bei mir Genesungssubstantive kaufen; nur Mut, mein Freund, es geht schon aufwärts, Beruhigung, Bekömmlichkeit. Ich blicke über die Straße. ein Herr stäut sich den Rock ab, es stäuben sich aber in diesem Augenblick viele Herren den Rock ab.
Prinzip Hoffnung, befreite Gesellschaft, engagierte Kunst – vielleicht ist auch das nur Romantik, rührige Spielart der Innerlichkeit, affirmative Basis-Beschwichtigung für die tägliche Tretmühle, Seborin-Reklame: lassen Sie nicht nach, beschränkte Sicht aber konstitutionell bedingt.
Vom Klassiker
Gottfried Benn ist als moderner Klassiker kanonisiert; ein Bestand seiner Gedichte – die harmonischen, vielleicht die vollendetsten hat eine bestimmte Anzahl von Seiten in Lesebüchern und Lyrik-Anthologien zu füllen; sein Werk ging den Weg der Werke der Klassiker: erst will sie keiner; dann wird der Untergang des Abendlands beschworen; dann flicken Kritiker mit Zwars und Abers daran herum; dann vermessen Philologen alles nach Länge, Breite, Tiefe; bis hin zum Goethe-Institut und Rezitationen bei Buchsbaum, der gebildete Ministerialdirigent appliziert ein Zitat. Ob Kafka, Brecht oder Benn, wie sauer mans ihnen auch werden ließ, wie pessimistisch, staatsgefährdend, destruktiv auch immer die Botschaft, sie werden – gelingt ihrem Werk der Weg durch die Instanzen vereinnahmt, verpackt, Gütesiegel Kultur, Abteilung Export: wir sind wieder wer.
Sublimierter Kapitalismus ist die Kategorie, in der der Staat und die von ihm vertretene Öffentlichkeit die Kunst empfindet und gelten läßt. Hohenzollern oder Republik, das ist Jacke wie Hose. Günther, Hölderlin, Heine, Nietzsche, Kleist, Rilke oder die Lasker-Schüler – der Staat hat nie etwas für die Kunst getan. Kein Staat. Penthesilea wäre nie erschienen, wenn darüber abgestimmt wäre. Der Staat, immer bereit zu Geschwätz, daß die Nation sich aus inneren Kräften erneuere, hat der Kunst gegenüber keine andere Geste als die, die vom Fehlgriff lebt. Er beruft eine Akademie: zwei oder- drei Konzessionslose, die unübersehbar sind, aber dann die Masse der Schieber, die flüssigen Epiker, die Rülpser des Anekdotenschleims, die psychologischen Stauer von Mittelstandsvorfällen… Der Konformismus war immer da.
„Widerwärtig und ekelerregend“ war der erste Kommentar zu den ersten Benn-Gedichten. „Kneipenzynismus“, „Schnodderton“, „schmierige Piefkewelt“ waren die Epitheta, die Max Rychner für den jungen Arno Schmidt fand, zur gleichen Zeit, als er (der Rychner, versteht sich) den alten Benn lobte.
Erinnern Sie sich gelegentlich daran, daß man Schubert in seinem neunundzwanzigsten Lebensjahr nahelegte, sein Notenpapier ohne Linien zu kaufen und es selbst zu linieren, das fiele billiger aus. Allerlei, sagt natürlich heute jeder, aber es geschieht natürlich genauso wieder, und nicht jeder ist dann soweit, daß er mit einunddreißig Jahren kein Geld mehr auszugeben braucht.
Die öffentliche Aufnahme der Kunst geht von der Entrüstung unter Umgehung einer Auseinandersetzung direkt in die inzestuöse Fachschaft. Kunst wird Kulturgut.
Und die, die sowieso was gegen Kulturgüter haben, aber ansonsten fürs vermehrte Abstimmen sind, wissen von Benn noch, daß er sich mit den Nazis kompromittiert hat. Kein Wunder, sagen sie, bei einem, der sich auf Form, Ausdruck, Artistik berief. Formalismus = Faschismus ist die probate Formel. Merkwürdig in diesem Zusammenhang nur, daß die Nazis genau das an Benn gefährlich fanden: Form, Ausdruck, Artistik.
Die neue Gretchenfrage
In einem Fernsehrapport über die Oberhausener Filmwoche kam es der adrett ondulierten Ansagerin lächelnd über die Lippen: „Diese Filme legen keinen Wert auf Ästhetik, sie wollen repressive Strukturen transparent machen… gesellschaftliche Relevanz… Klassencharakter… engagierte Protokolle…“
… es wirkt so, als wenn die Regenwürmer sagten, was sind wir doch für ein rapides Geschlecht, ich sah erst gestern einen Vogel, der mußte die Flügel bewegen, um vorwärts zu kommen.
Auf die Gefahr hin, Banalitäten als Novitäten vorzuführen: Von der dämonisierten Ästhetik hängt ab, ob überhaupt, wenn überhaupt, etwas transparent wird. Allein der ästhetische Rang bestimmt die Wirkung eines Kunstwerks. Ästhetik – jeder Bestseller-, Flugblatt- oder Wiesengedicht-Autor bedient sich ihrer auf seine Weise. Ästhetizisten haben die Ästhetik ebensowenig gepachtet wie Sozialisten das Soziale. Aber überall die erste Frage an die Kunst: wie stehts mit ihrer gesellschaftlichen Verantwortung, ihrem Humanismus, ihrem Engagement.
Wer hat nur die Alternative reine Kunst – engagierte Kunst konstruiert? Es gibt eine Kunst der Politik, eine Kunst der Strategie, eine Kunst der Rhetorik, eine Kochkunst – immer ist mit „Kunst“ eine formale Qualität gemeint. Nur „Die Kunst“ – die sich selbst als das Formale schlechthin definiert – steht unter immerwährendem Ideologieverdacht. Reine Kunst – engagierte Kunst: das hat nichts mit Kunst zu tun, nur mit ihren Inhalten. Fangen wir nochmal von vorne an: woher auch immer ein Künstler seine Substanzen und Impulse bezieht: Naturgefühl, Ehegezänk, Kindersegen und -sorgen, Arbeitsalltag, Kriminalfall, die politische oder religiöse Lage oder die Unwirtlichkeit unserer Städte – das kennt ja jeder –: Kunst wird daraus nur durch Form, Ausdruck, Artistik. Aber alle beeilen sich, ihr Bekenntnis abzulegen: zur gesellschaftlichen Verantwortung, zum Humanismus, zum Engagement.
Sie meinen, daß jeder, der heute denkt und schreibt, es im Sinne der Arbeiterbewegung tun müsse, Kommunist sein müsse, dem Aufstieg des Proletariats seine Kräfte leihen. Warum eigentlich? Soziale Bewegungen gab es doch von jeher. Die Armen wollen immer hoch und die Reichen nicht herunter… Es erscheint mir geradezu angebracht, dem einmal ins Gesicht zu sehen: dem Typischen des proletarischen Prozesses, dem reinen Umschichtungscharakter der neuen Machtlage bei gleichgebliebener imperialistischer und kapitalistischer Tendenz… Auch wer nicht weniger radikal als die patentierten Sozialliteraten das nahezu Unfaßbare unseres Wirtschaftssystems empfindet, muß sich doch zu der Erkenntnis halten, daß der Mensch in allen Wirtschaftssystemen das tragische Wesen bleibt, dessen Abgründe sich nicht durch Streuselkuchen und Wollwesten auffüllen lassen, dessen Dissonanzen sich nicht auflösen im Rhythmus einer Internationale… Aber dazu gehört natürlich mehr Mut, als den Nachklängen der französischen Revolution zu lauschen, sich mit den Spätfarben des Darwinismus zu drapieren, die Zukunft zu belasten, die doch andere verwirklichen sollen. Denn die Herren, von denen wir ausgingen, die schreiben doch höchstens Gedichte und Feuilletons, die Visage hinhalten, wenn es losginge, das müßten doch die Trimmer, die Kumpels, die Proleten, während jene die Anfeuerung besorgten aus ihren Etagenwohnungen oder ihrem Luftkurort.
Kann Kunst die Gesellschaft verbessern?
Gottfried Benn hat jeden sozialen Auftrag für sein Werk abgelehnt. Er hat selbstgestellte Aufträge erfüllt, die sich dann als Aufträge eines Zeitalters herausstellten. Man sollte lernen, zwischen zur Schau gestellter Gesinnung und Leistung eines Autors zu unterscheiden. Ist ein Autor, der sich zum Sozialismus bekennt, ein sozialistischer Autor? Ist ein Autor, der sich einen Fatalisten nennt, ein fatalistischer Autor? Die Einheit von Leben und Werk ist auch so eine Illusion: Rousseau steckt seine Kinder ins Armenhaus und wird ein bedeutender Pädagoge; Büchner, Engagierter der Tat, ist politischer Pessimist; Schopenhauer hält als Kleinkapitalist seine Groschen zusammen, um das Mitleid die Grundlage der Moral nennen zu können; der Royalist Balzac liefert Marx Einsichten in die mörderische Mechanik der Ökonomie seiner geliebten Gesellschaft; Marx verbringt sein Leben in Bibliotheken und predigt die Weltrevolution; Oscar Wilde macht die Moral in der Kunst lächerlich und schreibt moraltriefende Märchen; Nietzsche, ein sanftes Mickermännchen, besingt die blonde Bestie. Natürlich wäre es erbaulicher, mitzuteilen, daß einer, der einen Wegweiser aufstellte, dem Weg auch folgte. Aber warum sollen ausgerechnet Künstler und Philosophen auch noch moralische Leithammel abgeben? Sie haben ein Werk abgeliefert, das hat ihre Kräfte absorbiert.
Oder man nehme den Fall der modernen Klassiker Benn und Brecht. Brecht, von Haus aus Großbürger, ein Ästhet, Formalist, Manierist, ein „Stefan George im Drillich“ wie Gerhard Szczesny brillant und zu wenig beachtet nachgewiesen hat, brauchte den Kommunismus als Agens, das seinen Formtrieb kanalisierte und befriedigte. Brecht ist kein großer Kommunist, sondern ein großer Dramatiker. Benn, von Haus aus Kleinbürger, von Beruf Arzt, hat – läßt man sich auf solche Argumentation ein – an praktischer Humanität mehr geleistet als die Gesammelten Dramen des Bertolt Brecht, ohne allerdings jemals damit hausieren zu gehen und sich als Wohltäter der Menschheit beweihräuchern zu lassen.
Ich fülle tagsüber einen Beruf aus, soll ich abends noch eine besondere Tätigkeit für das Weltall entfalten?… Ich habe es nicht weiter gebracht, etwas anderes zu sein, als ein experimenteller Typ, der einzelne Inhalte und Komplexe zu geschlossenen Formgebilden führt… Ein Bedürfnis, in der Art wie ich zu denken, liegt, soziologisch gesehen, bestimmt nicht vor. Es sind individuelle Versuche, den inneren Strömungen, die in gewisser Weise Strömungen der Zeit sind, Ausdruck zu verleihen. Ich blicke nicht in die Zukunft, meine Gedanken ergreifen und begreifen sich nur als eine regional begrenzte, phänotypische, höchstens drei Jahrzehnte repräsentative Zwangslage einer Generation. Nur keine Ausstrahlungen universalistischer Art!
Benn und Brecht: welches humanitäre Engagement enthalten ihre Werke? Von Brecht glaubt man es zu wissen, weil er sich hauptberuflich als Lehrmeister in Weltverbesserung proklamierte – hat sein Werk tatsächlich dahingehend gewirkt? Egal. Brecht, durch peinliche Weihefeiern längst entschärft, wird immer die größere Anhängerschaft haben, er täuscht Aktion vor, liefert Aufbauillusionen, gibt ein gutes Gefühl nach dem Theaterabend: das war mal wieder gesellschaftskritisch, und wir können sagen, wir sind dabei gewesen. Brecht hat als Künstler gewirkt, nicht als Politiker. Das genügt doch. Warum ihn mit mehr befrachten?
Benn verspricht nichts, ruft keine Massen auf, legt lediglich Ergebnisse seiner Zwänge vor, lädt allenfalls zur Besichtigung einer Sackgasse ein. Hätte er sich unter die Veränderer gereiht, sähe seine Lage anders aus. Es dürfte schwerhalten, die sozial- und gesellschaftskritischen Aspekte in der Benn’schen Lyrik zu übersehen: Fürst Kraft, Annonce, Kasino, Außenminister, General, Radio, Monolog. Würde heute jemand mit den Morgue-Gedichten starten, wäre das eine Sternstunde engagierter Poesie; es genügt ja bereits, Reizworte wie Spätkapitalismus und Umweltschutz einzuflechten, einige Proteste zu unterschreiben, um sich als engagiert auszuweisen. An sozialkritischem Material hat Benn soviel geliefert wie Brecht. Nur hat Benn sich gefragt, was bewirkt das schon? Insofern sind diejenigen konsequent, die alle Kunst – nenne sie sich engagiert oder nicht – für faulen Zauber halten, vergeudete Energien im tagespolitischen Kampf, Ballast auf dem langen Marsch zur befreiten Gesellschaft.
Sie wollen alles befreien und humanisieren und die Lebensqualität verbessern – und wollen dazu die einspannen, die dadurch ein Stück befreite Gesellschaft verwirklichen, daß sie sich von keinem einspannen lassen.
Denn Kunst, engagierte oder reine, zeugt durch ihre bloße Existenz für Humanismus.
Von der Nützlichkeit
Es gehört heute zum Feuilleton, den einzelnen als deformiertes Produkt seiner Gesellschaft hinzustellen. Der Mensch wäre gut, wenn die Gesellschaft gut wäre, aber die ist schlecht. Vielleicht ist aber die Qualität einer Gemeinschaft nur die Summe der Qualitäten ihrer Individuen? Vielleicht haben die Menschen ihre politischen Systeme nur nach ihren inneren Distorsionen errichtet? Ist der Mensch schlecht, weil die Gesellschaft schlecht ist, oder die Gesellschaft schlecht, weil der Mensch schlecht ist? Bekanntlich harrt die Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei, noch der Lösung. Aber die soziologische Wissenschaft hat die gesellschaftliche Frage gelöst: verändere die ökonomische Basis, und siehe, es wird alles gut. Aber einstweilen: alle Mann ans Fließband, auf in die Produktionsschlacht. An schwachsinnigem Arbeitsethos steht der Sozialismus, jedenfalls wie er sich bis jetzt verwirklicht hat, dem Kapitalismus in nichts nach. Hat es überhaupt noch eine historische Bedeutung, den Abendländer mit Spritzen, Salben, Bruchbändern und nun auch mit Suggestionsmethoden körperlich zu sanieren, wenn sein Hintergrund doch nur dieselbe verrottete Ideologie des Nützlichkeitspositivismus, dieselbe abgetakelte, hilflose, leergelaufene Hymnologie auf den von der Wiege bis zur Bahre mit Nasenduschen und Nährklistieren hochgepäppelten Fortschrittsfavoriten immer blieb?
Handeln, politisch werden, dafür oder dagegen angehen, sich engagieren – ob reaktionär, reformistisch oder revolutionär – heißt mitmachen, mitmischen, pragmatisch werden, Möglichkeiten nutzen.
Diese Wirtschaftslage, wo das Gemüse zuerst vergiftet wird, um höhere Ernteraten zu erzielen, und dann auf dem Kompost landet, um höhere Profitraten zu erzielen; die Emsigkeit, Ramschproduktion zu steigern; Stechuhren; Erfolgsbräune; Teppich im besseren Büro; das Sportcoupé métallisé in der Tiefgarage – dafür gibt es gar keine Entschuldigung, das läßt sich nicht mit einer erst neulich vermurksten Gesellschaft erklären, die hat höchstens die Kostüme gewechselt, das liegt an den vermurksten Akteuren selbst.
Die Wertnormierung und -nominierung der politischen Geschichtsschreibung ist grundsätzlich pervers. „Wirtschaftliche Blüte“, Klartext: alle haben geschuftet wie die Hamster im Rad; „Festigung der Republik“: wer die Schnauze aufmacht, kriegt eins rein; „größte Ausdehnung der Macht“: der Haufe unter Waffen; „große Revolution“: die Guillotine klappert. „Was fruchtbar ist, allein ist wahr“ – das legten sie sich so aus, die Eierstöcke sind die größten Philosophen. Hingegen „Niedergang“: individueller Spielraum; „Dekadenz“: Differenzierung des Intellekts und der Sensiblität; „Krise“: Muße.
Es gibt nur eine Weise des Protestes, und die ist individuell: sich entziehen, aussteigen.
Wenn die Kunst einen Nutzen hat, dann, im Sinne des allgemeinen Nützlichkeitswahns nutzlos zu sein. Die Wissenschaft hat sich vor den Karren der Pragmatiker schirren lassen. Die einzige Gegenwelt ist die Kunst. Anstatt nun mit Zähnen und Klauen diese Gegenwelt festzuhalten, beginnt die Kunst sich ihrer Nutzlosigkeit zu schämen und will nützlich werden, politisch werden, aufzeigen, verbessern. Alas, das alles kann sie nur, wenn sie nutzlos bleibt.
Gottfried Benns „Engagement“ bestand darin, daß er nicht mitmachte, die Gegenwelten nicht zu verkleistern suchte, sondern Kunst machte, nur Kunst, reine Kunst, so rein, wie Kunst sein kann.
Untätigkeit, das war, wenn ich es so ausdrücken darf, in der Tat mein Ideal. Untätigkeit im allgemeinen Sinn: Kein Büro, kein pünktlicher Dienstbeginn, keine Bezugszeichen links oben auf den Akten. Keineswegs durch die Natur schweifen, ich war kein Rutengänger und Steppenwolf, mehr ein Sichauslegen mit Wurm und Angel, etwas anbeißen lassen, Eindrücke, Träume – die große Vergeudung der Stunden. Daß Goethe und Hamsun die körperliche Arbeit als letzte Weisheit priesen, schien mir nicht besonders verbindlich in Anbetracht dessen, daß sie persönlich ihre siebzig Jahre lang sämtliche irdischen und überirdischen Dämonen an allen ihnen zur Verfügung stehenden Drüsenfeldern und Ausführungsgängen mit Hexenmilch gelabt hatten, nun wollten sie zum Schluß ihren Zwieback nochmal in der Laube vespern.
Die Pragmatiker und Politiker, denen sich Künstler anbiedern zu müssen glauben, die finden das sowieso nur lächerlich und lästig. Oder glaubt Arno Schmidt im Ernst, daß der Arbeitsaufwand, den er auf Zettels Traum verwandt hat, von irgendeinem mittleren Abteilungsleiter – sagen wir in der Textilindustrie – als nützliche Arbeit angesehen würde?
Die wirkliche Kunst- und lebensfähige Größe einer Leistungsgesellschaft bemißt sich daran, wieviele Asoziale, Arbeitsscheue, Penner, Gammler, Hippies und – Künstler sie sich leistet. Der offensichtliche Leistungsverfall ist die offensichtliche Folge des Leistungsprinzips, in dem es nicht um Leistung geht, sondern deren Akzidenz: Erfolg und Profit. Leistung entsteht aber nur aus Passion und Muße. Bewußtseinserweiterung, Allotria, Erkenntnis, Vergnügen, Amok, Artistik ist die entscheidende soziale Aufgabe der Kunst.
Und da wir gerade beim „Verschleudern von Steuergeldern“ sind: Soviel wie an Starfightern in Schall und Wahn draufgeht, können Demonstranten gar nicht kaputtschmeißen.
Big Benn Revisited. Ein Rahmenrichtlinien-Interview für den Unterrichtungsgebrauch
Was ist Kunst?
Kein Mittel gegen Räude, sondern die Erklärung des Menschen… Schönheit ist ein menschliches Faktum, genau wie Stundenlohnerhöhung oder Klassenkampf, nicht weniger real.
Wie ist die Wirkung der Kunst?
Kunst hat keine geschichtlichen Ansatzkräfte, ihre Wirkung geht auf die Gene, die Substanz – ein langer innerer Weg. Das Wesen der Kunst ist unendliche Zurückhaltung, zertrümmernd ihr Kern, aber schmal ihre Peripherie, sie berührt nicht viel, das aber glühend. Existentielle Gründe sind keine kausalen, verpflichten niemanden, sie gelten nur für den, in dem sie sich als Tatsächlichkeiten erweisen. Sie sind nicht übertragbar, auch nicht nachprüfbar, sie suchen sich ihre Legitimation in der Ununterdrückbarkeit der Ausdruckswelt.
Gibt es soziale Voraussetzungen für das Genie?
Genie – sonderbar als Wort, Vorstellung und Tatsache in einer Zeit, die mit allen ihr gegebenen Talenten und Machtmitteln den Begriff des Durchschnitts, der Norm schützend umgibt…
– Seine Größe besteht darin, daß er keine sozialen Voraussetzungen findet.
Hat Kunst überhaupt etwas mit Politik zu tun?
Erhielte sich ein Staat durch Straßenbeleuchtung und Kanalanlage, wäre Rom nie untergegangen –: immanente geistige Kraft wird es wohl sein, die den Staat erhält, produktive Substanz aus dem Dunkel des Irrationalen. Und hier könnte die Stelle seilt, wo es politisch wird.
Aber Irrationalismus führt zum Faschismus, heißt es…
Wessen geistiges Fundament man nicht erfassen kann, den denunziert man politisch. Armselige, stumpfe Gehirne, die schon die Diskussion des Irrationalen nicht mehr scheiden können von den geistigen Schwammigkeiten des parteimäßig organisierten Somnambulismus.
Wann wurde der Geist politisch?
Als der deutsche Idealismus vordrang, nach dem alles Wirkliche vernünftig war, also auch Kriege Erscheinungen und Ausdruck des Weltgeistes wurden. Kritik wurde Blasphemie am Weltgeist. Darwin verlieh den kämpfenden Haufen naturwissenschaftliche Fahnenbänder: Kampf ums Dasein – Auslese der Starken… nun trat der Parademarsch neben den Satz vom Grunde. „Das Leben“, „Die Wirklichkeit“, „Der Starke“ – identisch gesetzt mit Vernunft, in Durchdringung miteinander als „Gesetz“, „Geschichte“ zu idealistischer Philosophie, naturwissenschaftlichem Axiom, dithyrambischer Sonnen- und Gletschervision erhoben: Hegel, Darwin, Nietzsche –: sie wurden tatsächliche Todesursachen von vielen Millionen. Gedanken töten, Worte sind verbrecherischer als irgendein Mord.
Wie kann man bei solchen Erkenntnissen politisch handlungslos bleiben?
Politische Apathie wird verurteilt, aber politische Handlungen sind nur möglich unter Macht- und Expansionsaspekten… Handeln ist Kapitalismus, Rüstungsindustrie. Niemand kann die Geschichte mehr anders sehen denn als die Begründung von Massenmorden: Raub und Verklärung, das ist der Mechanismus der Macht. Alles Rom, alles Rubikon! Die Fresse von Cäsaren und das Gehirn von Troglodyten, das ist ihr Typ! – Siege und Unsiege, Wille und Macht, was für Aufdrucke für diese Bouillonwürfel! Auf dem Tisch gratis Kolonialwaren und unter dem Tisch angeeignete Perserteppiche: das ist das Tatsächliche der Geschichte. Was sie zerstört, sind meistens Tempel, und was sie raubt, ist immer Kunst.
Wie soll man da leben?
Man soll ja auch nicht… Klubs debattieren über die verzweifelte Lage – überall ein Kaninchengedränge von Analysen und Prognosen. Können Sie es da einem verdenken, wenn er sagt: schön, alles in Ordnung, muß wahrscheinlich alles so sein, aber bitte ohne mich, für die kurze Spanne meiner Tage bitte ohne mich, ich kenne nämlich eine Sphäre, die ohne diese Art von Beweglichkeit ist, eine Sphäre, die ruht, die nie aufgehoben werden kann, die abschließt: die ästhetische Sphäre… Innerhalb des allgemeinen europäischen Nihilismus aller Werte, erblicke ich keine andere Transzendenz als die Transzendenz der schöpferischen Lust.
Keine Transzendenz der Religion?
Würden Sie mich fragen: glauben Sie, würde ich sagen, glauben trennt mich schon von der Grundsubstanz meines Auftrags und meiner Bindung, welcher Art dieser Auftrag und diese Bindung ist, ist mir dunkler als je. Ich finde Gebet und Demut arrogant und anspruchsvoll, es setzt ja voraus, daß ich überhaupt etwas bin, aber gerade das bezweifle ich, es geht nur etwas durch mich hindurch … Dieses Große Wesen – ein Thema für sich! Man überlege doch einmal, was es alles mit uns angerichtet hat, es hat mich doch keineswegs so reich beschenkt, daß ich mich durchfände – soll ich da plötzlich an entscheidender Stelle demütig werden und sagen, das war ja alles nicht so schlimm gemeint?
Und die Transzendenz der Philosophen?
Diese Denker mit ihrem Seinsgrund, den niemand sieht, völlig gestaltlos, alles nur Beiträge, Beiträgler – sie drehen die Leitung auf, meistens kommt dann etwas Plato heraus, dann duschen sie ein bißchen herum, und dann tritt der nächste in die Wanne. Keiner macht etwas fertig. Ich muß meine Sachen fertig machen… Die Philosophen fühlen, daß es mit dem diskursiven systematischen Denken im Augenblick zu Ende ist, das Bewußtsein erträgt im Augenblick nur etwas, das in Bruchstücken denkt, die Betrachtungen von fünfhundert Seiten über Wahrheit, so treffend einige Sätze sein mögen, werden aufgewogen von einem dreistrophigen Gedicht – dies leise Erdbeben fühlen die Philosophen, aber das Verhältnis zum Wort ist bei ihnen gestört oder nie lebendig gewesene, darum wurden sie Philosophen, aber im Grunde möchten sie dichten – alles möchte dichten.
Warum dichtet denn dann nicht alles?
Das Verhältnis zum Wort ist primär, diese Beziehung kann man nicht lernen. Sie können Äquilibristik lernen, Seiltanzen, Balanceakt, auf Nägeln laufen, aber das Wort faszinierend ansetzen, das können Sie, oder das können Sie nicht.
Wird das ,faszinierende Wort‘ durch bestimmte Stoffe, Inhalte bedingt?
Wenn der Mann danach ist, kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikoschwitz und das Ganze ist doch ein Gedicht. Und wenn der Mann nicht danach ist, dann können die Ehegatten ihre Frauen und die Mütter ihre Söhne und die Enkel ihre Großtanten im Lehnstuhl oder im Abendfrieden vielstrophig anreimen und selbst der Laie wird bald merken, daß das keine Lyrik mehr ist.
Geht das gegen jede Trivialliteratur?
Ein Schlager von Klasse enthält mehr Jahrhundert als eine Motette.
Was bleibt als Maßstab, nur noch das Interessante?
Interessant – das ist ein wichtiges Wort! Interessant – das führt nicht in diese undurchsichtige quälende familiäre „Tiefe“, nicht sofort zu den „Müttern“, diesem beliebten deutschen Aufenthalt. Nach meiner Theorie müssen Sie Verblüffendes machen, bei dem Sie am Schluß selber lachen. Scharlatan – das ist kein schlimmes Wort, es gibt schlimmere: historisch und grundsuppig.
Form, Ausdruck, Artistik – Was drückt denn der Ausdruck aus? wird gefragt. Was transportiert er? Erhebt er? oder einfältig: gibt es das denn: reine Form?
Stimmung und Gesinnung sind die Eckpfeiler der kleinbürgerlichen Poesie… Die Kunst in Deutschland, immer nur achtzehntes Jahrhundert: Vorstufe der Wissenschaft, Erkenntnismöglichkeit zweiten Ranges, niedere sinnliche Anschauung des reinen Begriffs. Hier ist man nicht für Formen, für Konturen, Plastizität, hier muß alles fließen, Heraklit der erste Deutsche, Plato der zweite Deutsche, alles Hegelianer…
Der große Dichter ist ein großer Realist, sehr nahe allen Wirklichkeiten – er belädt sich mit allen Wirklichkeiten… Hinter einem modernen Gedicht stehen die Probleme der Zeit, der Kunst, der inneren Grundlagen unserer Existenz… Aber Lyrik wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt autochthon macht, ihn trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht. Eine isolierte Form, eine Form an sich, gibt es ja gar nicht… Kunst ist nicht etwas Geisteswissenschaftliches, sondern etwas Körperliches.
Wie meinen Sie das: „Kunst ist etwas Körperliches“?
Kunst ist nach der einen Seite ihrer Phänomenologie hin ein Befreiungs- und Entspannungsphänomen, ein kathartisches Phänomen, und diese haben die engste Beziehung zu den Organen. Kunst ist ein zentraler und primärer Impuls.
Anscheinend genügt das heute nicht als Erklärung für die Notwendigkeit der Kunst…
Der Kampf gegen die Kunst entstand nicht in Rußland und nicht in Berlin. Er geht von Plato bis Tolstoi. Er ging immer von den mittleren Kräften außerhalb, aber auch innerhalb des Künstlers gegen die selteneren… Wer Schriftsteller ist, hat oft die Maler beneidet, sie können Orangen malen und Asphodelen, und niemand wirft ihnen vor, daß sie das soziale Wohnungsproblem nicht hineinverweben, aber an allem Schriftlichen hat offenbar die Gewerkschaft Rechte –: asozial, das ist das Wort: „Die Kunst muß.“ Es ist wohl vergeblich, darauf hinzuweisen, daß Flaubert die schmerzliche Lage der Künstler schilderte, die durchaus nicht alles machen können, was sie fühlen und möchten, sondern allein das, was ihnen innerhalb ihres Sprach- und Stilvermögens verliehen war.
Ich könnte heute hinzufügen, daß ich die Kunst für viel radikaler halte als die Politik: in einer Gestalt führt sie eine Gesellschaftsschicht zu Ende, mit einem Satz übergibt sie ein Jahrhundert seinem nächsten Ziel, sie allein, nicht die Politik reicht bis in jene seelischen Schichten hinein, in denen die wirkliche Wandlung der menschlichen Gesellschaft sich vollzieht…
Zum Schluß noch eine Frage an Sie. Glauben Sie, daß sich unsere geistige Lage durch Rückgriffe, Rückblicke sanieren läßt? Ich persönlich glaube nicht an Restauration. Die geistigen Dinge sind irreversibel, sie gehn den Weg weiter bis ans Ende, sie haben eine Vehemenz, die die der physikalischen Dinge übertrifft. Darum müssen Sie Ihre Gedanken auf das rücksichtsloseste formulieren, immer wieder die Äste absägen, auf denen Sie nisten.
Ausgewählte Gedichte – Ausgewählte Zitate
Wir befinden uns im Zeitalter der Aphorismen und Anthologien, im Zeitalter der Offerte und des Reizangebots, der Schmackhaftmachung, der Erleichterung der schweren Dinge… keiner soll mehr an einer selbstbestellten und selbstbeurteilten Hauptnahrung herumkauen müssen. Zahnkaries ist ja der stigmatisierende Defekt der Zeit, also: kleine Bissen, vorgekaut, weichgekocht – und damit sind wir bei den lyrischen Anthologien.
Diese Sammlung versteht sich als Reizangebot. Einige von der Zunft anerkannte Gedichte sind auch hier nochmals aufgegossen – sie sind von keiner Zunft auszulaugen –, der Nachdruck gehört allerdings den interessanten Beispielen. Auch dieser Zitatenverschnitt – ich kann dies dort verwenden oder hier, ich färbe, ich verstricke, ich installiere – hat keine andere Absicht, als auf ein facettenreiches, widersprüchliches, gefährliches, aber immer kompromißloses Werk zu verweisten. Es gibt nicht so viele von seiner Sorte, daß man schafsgeduldig hinnnehmen kann, wie sich Probleme als im Stande der Jungfräulichkeit gerieren und durch Diskussionen nässen, die Formulierungen gefunden haben, die es wenigstens antithetisch aufzunehmen gibt – mit offenen Armen aufgenommen zu werden, würde mich bedenklich machen. Lösungen vermissen, hieße einem Botaniker vorwerfen, er liefere keine Rezepte für schmackhafte vegetarische Kost.
Kant – „kategorischer Imperativ“; Nietzsche – „Gehst du zum Weibe“; Benn – der mit den Nazis. So einfach geht das. Sowenig es genügt, Gesinnung vorzuweisen, genügt es, unter Berufung auf Gesinnung ein Werk zu diffamieren. Wer weiß schon, daß es bei Benn einen argumentativ souveränen Essay gegen den § 218 gibt? Oder ein Plädoyer für die Bewußtseinserweiterung durch Drogen? Der Entlarver der Geschichte war ein präziser Kenner der Geschichte; der Wissenschaftler hat die Wissenschaft auf ihre Bütteldienste verwiesen und die Poesiefähigkeit des wissenschaftlichen Jargons bewiesen; er hat scheinbar Entlegenstes hart nebeneinander gesetzt, in einen Satz zusammengezwungen, mit Analysen Ekstasen kalkuliert – summarischen Überblicken, Überblättern schafft manchmal einen leichten Rausch. Man überlasse ihn nicht der konservativen Kamarilla von Rychner bis Holthusen. Allerdings, wenn Benn Kunst sagt, dann meint er Kunst und nicht Kultur, nicht Humanität, nicht Moral, nicht Politik, nicht Engagement, nicht die Drogenfrage und nicht die Fristenlösung. Sicher, das hat was miteinander zu tun, alles hat irgendwie miteinander zu tun, es west alles in allem: die Tomate in der Schmalzstulle und der Registrator in der Klapperschlange… es ist genauso sinnvoll, als wenn man von einem Hecht sagte, der einen halben Meter lang ist, enthält jeder fünfzigste Teil einen Zentimeter Fisch.
Für Kritik und Anregung bei der Gedichtauswahl danke ich Jörg Drews, Antje Friedrichs, Andreas Kissling und Marguerite Schlüter.
Die Benn-Zitate – kursiv gesetzt – sind aus heterogensten Prosastücken montiert, im Wortlaut unverändert, aber zumeist stark verkürzt, ohne daß dies wissenschaftlich korrekt durch Auslassungszeichen markiert wurde. Für die, die das Ausmaß der Manipulation überprüfen wollen – und damit wäre eine beabsichtigte Wirkung erreicht –, sind die Quellen jeweils nach Band und Seitenzahl der vierbändigen Gesamtausgabe im Limes Verlag, 1959–1961, angegeben.
Für Anna Livia
Gerd Haffmans, Nachwort
Gerd Haffmans: Big Benn revisited
Wenn „Mann und Frau durch die Krebsbaracke“ gehen oder im „Tripper“ von myrtengrünem Eiter erzählt wird, schlägt mein Herz höher. Bitte jetzt nicht abschrecken lassen! Viele Leute sind geschockt oder reagieren verstört, wenn sie in Gottfried Benns Zeilen lesen. Doch Benn erzählt aus seinem Alltag als Arzt – und der ist nun einmal nicht immer weiß und schön. Immer wieder vermischen sich seine Visionen von der Liebe und dem Glück mit den harten Erfahrungen seiner täglichen Arbeit. Herausgekommen sind Gedichte, die mit nüchterner, fachlicher Sprache von Dingen berichten, vor denen andere gerne ihre Augen verschließen. Ich bin kein Fan der Form – bei Goethe und Schiller war sie mir oft zu dominant. Benn setzt bei seinen Werken auch auf die Form – doch läßt er den Inhalt darunter nicht leiden. Klar und prägnant sind die Bilder, die Deutung bleibt nicht verschwommen und fern. Und doch regt jede Zeile zum weiteren Sinnieren an. Wer auf Benns drastische Realität steht, sollte übrigens auch unbedingt die Geschichtensammlung Gehirne, welche unter anderem die bekannten Erzählungen um den jungen Arzt Rönne beinhaltet, anlesen! (Dies ist eine Amazon.de an der Uni-Studentenrezension.)
– Ein Lyriker unter medientechnischen Bedingungen. –
Benns Marburger Universitätsvortrag über Probleme der Lyrik, dem ein Briefwechsel mit Ernst Robert Curtius die Stichwörter geliefert hatte, gipfelte im Begriff des „absoluten Gedichts“. Lyrik figurierte als „schöpferische Transformation“, als „Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selbst als Inhalt zu erleben und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden“. Was an Benn-Gedichten vorlag, erfuhr also eine universitäre und näherhin philosophische Sprachregelung, der die literaturwissenschaftliche Rezeption, zumal im Zeichen Heideggers, denn auch gefolgt ist, wenigstens solange die sehr deutsche Konstellation von Dichten und Denken nicht durch Sozialisationstheorien oder Psychoanalysen abgelöst wurde.
Nur können weder eine Geschichte des Seins noch eine der Psyche die Textbefunde klären, daß Benns Vortrag erstens mit einem Hinweis auf Gedichte in Sonntagszeitungen begann, wo sie „durch gesperrten Druck und besondere Umrahmung auffallen“, und zweitens den behaupteten Inhaltsverfall in medienhistorischer Schlichtheit vorführte: Lyrisches „Ich von heute“, also Pseudonym des Vortragenden selber, hieß jemand, „der mehr aus Zeitungen lernt als aus Philosophien, der dem Journalismus näher steht als der Bibel, dem ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette“. Wenn aber Zeitungen und Schlager, laut Benn noch ergänzt um Fremdwörter und „Slang-Ausdrücke“, die „zwei Weltkriege in das Sprachbewußtsein hineinhämmerten“, den Vorrat an Stoffen oder Daten abgeben, den die „schöpferische Transformation“ namens Lyrik verarbeitet, sind Gedichte, dem Absoluten denkbar fern, relativ auf zeitgenössischen Medien oder Technologien. Recht behält Heidegger, der zu Benns Problemen der Lyrik nur anzumerken hatte, daß „schöpferische Transformation“ eher Weltraumsatelliten als Gedichte hervorbringt, eben darum aber die Bennsche Poetik dem Wesen der Technik unterstellt.
Diese Technik war machtvoll, ja autoreferenziell genug, aus Problemen der Lyrik sofort wieder Lyrik zu mache Ein ziemlich gleichzeitiges Gedichttyposkript überführte Vortragsprosa in freie Rhythmen und ein lyrisches Ich in Lagebestimmung überhaupt. Im Kleinen Kulturspiegel verkündete Benn:
Ein Schlager von Rang ist mehr 1950
als fünfhundert Seiten Kulturkrise.
Im Kino, wo man Hut und Mantel mitnehmen kann,
ist mehr Feuerwasser als auf dem Kothurn
und ohne die lästige Pause.
Die „fünfhundert Seiten Kulturkrise“ spielen bekanntlich aufs „Lebenswerk“ eines Philosophen an: Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München 1947. Moderne Literatur kündigt den klassischen Pakt mit Philosophie, einfach weil andere Zeitgenossenschaften Vorrang erlangt haben – Filme an zweiter Stelle und Schlager von Rang, also Radioschallplatten, an erster. Während der Pakt zwischen Dichtern und Denkern wohl auf einer allgemeinen Alphabetisierung beruhte, in die das uralte Schriftmonopol zur Goethezeit übergegangen war, setzen Gedichte von 1950 die Konkurrenz technischer Medien von vornherein voraus. 1877 und 1891 haben zwei Entwicklungen Edisons, Phonograph und Kinetoskop, das Schriftmonopol auf serielle Datenverarbeitung durchbrochen, Bewußtseinsindustrien etabliert und der Literatur nur einen Raum offen gelassen, den Remingtons nicht zufällig gleichzeitige Schreibmaschine besetzen konnte – einen Raum eher semiotechnischer als schöpferischer Transformationen. Weshalb die Mechanisierung von Schrift auch zum Problem der Lyrik aufrückte. Benn konstatierte in einer Schlußbemerkung, die ihm zwar „nicht zustand“, aber der medientechnischen „Vollständigkeit halber“ kaum fehlen durfte:
Ich persönlich halte das moderne Gedicht für nicht vortragsfähig […]. Ein modernes Gedicht verlangt den Druck auf Papier und verlangt das Lesen, verlangt die schwarze Letter, es wird plastischer durch den Blick auf seine äußere Struktur.
Benns Poetik verfährt also (mit Luhmann zu reden) als Ausdifferenzierung innerhalb eines Mediensystems: Seitdem das Grammophon Klänge oder Geräusche, das Kino Bildsequenzen oder Farben speichern kann, muß Literatur auf die Fiktion sinnlicher Datenflüsse verzichten und eine neue, schreibmaschinelle Materialgerechtigkeit entwickeln. Mochten einst Romantiker von einem Lied träumen, das in allen Dingen schläft, die Probleme der Lyrik übrigens im Gefolge der Freudschen Traumdeutung wissen es besser: „Farben und Klänge gibt es in der Natur, Worte nicht.“ Gedichtworte kommen vielmehr als „ganz was Trockenes“ aus den „leeren, hohlen Röhren“, in deren Bild ein „stummer“ und „schon vor“ seiner „Schreibmaschine zitternder“ Benn die Tasten beschreibt. So direkt hat Remington (nach der Einsicht McLuhans) Schriftstellerpraxis und Druckerpresse verschaltet. Während der Icherzähler von Weinhaus Wolf nur darum nicht, wie erträumt, Schriftsteller wurde, weil man dazu „vor allem seine eigene Handschrift lesen können muß“, war Dr. med. Benn, obwohl mit derselben déformation professionnelle geschlagen, über goethezeitliche Handschrift und Relektürepflicht immer schon hinaus. 1916 in der Weltkriegsetappe veranlaßte er, um seinem Verleger Typoskripte liefern zu können, abendliche Mißbräuche von Heeres-„Dienstgegenständen“, 1936 verließ er gleichzeitig zwei Freundinnen einer Offizierswitwentochter zuliebe, die trotz oder dank ihrer beklagten Unbildung „200 Silben“ pro Minute tippen konnte. Weshalb sie als Ehefrau mit der (von Eckermännern zu Sekretärinnen gewanderten) Aufgabe debütierte, ausgerechnet den Handschreiber von Weinhaus Wolf auf Maschinenschriftstandards zu bringen.
Diese Unbildung übrigens war eine Rückkopplungsschleife von Arbeits- und Freizeitmedien. „Im Grunde“, schrieb Benn über seine künftige Frau und Sekretärin bis zum Weltkriegswinter 1945, „ist nichts drin als ihr Beruf, dann die Mutter, dann ihre Sachen, dann Schallplatten, etwas Tanzen u. dann wieder ihr Beruf.“ Kaum anders hatten Kracauers Angestelltensoziologie und ihre romaneske Fortschreibung, Irmgard Keuns Kunstseidenes Mädchen, die Stenotypistin auf den Begriff gebracht. Weil ihr Schreibmaschinenalltag sämtliche Reden (nicht anders als bei Benn) in schwarze, diskrete Lettern zerlegte, blieben als abendlicher Trost nur Fluchten ins Filmbilderkontinuum oder gar, bei Keuns Romanheldin, lyrisch-tänzerische Dichterwerdungen auf der Basis von Radioschlagern. Das kunstseidene Mädchen sang mit, erfand leicht alkoholisiert neue Schlagerzeilen und tippte das Ergebnis auch noch als autobiographischen Roman. Zur technischen Wiederkehr dieser ältesten – oralen, auswendigen und physiologischen – Lyrik wurde der deutsche Zivilrundfunk (wenn man von Gründen der „Staatssicherheit“ absieht) 1923 ja geschaffen. Das Speichermedium Schallplatte erhielt, nach McLuhans Gesetz, daß der lnhalt eines Mediums immer ein anderes Medium ist, sein adäquates Übertragungsmedium und in Angestellten, Frauen, Ungebildeten eine statistisch gestreute Adresse. Immer wenn Benn über Jazz oder Schlager im Radio schrieb, gehörten die Apparate realen oder fiktiven Frauen.
Sehr anders das Gedicht aus schwarzen Lettern. Es hat erstens keine Adresse außer der Muse oder philosophischen Deutern. Es ist zweitens „unbesoldete Arbeit des Geistes“, die Summa summarum nach Benns „numerischem Kalkül“ zwischen 1913 und 1926 im Monatsdurchschnitt „vier Mark fünfzig“ eingebracht hat. Grund genug, im selben Jahr 1926, nachdem die heikle Urheberrechtsfrage an Radio-Sendungen eben geklärt war, Benn-Gedichte erstmals in der Berliner Funkstunde auszustrahlen. Grund genug, ab 1931 die eigene, ebenso poetische wie politische Machtergreifung vor allem (mit einem Titelwort Bronnens) als Kampf im Äther zu betreiben. Von diesem Antennenrausch kam Benn erst wieder zurück, als im September 1933 eine Rundfunkübertragung seiner Gedichte ohne Angabe von Gründen abgesetzt wurde. Auch an ihm bewahrheitete sich das kultusministerielle Wort, obsolete Schriftsteller dürften nach Belieben weiterdrucken, nur kein Sendemonopol brechen.
Diese Rahmenbedingungen definieren Benns Gedichte genauer als seine Poetologie. Auch Berufungen auf Georges Typographiekult können nicht verdecken, daß diese Lyrik mit Übertragungs- und nicht mit Speichermedien konkurrierte. Unter den Einschränkungen eines reinen Medienkonsumenten beantwortete Benn, der „von Buchkunst und Buchdruck“ einbekanntermaßen „nichts verstand“, die Frage seines Prologs zu einem deutschen Dichterwettstreit: „Wer fixt per Saldo kessen Schlager raus?“ Hören Sie also, auch wenn lyrische Akustik unstatthaft sein soll, die sechs Strophen von „Melodien“:
Ja, Melodien – das verbleicht der Frager
er ist nicht mehr der Zahl- und Citymann,
die Wolken stäuben über seinem Lager,
die Ozeane schlagen unten an.
Manchmal sind Zebras oder Antilopen
im Busch des Njassaflusses auf der Flucht,
alles ist sanft, leichtfüßig, aus den Tropen
kommt Dunst, die Trommel und entrückte Sucht.
Und Eruption und Elemente
die denken noch viel länger her:
die fünf berühmten Elemente
nur hinderliche Masse für das Meer.
Du bist nicht früh, du bist nicht später,
wahrscheinlich, daß du gar nichts bist,
und nun Sibelius’ Finnenlied im Äther:
Valse triste.
Alles in Moll, in con sordino,
gelassenen Blicks gelassener Gang
von Palavas bis Portofino
die schöne Küste entlang.
Ja, Melodien – uralte Wesen,
die tragen dir Unendlichkeiten an:
Valse triste, Valse gaie, Valse Niegewesen
verfließend in den dunklen Ozean.
Auch dieses Gedicht, sicher nicht unter den „sechs bis acht“, die laut Problemen der Lyrik ihren Schreiber überdauern, macht doch, wie im gleichen Vortrag verkündet, die Gedichtproduktion selber zum Gedichtinhalt. Nur nicht im Sinn von George, Curtius oder auch Oelze, dessen „Bremer Ästhetizismus“ Benn „bestehn“ machen wollte „vor Honorationen und Olympiern“. Das Dichterwerden folgt vielmehr dem Modell kunstseidener Schreibmaschinenmädchen, die nach einem Wort Kracauers nicht eigentlich alle „Schlager kennen“, sondern von ihnen gekannt, eingeholt und sanft erschlagen werden. Deshalb schrumpft das Du der Selbstadresse zu einem Nichts oder Medium, das „Melodien und Lieder“ nach einem Gedicht Benns für den Boxer und Wirt seines Stammlokals – k.o. geschlagen haben. Deshalb läuft die Melodie als Schallplatte „im Äther“, wobei Benn „beinahe davon ausgehen kann“, daß Musik, „die [ihn] tief erregt, keine erstrangige Musik im Sinne der Produktion ist.“
Soviel zur Konsumelektronik als lyrischer Initialzündung. Weil aber die technische Tonspur, also Unterhaltungsmusik, seit 1927 nach parallelen Bildsequenzen, also Tonfilm, ruft, blendet die zweite Strophe auf ein Afrika über, dessen Provoziertes Leben genauso medial übertragen wurde: „Vor Jahren“, beginnt Benns gleichnamiger Essay, „lief in Berlin ein Film, ein Negerfilm Hosianna, in dem sah man Schwarze dadurch, daß sie gemeinsam sangen, in Rausch geraten.“ Klartext der ersten Strophe ist demnach Radio, Klartext der zweiten Tonfilm, woraus nach McLuhans Gesetz schon die Vermutung folgt, daß die dritte Strophe über Wegeners Kontinentaldrift das dritte und letzte Medium übertragen muß.
Ein Benn-Gedicht feierte die Berliner Staatsbibliothek, seine Bücherquelle der zwanziger Jahre, denn auch als „Satzbordell, Maremme, Fieberparadies“, weil „schon summarisches Überblicken, Überblättern“ – ganz wie in Filmkindertagen – „manchmal einen leichten Rausch schaffte“.
Summa summarum ist Lyrik vom Typ Melodien der Konsum ihrer sämtlichen Medienquellen, die sie assoziationstechnisch ausschreibt, bis das kalte Medium Schrift mit Schlagern von Klasse konkurrieren kann. Zeilen wie „Und nun Sibelius’ Finnenlied im Äther“ zitieren nachgerade das Konsumversprechen einer Radioansagerin genau jene Stimme, die Benns Gedicht Radio immer dann vermißt, wenn auf allen „Sendern (Mittel-, Kurz-, Lang- und Ultrawelle)“ nur „Professoren“ über „,die Wissenschaft als solche‘“ sprechen. Weil lyrische Kleinbürger wie Benn dagegen „auf Surrogate angewiesen sind“ – „Radio, Zeitungen, Illustrierte“ –, geht die Pseudomorphose an Unterhaltungsmusik weit hinaus über die 0ffenkundigen Schlagerreime, Tourismusorte und Modefremdwörter im Gedicht „Melodien“ und anderen: Benn, als würde er Sibelius und keine Wörter ansagen, schrieb eine Valse triste. (Um von Titeln Chanson, Bar, Entfernte Lieder, Banane, yes, Banane zu schweigen.)
Daß ein Lyriker seine Texte (mit einer lectio facilior) „Songs“ nennen konnte, hat ihren Erfolg gemacht. Als Medium eines Mediums eines Mediums übertrugen Verse Radioplattenübertragungen. Beim Hinterhofzimmer der Belle-Alliance-Straße, das seinem Biographen für einmal soziale Assoziationen eingibt, assoziierte Benn eher mediensozial – ein „oft belauschtes Musikcafé“, das „sich in [diesen] Hof ergoß“. Die Produktionsbedingungen der Bozener Straße brachte er gar auf die technische Formel dreier Tische: Erster Tisch, im Stammlokal, um als materialistische Bestimmung von Inspiration „Flaschen und abends etwas Funk“ zu „erleben“. Zweiter Tisch, im Sprechzimmer, um tags darauf den Radioempfang mit unleserlicher Arzthandschrift zu „kritzeln“. Dritter Tisch, ebenda, aber mit Mikroskop und Schreibmaschine, um Gekritzel schließlich ins „Objektive“ von Typoskripten zu überführen. Das Ganze lief offenkundig als Medienverbund in drei hinreichenden und notwendigen Programmschritten: erstens Kontaktierung einer Datenquelle, zweitens Akquisition von Daten über den etablierten Kanal, drittens Abspeicherung in einer Datensenke – anders, kürzer und mit einer Prosa gesagt, die die Geistesgeschichte nicht zufällig um Radardenker bereicherte: „Peilen, loten, horten“.
Von diesem Radardenker könnte die Literaturwissenschaft nur lernen, schon weil die (noch im Poststrukturalismus tragenden) Modelle Buch und Bibliothek heute eine Formalisierung nötig hätten. Literatur, was sie auch an Inhalten haben mag, ist zunächst einmal Datenverarbeitung: Sie empfängt und speichert, prozessiert und überträgt Information. Eine Logik wie bei Computern, die ja nicht nur (nach Worten des Radardenkers) alles „Gedankliche“ oder Philosophische durch Automatisierung erledigen und den unmöglichen Wunsch seiner Radioästhetik, „Buchstaben in Töne umarbeiten“ zu können, wirklich erfüllen. Sondern weil die Kybernetik Daten, Adressen, Befehle in formaler Eleganz implementiert, wäre es möglich, auch und gerade in historischer Absicht, Literaturen mit Schaltungsmodellen zu beschreiben. Erst nach Gutenberg, als Bücher dank übereinstimmender Seitenzahlen eindeutige Adressen hatten, konnte das Barockdrama unterm Befehl eines Fürsten und Widmungsempfängers zwei Speicher, die historischen Daten und die rhetorischen Figuren, erschöpfend kombinieren. Erst nach der allgemeinen Alphabetisierung Mitteleuropas konnte eine Landschaft Eichendorffs, wie Alewyn zeigte, den Datenfluß einer optisch-akustischen Natur mit Wörtern so perspektivieren, daß die adressierten Leser oder Leserinnen diese Lichter und Klänge selbst zu haben glauben. Und erst bei Benn, im Zeitalter von Film und Grammophon, schrumpfte solche Autorschaft zu dem Spottsatz, „heutige Gedichte entstünden nicht in einem weinerlichen Gemüt bei einer Sonnenuntergangsstimmung“. Nur schloß der Ausschluß von Anschauung – etwa in der geographischen Unmöglichkeit, gelassenen Gangs die Strecke von Palavas bis Portofino zurückzulegen – keineswegs aus, Gedichte weiterhin als Landschaft, nämlich als Medienlandschaft zu schreiben. Nachdem Gott selber mit seiner Hörspiel-Stimme hinter dem Vorhang verkündet hatte, daß „der Nachrichtenaustausch der heutige Kosmos der weißen Erde ist“, blieben auch kaum andere Optionen. „Radio“, erläuterte 1944 der Roman des Phänotyp, „ist der Natur weit überlegen, es ist umfassender, kann variiert werden“. Und in der Tat: Variable Abstimmkondensatoren, bei aller Einschränkung durch Volksempfänger und Abhörverbote, machten es ja erst möglich, von der „,Wissenschaft als solcher‘“ umzuschalten auf Schlager- oder Frauenstimmen. So ersetzten Sender als neue Fundgrube für Lyrik, Sonntagszeitungen als laut Benn notwendige „Fundgrube“ für Essayistik die Tresore barocker Daten und Figuren oder auch den „tiefen Schacht des Ich“, aus dem Hegel alle Gedächtnisinhalte alphabetisierter Subjekte aufsteigen sah. Um den Preis allerdings, jeden „Ernst der Dinge“ oder die Philosophenannahme zu liquidieren, daß die Dinge „eingegrabene Züge, Befehlsbestimmungen, Kaperorders tragen“ d.h. an ihnen selber schon Adressen haben.
Mit anderen Worten: Erst das Medienzeitalter ermöglichte zugleich einen statistischen Begriff vom Realen und einen operativen vom Symbolischen, das ja bei Lacan nur noch Markoff-Kette, also Funktion über einer stochastischen Streuung war. Die schreibmaschinelle Statik der Statischen Gedichte setzte voraus, daß sie (wie es in einem Oelze-Brief hieß) auch „statistische Gedichte“ waren. Einerseits „eine große Kartei, in der alles drinsteht“, ohne allerdings Sachadressen zu haben, andererseits eine Prozedur symbolischer Datenverarbeitung, die mit offenkundigen Shannon-Zitaten „Entropien umkehrt und in fortgesetzter Zeugung und Vermehrung des Unwahrscheinlichen und Kompliziert-Geordneten weiter das Äußerste leistet“. Einerseits Wehrmachtsstatistiken, Benns Funktion beim OKW in Berlin, andererseits Information als Umkehrfunktion von Wahrscheinlichkeit oder Rauschen.
Das Rauschen im Realen hat der frühe Benn bekanntlich durch Räusche produziert, die aber eher Versuchsanordnungen seines Psychiater-Chefs Theodor Ziehen waren. Figuren wie Rönne oder Pameelen assoziierten so lange zu abgehörten Kasinogesprächen, bis die Wörter der Umgangssprache jede Referenz (die sogenannte Welt) und jede Adresse (den sogenannten Menschen) einbüßten, um nurmehr als sinnlose und neurophysiologische Daten zu glänzen. Gesteuert aber wurde diese Wörterproduktion, ganz wie in Ziehens Jenenser Ideenassoziation des Kindes von 1898, durch Befehle eines Psychiaters, der dem Probanden Pameelen mit seiner Peitsche „Weiter!“ kommandierte. So direkt standen expressionistische Texte, wie Benns Prolog 1920 formulierte, „vor dem Problem der Gleichförmigkeit des psychischen Geschehens, ja vor des Frankfurter Rektors Assoziationsversuchen an seinen Schülern und der einfach stupenden Einförmigkeit von Reaktion und Qualität“. Aber der Rausch experimentalwissenschaftlicher Diskursproduktion konnte kein Lebenswerk tragen. Im selben Text, der den Räuschen der Jugend absagte, um statt dessen einen „Tag ohne Besonderheiten“ zu visieren, fand die Radio- und Schallplattenakustik der Bozener Straße erste Erwähnung. Rundfunk lieferte auch unter Alltagsbedingungen, also ohne Versuchsanordnung und Assoziationstest, Wörter in stochastischer Streuung, befreit von Referenzen und Adressen (außer einer numerischen Senderkennung). Daß moderne Gedichte aus Wörtern gemacht sind, Wörter aber in der Natur nicht vorkommen, zwang zur Umstellung der Datenquelle auf Alltagsmedien.
O-Ton Benn über den Lyriker von 1954:
Er sitzt zu Hause, bescheidene vier Wände, er ist kein Kommunist, aber er will kein Geld haben, vielleicht etwas Geld, aber nicht im Wohlstand leben. Also er sitzt zu Hause, er dreht das Radio an, er greift in die Nacht, eine Stimme ist im Raum, sie bebt, sie leuchtet und sie dunkelt, dann bricht sie ab, eine Bläue ist erloschen. Aber welche Versöhnung, welche augenblickliche Versöhnung, welche Traumumarmung von Lebendigen und Toten, von Erinnerungen und Nichterinnerbarem, es schlägt ihn völlig aus dem Rahmen, es kommt aus Reichen, denen gegenüber die Sonne und die Sterne Gehbehinderte wären, es kommt von so weit her, es ist: vollendet.
Das klingt zunächst nach Musikkonsum oder „l’art pour l’art“, wie Benn einwandte. Aber nicht Kunst, sondern eine Medienlandschaft, genauso analysabel wie bei Eichendorff, wird Thema. Der Beweis: daß jene gesendete Stimme nicht etwa erlöscht, weil Komposition oder Gedicht zu Ende wären, sondern weil es Drehkondensatoren gibt. „Ich aber“, verrät die einzige Parallelstelle bezeichnenderweise aus Benns erstem Hörspiel, „greife in die Nacht, eine Stimme ist im Raum, ich drehe das Radio weiter, sie bebt, dann bricht sie ab, eine Bläue ist erloschen“. Der Lyriker selber produziert also stochastische Streuungen von Diskursen und einen Zeigarnik-Effekt, der Wörter als Materialitäten und Speicherbarkeiten gerade dadurch herstellt, daß sie vor einen Hintergrund technischer Abwesenheit treten.
Benns Gedicht mit dem ausdrücklichen Titel „Radio“ beginnt zum Beispiel ungefähr so: Titel. Anführungszeichen. Die Wissenschaft als solche. Ausführungszeichen. Neue Zeile. „Wenn ich derartiges am Radio höre, bin ich immer ganz erschlagen.“ Der lyrische Sprechakt, mit anderen Worten, schneidet einfach eine Kultursendung ab, noch bevor der Rundfunksprecher sein Eingangsstatement zu Ende gebracht hat. In Fällen sozusagen negativer Interzeption reicht es hin, den Abstimmkondensator oder noch einfacher die eigene Aufmerksamkeit umzustellen. Auch Benn, der bloße Medienkonsument, experimentiert schon in Richtungen, die William Burroughs dann mit der Präzision eines Ingenieurs erforschen sollte. Sein Projekt einer Elektronischen Revolution basierte bekanntlich nicht mehr auf Rundfunk, sondern auf dem im Zweiten Weltkrieg entwickelten Tonbandgerät, das erstmals jedermann zum Aufnehmen, zum Schneiden und schließlich zum Rückkoppeln all jener offiziellen Stimmen befähigte, die von Burroughs’ Cut up buchstäblich zerstört werden sollten. Demgegenüber demonstriert Benns Kunstmetaphysik von „Immer und Nie“, Präsenz und Absenz, „Valse gaie und Valse Niegewesen“ nur die speicherlose Flüchtigkeit von Sendungen oder „Streifen“, die nach Auskunft seines Schumann-Gedichts immer dann entstehen, „wenn wir ans Radio greifen“. „It’s here and then it’s gone“, wie Mick Jagger über Radioliebe sagte. Was unvermeidlich das Problem des Todes aufwirft.
Alle Medien – Klaus Theweleits Buch der Könige zeigt es für Benn und andere Schriftsteller – sind immer auch Hadesfahrzeuge, die Totenreiche einer Kultur, ihre „Traumumarmungen von Lebendigen und Toten“, also jeweils koextensiv mit Übertragungstechniken. Mehr als zwei Jahrtausende lang, wie Diodor von Sizilien bemerkte, hatte nur die Schrift den Toten ein Gedächtnis unter den Lebenden gesichert. Heute aber haben all diese Geister oder Gespenster die Bücher verlassen, sie werden Radiowellen, Ektophotographien oder, wie Roger Waters sang, „a gunner’s dying voice on the intercom“.
Das heißt aber sehr konkret: Übertragungsmedien stammen aus Kriegstechnologien. Das Unverhältnis zwischen Benns praktischen Radioexperimenten und seinem allzu theoretischen Radardenken reflektiert nur den Abgrund zwischen kommerziellem Konsum und militärischer Optimierung ein und derselben Medientechnik. Deshalb macht es laut Benn keinen Unterschied, ob „die Zerstörung“ des menschlichen „Raums“ durch „Radiowellen“ oder „durch Flugapparate“ geschieht. Seit dem Zweiten Weltkrieg läuft der Funkverkehr mit Flugapparaten ja über eben diese Radiowellen. Weshalb Benn schon 1940 eine denkbar genaue Vorhersage auch des Dritten Weltkriegs liefern konnte:
Das alles ist ja Vorspiel, ein Vorkrieg. Der nächste sammelt die Erdteile in eine Hand, ob die Hand weiss, gelb oder niggerbraun sein wird, wissen die Götter, aber es wird nur noch ein Zentrum geben u. die Stratobomber mit 1000-1500 km Geschwindigkeit pro Stunde u. einem Radius von einem halben Dutzend von Äquatoren sausen durch die eiskalten, blauen, steinernen Räume in den lautlosen Explosionen der Atomzertrümmerung. Gehn wir ein Pilsener trinken u. dann schlafen!
Solche Prophezeiungen waren keine kritische Theorie des Krieges. Im Gegenteil, Benn wußte sehr wohl, daß „der Geist durch die Schlachten“ entbunden wird und daß folglich nicht Denker, sondern „erlebnisreiche Experten der Raketenentwicklung und der Flammstrahlbomben“ die wahren Nachbarn der Dichter sind. „Diese Verzahnung der Geschichte und der geistigen Welt“ trieb ihn, einmal im faschistischen 1933 und ein zweitesmal im Weltkriegsjahr 1941, in das eminent faschistische Risiko, auf Radiokanälen Befehlsgewalt über Präsenz und Absenz, Leben und Tod überhaupt auszuüben. Das zeigt schon der schlichte philologische Vergleich zwischen den zwei Fassungen eines berühmten Gedichts, das Heideggers gleichermaßen berühmter Kommentar noch nicht erschöpft hat.
Im Friedensjahr 1929 schrieb Benn ein Gedicht mit dem überaus autoreferenziellen Titel „Schöpfung“.
Aus Dschungeln, krokodilverschlammten
six days – wer weiß, wer kennt den Ort –,
nach all dem Schluck- und Schreiverdammten:
das erste Ich, das erste Wort.
Ein Wort, ein Ich, ein Flaum, ein Feuer,
ein Fackelblau, ein Sternenstrich –
woher, wohin – ins Ungeheuer
von leerem Raum um Wort, um Ich.
Im Kriegsjahr 1941, während Benn als hoher Offizier in der Berliner Bendlerstraße, also beim Oberkommando der deutschen Wehrmacht Dienst tat, erfuhr das Gedicht eine Umschrift. Die erste Strophe über Natur, Evolution unstetige Übergänge vom Tier zum Menschen verschwand selbstredend. Zu Zwecken des OKW behielt Benn nur die zweite Strophe bei, diese lyrische Vorwegnahme eine Radiostimme, deren naturferner, nämlich diskreter Ein- und Ausschaltvorgang seinen (ein paar Jahre zuvor entdeckten) Zeigarnik-Effekt aufs Gedächtnis erzeugt.
EIN WORT
Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffren steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
Auf den ersten Blick sind die Unterschiede zwischen den zwei Fassungen minimal. Beide Versionen definieren das eine und einzige poetische Wort, wie Benn es aus dem Johannes-Prolog bezog, als ein Spiel zwischen Präsenz und Absenz, Einschalten und Ausschalten. (Drei Jahre zuvor hatte der große Mathematiker Claude Shannon eine erste, noch nicht computerisierte Implementierung von Booles Schaltalgebra auf der Basis simpler Relais entworfen und ein in der ganzen Technikgeschichte einzigartig nutzloses Spielzeug gebaut, das nur in Ein- und Ausschalten bestand. Aber zwischen 1929 und 1941 änderte Benn die meisten Wörter, die Metaphern für das eine und einzige Wort abgeben. Flüge oder Flugzeuge ersetzten den Flaum, Flammenwürfe das Fackelblau –: der klassische Fall lyrischer Aufrüstung. Im selben Jahr schrieb Benn an einen Freund: „Sie wissen, ich zeichne: Der Chef d. Oberkommandos der Wehrmacht: Im Auftrage Dr. Benn.“ Schon deshalb muß er unter den wenigen Deutschen gewesen sein, die über den Stand von Kriegsrüstung und Waffenprojekten Bescheid wußten. Auch seine Kriegskorrespondenz kam auf diese Fakten immer wieder zurück. Nun lief aber seit dem Herbst 1939 bei der Messerschmitt A.G. das Geheimprojekt eines ersten Düsenjägers der Technikgeschichte, der dann Mitte 1944, während Benn den Roman des Phänotyp schrieb, als Bomber Me 262 A-2 und als Jäger Me 262 B-2 in Serie ging – bemerkenswerterweise in denselben Geheimwerken, die auch die V2 als erste Flüssigkeitsrakete der Technikgeschichte produzierten. Von Düsen oder gar Jets war allerdings noch keine Rede: die Entwicklung lief unter dem Titel Strahlbomber, während das Unding namens Flammstrahlbomben, das Benn in einem Atemzug mit der Rakete nannte, nur ein Tippfehler gewesen sein kann. Im Licht dieser Konjektur entsprächen die Flammstrahl- oder Stratobomber in Benns Prosa, wo sie durch eiskalte, blaue; steinerne Räume eines Dritten Weltkriegs fliegen, technisch genau den Chiffren Flug und Flammenwurf im Gedicht, das ja einen ebenso leeren Raum beschwört.
So ist die „Verzahnung“ von Raketenexperten und Dichtern, von Sputnik-Vorläufern und „schöpferischer Transformation“ philologisch gesichert, um ihr düsteres Licht auf eine Poetik zu werfen. 1939 hatte das Propagandaministerium statistisch bewiesen, daß Rundfunk als neues Medium totaler Mobilmachung das sogenannte „Führungsvakuum“, also den durch Führerbefehle nicht adressierbaren Bevölkerungsanteil auf vier bis fünf Prozent gesenkt hatte. Zur selben Zeit planten Stäbe der US-Navy ein Forschungsprojekt mit dem Ziel, Orson Welles’ Hörspielsimulation eines Raketenüberfalls vom Mars in eine Radiotechnik allgemeiner Mobilmachung zu überführen. Wenn Lyrik imstande sein sollte, mit derart strategischen Übertragungsweiten zu konkurrieren, müßte sie die Sonne zum Stehen bringen und alles im Weltraum durch ihren Befehl ballen oder bannen. Genau das aber behauptet Benns Umschrift der ersten Strophe. Nicht zufällig identifiziert sie das absolute oder endgültige Wort mit einer „Chiffre“, also mit einem Begriff, der trotz all seiner romantischen Konnotationen im Zweiten Weltkrieg einen präzisen militärischen Sinn hatte. Ganz wie das Geheimfunksystem der Wehrmacht, das Blitzkriege überhaupt erst möglich machte, in einer Verschlüsselungsschreibmaschine namens Enigma gipfelte, so auch Benns Poetik. In der Absolutheit ihrer verschlüsselten Radiobefehle konnte die Übertragung von Gedichten es mit Blitzkriegen aufnehmen. Denn alle Daten, alle Adressen und alle Befehle implodierten in einem einzigen Wort.
Nur diese technologische Ekstase von 1941 erklärt, wie Benns neue und nur zu verständliche Nachkriegsbescheidenheit, fortan mit Schlagern von Klasse zu konkurrieren, zustandgekommen ist. Sie setzte nicht einfach den Abschied von Dezisionismus oder Faschismus voraus, sondern schlichter und technischer, eine neuerliche Trennung zwischen Daten, Adressen und Befehlen.
Im Frühwerk lagen die Daten bei Alltagsgesprächen, die Adressen bei einem assoziierenden Gehirn und die Befehle bei einem „Herrn Doktor“, der mit seiner Peitsche Wörter oder Texte buchstäblich hervorrief. Die Radiolyrik übertrug eine Miniatur dieser Befehlsfunktion auf einen Konsumenten, der Sendungen anstellen und wieder abstellen konnte. Benns zweites und letztes Hörspiel dagegen tritt alle Macht an einen Gott ab, der frei nach Joseph Conrad als Stimme hinter dem Vorhang auftritt und folglich über zwei Glocken verfügt. „Die hellere heißt: schneller, nicht so viel Details, die sonore: etwas langsamer, mehr Vertiefung“. Denn weil Gott von der Bühne verschwunden ist, also wiederum nur „im Dunkeln tun [kann], was“ er kann, bleibt ihm einzig der akustische Kanal, um seinen Versuchspersonen vor dem Vorhang ein Accelerando oder Ritardando ihrer endlosen Assoziationen zu befehlen. Nicht anders wollte Ziehen 1898 zur experimental psychologischen „Feststellung des Vorstellungsablaufs und seiner Geschwindigkeit unter besonderen Bedingungen (Ermüdung u.s.f.)“ gelangen, was auch die Peitschendrohung bei jeder Ermüdung Pameelens erklärt. Aber wo Benns erster Chefpsychophysische Labors und Jenaer Schulklassenzimmer benutzte, hat Benns letzter Gott ein technisches Medium. Die Stimme hinter dem Vorhang ist ein Hörspiel im Quadrat – ein Hörspiel, das seine Trennung von Befehlen und Daten, Regieraum und Senderaum noch einmal als solche sendet. In einer reinen Hörwelt, wie Nietzsche als Philosoph der Medien sie beschrieb und Richard Hughes im ersten Radiohörspiel durch Bergwerkskatastrophendunkel auch implementierte, in einer reinen Hörwelt muß selbst der optische Kanal zwischen Regie- und Senderaum durch Glocken ersetzt werden, um wieder sendbar zu sein. Aber statt Regie oder Befehl für seine Worte zu beanspruchen, bleibt der Hörspielautor Benn bescheiden wie seine Doppelgänger vor dem Vorhang: ein Subjekt oder Untertan des Mediums.
Als Radiokonsument jedenfalls hatte er das Machbare erreicht. Andere am Regiepult sendeten seine Essays, Hörspiele, Gedichte, ja sogar Plattenaufnahmen der Lyrikerstimme. Eine Rückkopplungsschleife zwischen Output und Input war geschlossen, vor allem wenn die Stimmen vor dem Vorhang eine Gedichtherstellung aus Schlagern oder Sonntagszeitungsnotizen öffentlich vorführten. Auch der Traum des Gedichts „Radio“, dieser Hörerwunschpost nach Frauenstimmen statt Wissenschaft, ging dabei in Erfüllung (wenn anders Hörerwunschpost nicht schon seit 1923 ein Traum der Postministerien war). Summa summarum schließlich konnte Benn, der von „Spezialisten, zum Beispiel von Hörspieldichtern“ wußte, „daß sie von einem Hörspiel von einer Stunde Dauer ein Jahr leben und sich sogar Straßenfahrzeuge mit Motorantrieb und Eigenheim beschaffen“, das Problem von Summa summarum lösen: Hatten einst „die Nazis doch alles besetzt, wo es zu verdienen gab u. mich aus Rundfunk usw. gestrichen“, so erwarben Sender der Adenauerzeit Benn-Manuskripte „für die höchste Summe, die je für 1/2 Stunde Literatur gezahlt wurde. Also in der Richtung wäre es ein Erfolg“.
Einen Tag nach seinem siebzigsten Geburtstag gab der Radiolyriker, der Fernsehen nur ein einzigesmal, im Hörspiel-Gedicht über den Tod eines amerikanischen Zeitungsmoguls erwähnt hatte, dem Sender Freies Berlin sein erstes TV-Interview. Zwei Monate später war er tot.
„Die Himmel wechseln ihre Sterne – geh!“
Die Medien wechseln ihre Sterne – geh!
Friedrich Kittler, manuskripte, Heft 106, 1989
– Eine 50er-Jahre-Reminiszenz. –
Warum liest wer was wann? Weshalb und von wem wußte der sechzehnjährige Oberschüler im verschlafenen Göttingen der 50er Jahre, daß er Benn gelesen haben mußte, wollte er auf der Höhe der Literatur seiner Zeit sein?
Und das wollte er. Bloß nicht die rundum niederziehende Provinzialität auch noch durch die Lektüre provinzieller Literaten verdoppeln. Provinziell aber kam uns heranwachsenden Kunstjüngern – einer Handvoll von Mitschülern der Oberstufe – so gut wie alles vor, was uns an zeitgenössischer Literatur aufgetischt wurde, vom späten Bergengruen bis zum jungen Böll: Wie wertvoll das alles, wie abendländisch-chrisdtlich, wie überraschungsfrei! Wie unmodern mit einem Wort, wie grundverschieden von Hemingway und Faulkner, Sartre und Camus, T.S. Eliot und Ezra Pound, bei deren Lektüre man sich mit der Kunst jener glücklicheren Kulturkreise verbunden wußte, in denen die Moderne seit ihren Anfängen um die Jahrhundertwende ununterbrochen weitergekämpft und gesiegt hatte.
„Man muß absolut modern sein“ – kannten wir das schneidende Postulat des jungen Arthur Rimbaud? Auf jeden Fall hätten wir vorbehaltlos dem zugestimmt, was unser Altersgenosse rund achtzig Jahre zuvor einem Brieffreund zugerufen hatte und was uns nun überall dort eingetrichtert wurde, wo man in Deutschland den abgerissenen roten Faden der Moderne neu knüpfte, auf der ersten documenta von 1955, in Kellertheatern und Filmkunststudios.
Der Bürger mochte die heimischen Produkte für Kunst halten, unsereins wußte es besser. So, wie man nicht in zeitgenössische deutsche Filme ging, las man Mitte der 50er auch keine der zur Zeit gängigen deutschen Autoren, mit zwei Ausnahmen: Arno Schmidt und Gottfried Benn. Man – denn ich scheue mich, „ich“ zu sagen. Zu sehr waren meine damaligen Wertungen ein Widerschein jener Leuchtfeuer, die rings signalisierten, wo es gerade lang ging; wobei ich kaum zu sagen wüßte, welche Botschaften ich damals wahrzunehmen in der Lage war: Was lag eigentlich an Zeitschriften und Zeitungen im „British Center“ aus, was in der Göttinger Stadtbücherei? Was bliesen mir die Rundfunksender der Nachtstudios in die Ohren? Wann las oder hörte ich das erste Mal etwas von Gottfried Benn?
Genug der Mutmaßungen – rasch ein Bück auf die Eckdaten der unglaublichen Gottfried-Benn-Revival-Story, die sich in den ersten Nachkriegsjahren abspielte: Zwölf Jahre lang, zwischen seinem 50sten und seinem 60sten Geburtstag, hatte der Dichter nichts veröffentlichen dürfen, zuerst als Kulturbolschewist verschrien, später als Mitläufer eingestuft, dann, seit 1948, erscheinen in nicht abreißender Folge Gedichte, Prosa und Autobiographisches. Bis zu seinem Tode 1956 zählt man 21 Veröffentlichungen, darunter sieben Gedichtbände. Allein 1949 kamen sechs Benn-Titel auf den Markt, hymnisch begrüßt vom tonangebenden Kritiker Friedrich Sieburg:
Erst Benn ist es gelungen, diesem letzten Rückzug auf sich selbst eine süße, fast schluchzende Sangbarkeit zu geben.
Warum Mitläufer oder Mittäter der vorangegangenen Epoche, seine Herolde Sieburg und Holthusen beispielsweise, Benn auf den Schild hoben, wurde um so deutlicher, je überschaubarer die Nachkriegszeit sich im Rückblick darbot. Da hatte man – Benn eingeschlossen – kräftig dazu beigetragen, die Karre in den Dreck zu manövrieren, und nun, da sie darin stak, wollte es keiner gewesen sein. Statt dessen wurde die Existenz von Karre, Dreck, Geschichte, ja jedweder Realität schlicht geleugnet und der gescheiterte Täter zum heldischen Opfer stilisiert:
Es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Eine heroisierende Attitüde, für die auch der Heranwachsende dann nicht unempfänglich war, wenn er sich in seinem leidvoll erfahrenen Anderssein angesprochen fühlte: „Einsamer nie als im August“ – genau wie ich! – „Wo alles sich durch Glück beweist / und tauscht den Blick und tauscht die Ringe“ – und macht nach der Schule auch noch die Rotraut an, zu der ich nicht einmal den Blick zu heben wage – „im Weingeruch, im Rausch der Dinge –:“ – oder im Freibad beim schamlosen Eckzeck-Haschmichspiel, Rotraut, ach Rotraut! – „dienst du dem Gegenglück, dem Geist“ –: ein „du“, das der Lesende nur zu gern auf sich bezog. Mochten die da zeitverfallen durchs Wasser tollen – ich diente höheren Zielen. Nein: wir! Der große Gottfried Benn und der kleine Robert Gernhardt Arm in Arm gegen die Weiber und die Spießer dieser Welt!
Doch dieser heroische Benn war keineswegs der ganze. Von Publikation zu Publikation offenbarte der Dichter immer neue, verwirrende, manchmal verstörende Facetten, da steigende Nachfrage und undurchsichtige Verlagspolitik zu einem regelrechten Benn-Puzzle führten. In kunterbunter Reihe folgte beispielsweise auf Fragmente. Neue Gedichte von 1951, ein Jahr später der Band Frühe Lyrik und Dramen, tauchte also neben dem sechsundsechzigjährigen Heldentenor –
Bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich
– unvermittelt der sechsundzwanzigjährige Straßensänger Benn auf:
Europa, dieser Nasenpopel
Aus einer Konfirmandennase
Wir wollen nach Alaska gehn.
Das traf den Kleinstadtschüler ins Mark: Nimm mich mit, Gottfried Benn, auf die Reise! Und der Doktor kannte noch andere, noch unerhörtere Routen:
O Nacht! Ich nahm schon Kokain
Und Blutverteilung ist im Gange.
Das waren keine Reisen mehr, das waren schon regelrechte Trips:
O Seele, futsch die Apanage
Baal – Bethlehem, der letzte Ship,
hau ab zur Augiasgarage,
friß Saures, hoch der Drogenflipp
– reimt der Benn des Jahres 1922; ein verbaler Clip, den ich 1955 mit heißen Ohren las, ebenso wie
Schlächterrote Moose
in Lianengewirrn,
wahllos fallen die Loose –
ach Afrika im Hirn
da zappte sich einer bedenkenlos durch die Wallungswerte der Worte, das war trotz der dreißig Jahre, die seit der Erschaffung solcher Bilderfluchten vergangen waren, absolut modern, und ihr Schöpfer, der 1912 seine erste Gedichtsammlung Morgue veröffentlicht hatte, der 1919 mit acht Gedichten in Kurt Pinthus’ legendärer Anthologie Menschheitsdämmerung vertreten gewesen war – dieser Benn war nicht nur einer der Dichterväter der Moderne, sondern nach wie vor ein moderner Dichter, auch in seinen späten Gedichten. Neben rauschhaftem – berauschtem? – Dunkel
Zerstörungen –
o graues Siebenschläferwort
mit Wolken, Schauern, Laubverdunkeltheiten
finden sich in seinen Gedichten glasklare Zeilen, die es wie einst im Mai darauf anlegen, den Bildungsbürger zu schrecken:
Ein Schlager von Rang ist mehr 1950
als 500 Seiten Kukurkrise
las der Schüler ein wenig konsterniert: Hatte man ihm nicht beigebracht, Schlager als Inbegriff der Unkultur zu verachten? Und wie vertrug sich das mit jenen Werten, die konservative Lehrer und christlich-soziale Politiker dem jungen Menschen predigten: „dumm sein und Arbeit haben: / das ist das Glück.“ – ?
Doppelleben, so hatte der vielgesichtige Dr. Benn einen autobiographischen Text aus dem Jahre 1950 betitelt, und als der frischgebackene Abiturient 1956 ins Leben entlassen wurde, da wußte er die Unübersichtlichkeit des bisher Erlebten nicht anders in Worte zu fassen, als dadurch, daß er Geist, Tonfall und Collagetechnik seiner Verse beim vielstimmigen Dichter Benn entlieh:
Wohin man sieht: Zerbrochne Konturen
Eiris sazun idisi.
Habe nun ach, ich kann nicht anders.
Nicht mitzuhassen, mitzulie.
Robert Gernhardt, konkret, Heft 22, 1997/98
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt, Merkur, Heft 18, August 1949
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt (II), Merkur, Heft 19, September 1949
Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957
L.L. Matthias: Erinnerungen an Gottfried Benn, Merkur, Heft 171, Mai 1962
Nico Rost: Begegnungen mit Gottfried Benn, Merkur, Heft 218, Mai 1966
Nino Franks Bericht über seinen Besuch bei Benn, Merkur, Heft 398, Juli 1981
Walter Aue: „Das ist Bahia, am Meer“. Wege zu Gottfried Benn
Norbert Hummelt: Auf einen Sprung zu Gottfried Benn
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Gottfried Benn
U
aaaa(gerumpftes gespräch mit benn)
grub
seine aster in satz ergab
raster für kunden palmen
u satzbau deutlich stärker aber
der puff wenn er im weißen
blieb: eines sehnervs, eines triebs.
substantive hingehallt, dann
abgestürmt u wusste doch
ein dritter schaut dir immer zu
bierfahrer war der nicht als jemand
ins gedicht versteckt. später
u lieber gärtner geworden?
white german male wühlte –
hyper hypo thalamam – an einer
unbeobachteten stelle gesprenkelt
wie ein labrador, es ist ja keine dichtung
in welchen graden der vernichtung
man die dinge sieht. so der saft
der 33 floss. sanftes hundeohr
das über boden strich wär er
manchmal gern gewesen? hellblaue
blumen müssten es sein, doch er fand die
richtigen sandalen nicht. ach u: der
irrsinn der gärten floriert, nichts
schönt am ende die haut
Ulrike Draesner
GOTTFRIED BENN
Den Backenzahn
vom Wolfshagener
Freier trägt die
rote Dirn als Kopfband
um die Stirn
und
zwischen ihren Beinen
man meint es nicht
wirklich zu meinen
es gruselt einen
wie vorm Baskervill
sein Hund
hält die Dirn
zum buschigen Bund
sein schwarzes
Hinterbackenhaar
Peter Wawerzinek
Helmut Böttiger: Gottfried Benn – Kleine Aster und andere Gedichte
Gottfried Benn: Kleine Aster – Gedichte und Prosa. Ulrike Draesner und John von Düffel im Gespräch mit Anja Brockert am 21.01.2019 im Literaturhaus Stuttgart.
Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011
Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.
Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946
Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956
Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966
Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966
Bruno Hillebrand: Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod
Neue Deutsche Hefte, Heft 110, 1966
Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976
Jürgen P. Wallmann: „Der Ruhm hat keine weissen Flügel“
Die Tat, 30.4.1976
Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976
Heinz Friedrich: Plädoyer für die schwarzen Kutten
Merkur, Heft 30, 1976
Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986
Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986
Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006
Jörg Drews: Das Gegenteil von ,gut gemeint‘
Tages-Anzeiger, 4.7.2006
Cornelius Hell: Persönlich, poetisch, politisch
Die Furche, 29.6.2006
Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.
In der Wirt
Schafft
Drei Stufen hinab
Der Bold noch eins
Ihn friert nicht
Im dimmten Licht
Auf dem Bierdeckel ein Gedicht
Sieht er aber nicht
Seine Glasaugen
Tanzen den uralten Tanz
Vater der Hirte
Schafft
Drei Stufen hinab
Der Bold noch eins
Er sieht ihn nicht
Im dimmten Licht
Der Hirte liest das Gedicht
Leise ihm ins Gesicht
Seine Wasseraugen
Wässern jetzt ganz
Gemeinsam die drei Stufen hinauf
Gehen sie schweigend nach Haus