[Auf der Rückseite des ersten Typoskripts erläutert Benn die ersten Zeilen des Gedichts: „Fußnoten zu umstehenden Gedicht (hochgezüchteter Intellectualität) für Nicht-Philosophen und Nicht-Humanisten
1) Die Menschheit ist zu Ende, die Erde ist fertig; die Schöpfung wendet sich neuen Räumen und neuen Verwandlungen zu (eines meiner Grundgefühle in Anbetracht der völlig entleerten, ausgelaugten Rassen u. Gehirne)
2) Ptolemäus, ein griechischer Philosoph und Geograph, schuf das erste geographisch-kosmische Weltbild: die Erde im Mittelpunkt. Dies galt bis Copernikus u Galilei –, nun drehte sich die Erde um die Sonne. Alles blödsinnige physikalische Hypothesen. Seelisch blieb bis heute Ptolemäus das Gefühl: der Mensch nahm sich zentral wichtig.
3) Quartär: unser Zeitalter, der Mensch ohne Haarkleid, mit Technik, der Nach-affe – jetzt vorbei u. zu Ende, s. Nr. 1.
4) Styx: der Totenfluss.“
Benn an F. W. Oelze am 21. November 1946: „Erlaube mir, ohne wichtigtuerisch sein zu wollen, darauf hinzuweisen, daß in „Quartär“, letzte Strophe, es Geschichte heisst, nicht Geschichten, Sie verstehen. Ich bitte gehorsamst, das Wort zu unterstreichen, d.h. es soll – in jener fernen Zukunft, wenn sie die Gestirne herbeiführen sollten – gesperrt gedruckt werden.“]
Wie traurig, wenn die Sendung endet
u meistens endet sie zu [schnell] früh/jäh
Eben Gesänge, hin u hergewendet
Jazz, Tangos, Schlager, Blue in Bleu
G. B., Nachlaß
… wollen wir von dem Radioabend bitte nicht weiter sprechen. Verfehlte Sache, blamable Situation. 1) war die Zeit zu kurz für das Thema 2) hatte Herr B., als er 10 Minuten vor Beginn kam, alle Abmachungen verändert, kein Stichwort gebracht, war nicht zu bewegen, bestimmte schärfere Formulierungen zu bringen. Ich wollte fortgehen, blieb aber schließlich wegen Monnaie u. wegen der Scandalvermeidung. Lohnt ja garnicht. Nächstes Mal besser, aber nicht mehr am Radio, peinliches Milieu.
Gottfried Benn an Thea Sternheim nach dem Rundfunkgespräch mit Johannes R. Becher, 7. März 1930
1934/35 konnte ich mich wirtschaftlich in der Praxis nicht mehr halten. Die Nazis hatten doch alles besetzt, wo es zu verdienen gab u. mich aus Rundfunk usw. gestrichen, auch die aerztlichen Posten alle annectiert.
Gottfried Benn an F.W. Oelze, 21. Juni 1941
Für den Stuttgarter Sender hier im Rias Gedichte zu sprechen habe ich abgelehnt, Gedichte müssen gelesen werden, ihr graphisches Bild gehört dazu, ihre Länge, ihr Druck u.s.w. – die Zeit der Rhapsoden ist vorbei u. die Minnesänger sitzen jetzt an der Schreibmaschine.
Gottfried Benn an F.W. Oelze, 22. August 1948
Ich könnte höchstens eine Bemerkung machen, die mir nicht zusteht, die ich aber der Vollständigkeit halber nicht unterdrücken möchte, nämlich, daß ich persönlich das moderne Gedicht nicht für vortragsfähig halte, weder im Interesse des Gedichts, noch im Interesse des Hörers. Das Gedicht geht gelesen eher ein. Der Aufnehmende nimmt von vornherein eine andere Stellung zu dem Gedicht ein, wenn er sieht, wie lang es ist, und wie die Strophen gebaut sind. […] Ein modernes Gedicht verlangt den Druck auf Papier und verlangt das Lesen, verlangt die schwarze Letter, es wird plastischer durch den Blick auf seine äußere Struktur, und es wird innerlicher, wenn sich einer schweigend darüberbeugt. Dies Darüberbeugen wird notwendig sein, ich zitiere hierzu einen französischen Essayisten, der kürzlich über die moderne französische Lyrik schrieb. Er sagt: ich finde keinen anderen Ausdruck, um diese Autoren in ihrer Gesamtheit zu charakterisieren als den, daß sie alle schwierige Dichter sind.
Gottfried Benn aus Probleme der Lyrik, 1951
Ich wurde persönlich sehr aufmerksam behandelt, Schallplatten, Radiointerviews, das schönste Zimmer im Hotel, Blick über das Meer u eigenes Bad.
Gottfried Benn an F.W. Oelze, anläßlich der Dichter-Biennale in Knokke, 17. Oktober 1952
Das Hörspiel hin oder her – ob Repertoire- oder Experimentierstück, ob statistisch oder politisch – eines wird immer das Entscheidende sein, daß es das gewisse Etwas hat, diese gewisse Faszination, die allerdings die Kunst von allem übrigen unterscheidet. In dieser Richtung erlaube ich mir, meinen jungen Kollegen zu sagen: Wir sind dem Rundfunk großen Dank schuldig. Er ist die einzige Institution, die sich für die Literaten interessiert, die ihnen Verdienstmöglichkeiten gibt. Insofern bitte ich die jüngeren Kollegen, sich die Anregungen anzueignen, die wir erhalten haben. Ich glaube, es wird sich lohnen, und ich glaube, daß das Hörspiel der Zukunft im Kommen ist.
Gottfried Benn anläßlich einer Hörspieltagung, Stuttgart 1952
Meinen Sie wirklich, die Leute wollen so etwas im Radio hören?
Gottfried Benn schüttelte sanft, aber nachdrücklich das Haupt, legte den Kugelschreiber in den aufgeschlagenen blauen Leinenband mit seinen Essays.
Gerade „Urgesicht“ ist ein schwieriger Text, wann habe ich ihn geschrieben?
Er schlug nach.
1929, eine ganz andere Zeit, ein anderes geistiges Klima, ein anderer Ton.
Ich saß ihm in seinem Zimmer in der Bozener Straße 20, Berlin-Schöneberg, gegenüber. Es muß zwischen 1950 und 1956 gewesen sein. In diesen letzten sechs Jahren seines Lebens machte ich die Rundfunkaufnahmen mit ihm, die seither zu seinem Werk gehören, denn es ist doch so etwas wie eine Dimension mehr, seine Prosa und seine Verse von ihm selbst gelesen zu hören.
Ich versuchte – wieder einmal – seine Bedenken gegen „einen Auftritt beim Radio“ zu überwinden.
Der NWDR würde gern Ihr „Urgesicht“ senden, Herr Dr. Benn, denn hier sagen Sie besonders eindringlich, was für Sie das Wesen der Dichtung ist: „Vollendung und Faszination“.
Ich sage es nicht, Herr Koch, ich schrieb es. Und ich weiß manchmal gar nicht, ob ich es wirklich selber bin oder war, der das alles schrieb. Manchmal könnte ich schwören, daß ich bestimmte Sätze gar nicht kenne, die von mir gedruckt worden sind. Also…
Wir kannten uns inzwischen ganz gut. Er wußte, daß ich nicht ablassen würde, ihn zu einem Aufnahmetermin ins kleine Berliner Funkhaus des NWDR (Nordwestdeutscher Rundfunk) am Heidelberger Platz zu locken. Und ich wußte, daß er sich gern bitten ließ, schließlich aber doch kam.
Zierte er sich? War er im Grunde schüchtern? Hatte er tatsächlich eine Abneigung dagegen, sich zu produzieren? „Ich bin kein Matador“, hatte er geschrieben, wiederholte es oft. Seine Welt war dieses Zimmer im Erdgeschoß eines Miethauses in Schöneberg, mit den Fenstern zum Hof; auch wenn man dicht herantrat, sah man kaum ein Stück Himmel.
Oder war auch dies ein Teil seines „Doppellebens“, daß er einerseits das trübe graue Licht dieser „Praxis“ im zerbombten Berlin liebte, andrerseits aber von Zürich und New York, der Südsee, Dänemark und Paris träumte? Sich exotische Valeurs aus aller Welt „heranflimmerte“?
Gewiß, er war ein Pfarrerssohn aus der ostelbischen Provinz – in seinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs… Aber hatte er nicht als junger Schiffsarzt bereits den Atlantik überquert? Und war er nicht geradezu ein Teil der „goldenen zwanziger Jahre“ in Berlin gewesen?
Wohl hatte er nicht mit Zuckmayer, Erich Kästner, Döblin im Romanischen Café gesessen, Bertolt Brecht nicht kennengelernt. Aber er war befreundet mit Tilly Wedekind, Else Lasker-Schüler, Renée Sintenis, Klabund und schrieb für Paul Hindemith das Oratorium Das Unaufhörliche. Auch das Radio jener Jahre hatte ihn schon geholt. Die frühesten Gottfried-Benn-Tondokumente sind die „Totenrede für Klabund“ von 1928 und „Die Neue Literarische Saison“ aus dem Anfang der dreißiger Jahre.
Wenn er hinter seinem Schreibtisch saß, buddhahaft in sich versunken, den Blick unter schweren Lidern auf die über dem Bauch gefalteten Hände gerichtet, so stand doch ein kleiner Rundfunkempfänger in Reichweite. Aus vielen Bemerkungen entnahm ich, daß er aufmerksam die RIAS-Nachrichten hörte und sich gern auch von Jazz und leichter Unterhaltungsmusik berieseln ließ.
Nein, der Militärarzt in zwei Weltkriegen, der Facharzt für Haut- und Geschlechtsleiden am Berliner Belle-Alliance-Platz mit vielen Patientinnen aus dem „Milieu“, das war kein weltfremder Dichter, kein Spitzweg-Poet. Aber war er „modern“? Was man heute „medienbewußt“ nennen würde, publicity-geil und clever, das alles paßte nicht zu ihm. Der späte und große Ruhm nach langer und doppelter Diskriminierung erreichte ihn erst gegen die Mitte seines letzten Lebensjahrzehnts, im Alter von etwa 65 Jahren. Er hat ihn sicherlich genossen, las auch aufmerksam die Rezensionen und Dissertationen, schließlich war er ein Homme de Lettres.
An der Seite seiner jungen Frau, Dr. Ilse Benn, folgte er mehr und mehr auch Einladungen zu Vorträgen in einigen deutschen Städten. Aber er suchte das Rampenlicht nicht, war eher ein Problem für manchen Veranstalter, da er zu leise sprach und sich nicht auf Banketts oder Partys herumreichen ließ. Das ruhige Bier in der Eckkneipe mit höchstens einem oder zwei Gesprächspartnern war ihm allemal lieber, geheurer.
Ich weiß nicht mehr genau, wie oft ich ihn ins NWDR-Studio bekam. Vielleicht sechs-, siebenmal? Das ist nicht viel in sechs Jahren. Einige Male holte ihn der Kollege Günter Giefer zum RIAS, und gern arbeitete er mit Heinz Friedrich, den er persönlich schätzte. Der spätere dtv-Chef war damals der Redakteur des Nachtprogramms des Hessischen Rundfunks in Frankfurt.
Wie und in welchem Zusammenhang wurden die Benn-Texte seinerzeit im NWDR gesendet? Einige in der halben Stunde Berliner Feuilleton, die ich selbst redigierte, einige in anderen literarischen Programmen des Berliner NWDR-Funkhauses oder auch unseres „Mutterhauses“ in Hamburg. Es war, besonders Anfang der fünfziger Jahre, keineswegs so, daß alles auf die Wieder- und Neuentdeckung des fast vergessenen „Expressionisten“ Gottfried Benn wartete. Ich mußte um Sendezeit für ihn kämpfen.
Warum? Den Kulturoffizieren und Controllern der Besatzungsmächte galt er zunächst als halber Nazi, und erst mit der Souveränität der Bundesrepublik Deutschland 1955 erhielten auch die deutschen Rundfunkanstalten der drei Westzonen und West-Berlins (ausgenommen der amerikanische RIAS) unabhängige deutsche Leitungen. Wie sehr Gottfried Benn im kommunistisch regierten Teil Berlins und Deutschlands weiterhin abgelehnt, ja diffamiert wurde, beweist unter anderem eine Polemik gegen ihn und meine Benn-Biographie 1956 im SED-Blatt Neues Deutschland, auf die ich im NDR und in der Zeit antwortete.
Es gab zudem nichtpolitische Widerstände gegen Gottfried Benn im Rundfunk. Er ist nun einmal ein schwieriger Autor, und er wollte es sein. Popularität interessierte ihn nicht, war ihm zuwider und verdächtig. Sein Erstaunen über das Jahr um Jahr wachsende Echo auf sein Werk war nicht gespielt. „Jetzt übersetzen sie mich sogar schon ins japanische“, sagte er eines Tages und schob halb stolz, halb amüsiert ein Belegexemplar mit ausgewählten Gedichten in schönen Charakteren über den Tisch.
Der Rundfunk war in Deutschland in den ersten Nachkriegsjahren das führende, das wichtigste publizistische Instrument. Seine politische wie seine kulturelle Bedeutung können kaum überschätzt werden. Die Gründe liegen auf der Hand. Zunächst, Rundfunk war billiger als Zeitungen, Zeitschriften und Bücher; für zwei Mark im Monat konnte und durfte man alles hören, was der Radioapparat an Wellen empfing – rund um die Uhr.
Das Radio war aber zugleich auch schneller und unterhaltender als die Presse. Es war zudem weniger provinziell. In Berlin konnten wir hören: den RIAS, den NWDR, die Deutsche Welle, den einen oder anderen Sender der amerikanischen und der französischen Zone, die Sender der DDR, dazu die Programme der Amerikaner, Engländer, Franzosen, Russen. Nichts überwand die Isolierung und die Teilung Deutschlands und Berlins besser als die Radiowellen, und das war die entscheidende Aufgabe für den Rundfunk, gerade im Berlin der fünfziger Jahre und bevor das Fernsehen kam.
Rundfunk ist ein Massenmedium. Aber durfte, ja mußte in der damaligen Situation nicht gerade der Rundfunk auch etwas für die geistige Diskussion tun – grenzüberschreitend? Der NWDR bejahte diese Frage und richtete auf der Mittelwelle ein „Nachtprogramm“ mit hohem intellektuellen Anspruch ein, später ein „Drittes Programm“ über UKW.
Hier wurde auch Gottfried Benn gebracht. Lesungen von ihm, Auseinandersetzungen um ihn. Es wäre heute kaum noch vorstellbar, was mir 1956 eingeräumt wurde: in dreimal 45 Minuten sprach ich meine Gottfried-Benn-Biographie, die erst nach dieser Premiere im Rundfunk in Zeitschriften und als Buch erschien. 1954 sendete der Westdeutsche Rundfunk Benns Vortrag „Altern als Problem für Künstler“ in voller Länge.
Die einzige Diskussion mit Gottfried Benn über ein politisches Thema, die im Rundfunk kam, war ein NWDR-Nachtprogramm, das ich in Berlin mit ihm und Peter de Mendelssohn aufnahm. Ausgangspunkt war Benns provozierender Satz:
Die Armee war die aristokratische Form der Emigration.
Jüdische Emigranten wie Hermann Kesten sagten dazu: Eine skandalöse Bemerkung, die beweist, daß Benn seit seiner „Antwort an die literarischen Emigranten“, am 24.5.1933 vom Reichsrundfunk verbreitet, nichts dazugelernt hat.
Im Druckhaus Tempelhof residierte als britischer Kontrolloffizier Peter de Mendelssohn. Ich bat ihn um ein Gespräch, fuhr mit der S-Bahn hin und trug ihm meinen Gedanken vor: Ein Streitgespräch zwischen ihm und Benn im Nachtprogramm des NWDR. Er sagte sofort:
Einverstanden, wenn Sie den Ptolemäer dafür gewinnen; er mag, wie Sie wissen, uns Emigranten nicht besonders.
Dr. Ilse Benn, inzwischen meine Zahnärztin, lud zum Kaffee in die Bozener Straße. Ich hatte herausgefunden, daß der große Gottfried Benn in Gegenwart seiner liebenswürdig zurückhaltenden Frau zugänglicher war. Er häufte mir gern, vielleicht weil er mich zu dünn fand, einen besonders großen Löffel Schlagsahne auf den Pflaumenkuchen, ebenso meiner noch schlankeren Frau. Die Idee der Diskussion mit de Mendelssohn gefiel ihm überhaupt nicht. „Soso“, grummelte er, „hat sich der Herr Mendelssohn inzwischen geadelt. Ich habe nicht den Wunsch, mich mit ihm zu streiten. Alles, was ich zu dem Thema NS und so weiter zu sagen habe, steht in Doppelleben oder den anderen Sachen.“
Trotz Frau Ilse, Kaffee und Kuchen kam ich an diesem Nachmittag nicht weiter. Ich vermute, es war Benns treuer Verleger Max Niedermayer in Wiesbaden, der seinen schwierigen Autor bewog, am Ende meinen Vorschlag anzunehmen. Schließlich war Doppelleben gerade erschienen und konnte eine Promotion im NWDR, dem damals größten deutschen Rundfunksendenetz, gut brauchen.
Wir schrieben den 22. März 1950, und in einem der bescheidenen, behelfsmäßigen Studios des NWDR-Berlin, im sogenannten „Zahnärztehaus“ am Heidelberger Platz, empfing ich die beiden Kontrahenten: den 63jährigen Gottfried Benn und den 42jährigen Peter de Mendelssohn – ich war gerade 29 Jahre alt und konnte zum Thema Emigration nichts Eigenes beisteuern, von meinem 18. bis zu meinem 25. Lebensjahr war ich Soldat gewesen, unfreiwillig und ohne zu ahnen, daß es deutsche Schriftsteller wie Benn und de Mendelssohn überhaupt gab.
Die beiden Herren begrüßten einander förmlich-kühl, beide etwas beklommen, ich hatte das Gefühl, von einem Dreimeterbrett in dunkles und eiskaltes Wasser springen zu müssen. Die Aufnahme lief überraschend gut, nichts mußte wiederholt oder ergänzt oder herausgeschnitten werden. Benn las aus Doppelleben vor, verschanzte sich immer wieder hinter schon gedruckten Formulierungen; de Mendelssohn war ihm rhetorisch überlegen, formulierte spontan und frei, ließ aber stets seinen Respekt vor dem Gesprächspartner durchblicken, dessen literarischen Rang er kannte und anerkannte.
Es gab danach keinerlei ,gemütliches Beisammensein‘ oder dergleichen. Jeder war froh, die Veranstaltung mit Anstand hinter sich gebracht zu haben. Die Sendung hatte einen Erfolg, wie man es im Zeitalter der Telekratie einer Hörfunksendung nicht mehr zutraut. Zeitungskritiken erschienen, Hörer aus Ost- und Westdeutschland und Berlin schrieben. Peter de Mendelssohn hatte das wohl erwartet, Gottfried Benn äußerte sich nicht weiter. Sein Verleger war begeistert.
Ganz gewiß waren es nicht Honorare, die Gottfried Benn veranlaßten, einige seiner Texte im Radio zu lesen. Der inzwischen fast weltberühmte Autor bekam trotz all meiner Bemühungen nicht mehr als höchstens hundert Mark für eine Lesung, die allerdings nicht länger als 10 bis 15 Minuten dauerte. Benn lebte stets äußerst bescheiden. Er hat sich ja einmal sarkastisch über sein Einkommen aus literarischer Tätigkeit geäußert.
Nie fragte er vor der vereinbarten Aufnahme nach der Höhe des Honorars. Dennoch schickte er mir einmal – wie immer handschriftlich auf seinem Rezeptblock – eine Notiz folgenden Inhalts:
Lieber Herr Koch, ich muß Sie bitten, Ihre machtvolle Stellung einen Augenblick zu meinen Gunsten einzusetzen, indem Sie versuchen, mir einen Teil meines Honorars bald zukommen zu lassen, es dauert beim N.W.D.R. oft so lange (bis vier Wochen), wenigstens für mich, – andere kommen hin, schlagen schöne Themen vor und bekommen gleich einen großen Vorschuß, offenbar sind das größere Matadore als ich es bin. Ich würde Sie nicht belästigen, wenn ich nicht nach Kopenhagen fahren wollte und dazu finanzielle Vorkehrungen treffen müßte. Danke, Gruß, Ergebenheit, Ihr Benn (17.8.50).
Natürlich setzte ich sofort die „machtvolle Stellung“ eines jungen Redakteurs zu seinen Gunsten ein, besorgte das Geld, bestieg den Bus Richtung Schöneberg und brachte ihm das Honorärchen. Er war wie meine Mutter 1886 geboren, gehörte also zur Generation meiner Eltern, und allmählich entwickelte sich zwischen uns eine persönliche, vertrauensvolle Beziehung; Distanz blieb – seinerseits eine nachsichtige Skepsis, meinerseits eine Mischung aus Bewunderung und Opposition.
Am 19.9.1950 schickte er mir einen Rezeptblockzettel mit der Post:
Morgen werden Sie dreißig Jahre… Erhalten Sie sich uns! Ich vermute, Sie sind in Pyrmont, wo die Groß-Sultane der Programmgestaltung tagen – wenn Sie zurück sind, rufen Sie mich doch mal an…
Der Gruß ist insofern interessant, als er zeigt, daß Gottfried Benn durchaus Anteil nahm – einerseits an internen Rundfunkereignissen, andrerseits auch persönlich an einem Rundfunkredakteur und jungen Schriftsteller, der sich um ihn bemühte.
Wie könnte man die Art Gottfried Benns, eigene Texte vorzulesen, beschreiben? Seine Stimme war leise und ruhig, eindringlich und angenehm, weder zu hoch noch zu tief, er sprach nie eilig, nicht gepreßt, nicht forciert, eher undramatisch, etwas unterkühlt und distanziert, nie jedoch gleichgültig oder unbeteiligt. Er war gewiß kein geborener Rezitator, keine rhetorische Naturbegabung wie Thomas Mann. Wer Ohren hat zu hören, wird jedoch gerade von der Unvollkommenheit, von der unpathetischen Bescheidenheit seines Vortrags angerührt.
Seine stets spürbare tiefe Melancholie schwingt bei jedem Vers mit. Manchmal versucht er sie durch die Nüchternheit und Nachlässigkeit des berlinisch-märkischen Tonfalls zu verdrängen, zuweilen kommt dann sogar ein gewisses Näseln, eine Art „Kasinoton“ auf. So redete er auch im Gespräch. Er setzte sich am Mikrofon nicht akustisch in Positur. Zeilenfall und Interpunktion galten ihm nicht viel.
Zaghafte Versuche, mit ihm zu arbeiten, ihn das eine oder andere wiederholen zu lassen, gab ich bald auf „Ich spreche wie ich spreche“, beschied er mich. In dem Gedicht „Reisen“ gibt es die Zeile „… selbst auf den Fifth Avenuen…“ Benn sprach vorzüglich französisch – seine Mutter, Caroline Jequier, war eine Welschschweizerin –, aber er konnte kaum englisch. Also sagte er „Feifs Avenün“. Mein Korrektur-Vorschlag wurde mit einer leisen Handbewegung übergangen.
Manchmal, bei schlechtem Wetter, kam er im Taxi zur Aufnahme. Meistens spazierte er zu Fuß von der Bozener Straße zum Heidelberger Platz – ein älterer, „besserer“ Herr in Hut und Mantel, mittelgroß und rundlich. Er begrüßte auch den Toningenieur stets höflich mit Handschlag, saß lieber auf einem harten Stuhl als auf einem bequemen Sessel, korrekt mit Krawatte und weißem Hemd, dezent gestreiftem Einreiher, die Knöchel durch graue Gamaschen geschützt.
Am 3. Mai 1956 sendete der SFB mein allererstes Fernsehinterview: mit Gottfried Benn. Es war auch für ihn eine Premiere.
Wir saßen beide das erste Mal in unserem Leben vor einer Filmkamera. Sie war in meinem Berliner Büro aufgestellt, in einem großen hellen Raum, im Erdgeschoß einer Gründerzeitvilla, Berlin-Grunewald, Hubertusallee 26. In diesem Haus war das Berlin-Studio des Nord– und Westdeutschen Rundfunks untergebracht, dessen Leiter ich von 1954 bis 1960 war. Die 20-Millimeter-Kamera rasselte so laut, daß ich fürchtete, man werde keines unserer Worte verstehen. Die Fernsehsendungen waren 1956 in Deutschland noch nicht weit über das Versuchsstadium hinaus gediehen. Als ich diese meine erste Fernsehsendung machte, konnte ich nicht ahnen, daß dem Fernsehen später meine Haupttätigkeit gehören würde. Auch Dr. Benn fühlte sich vor dem Kameraauge gar nicht recht wohl. Als das Ding zu schnurren begann und irgend jemand „bitte“ rief, legte ich ihm instinktiv beruhigend meine rechte Hand auf sein linkes Knie. Ich bilde mir ein, es half. Mir ist in Erinnerung, wie es ihn amüsierte, daß der Tonmeister das Mikrofon in einer Vase mit Blumen versteckt hatte, die vor uns auf dem Tisch stand. So machte man das damals.
Natürlich drehte sich zunächst alles um Berlin. Die politisch absurde Sondersituation beherrschte damals unser ganzes Denken – oder jedenfalls einen übergroßen Teil davon. Auch Benn fühlte da sehr berlinisch-lokalpatriotisch. Er hätte seine letzten Lebensjahre in der Schweiz oder in Westdeutschland verbringen können. Er blieb.
Wir führten das Gespräch frei. Das ist insofern bemerkenswert, als Gottfried Benn nicht gern ohne Manuskript in der Öffentlichkeit sprach. Wie die Text-Nachschrift zeigt, formulierte er ausgezeichnet. Gern gebrauchte er das Wort „eigentlich“. Er hatte mehrere ganz typische Wendungen, mokierte sich über dies und das, aber recht indirekt. Charakteristisch auch sein „Also“; zum Beispiel in seiner dritten Antwort: „Also – man weiß nicht, was wird.“ Er war in guter Form, am Tage nach den für einen Siebzigjährigen doch erheblichen Strapazen des festlich begangenen Geburtstages. Niemand konnte ahnen, daß er schon zwei Monate später tot sein würde.
Der Begründer der Zeitungswissenschaft, Professor Emil Dovifat, bewahrte den 9-Minuten-Film vor dem Schicksal so vieler Fernsehbeiträge der ersten Jahr und führte ihn seinen Studenten als eine Art frühes „Classical“ des Fernsehinterviews vor. Für mich war es ein bedeutsamer Anfang. Es folgten neben vielen anderen: Bertrand Russell, Karl Jaspers, John F. Kennedy, Martin Luther King, Martin Buber, Jean Paul Sartre, Dag Hammarskjöld, Nehru, Chruschtschow, Arnold Toynbee.
An keinen dieser Männer habe ich eine so deutliche Erinnerung wie an Gottfried Benn, obwohl jeder auf seine Art wohl nicht weniger bedeutend war. Gewiß kannte ich Benn besser und länger, sein Werk, sein Leben haben mich stark beeinflußt. Aber es hatte noch einen anderen, sehr einfachen Grund: Ich mochte ihn gern.
Thilo Koch, Nachwort
Von einigen Umstellungen aus inhaltlichen Gründen abgesehen, folgt die Anordnung der Tondokumente dem Datum der Erstsendung. – Die Texte von Gottfried Benn werden nachgewiesen nach der von Dieter Wellershoff herausgegebenen dreibändigen Ausgabe der Gesammelten Werke, Frankfurt: Zweitausendeins 2003. Das Hörwerk weicht gelegentlich von den Schriftfassungen ab. – Ergänzend und um Lücken zu schließen, wurde die von Gerhard Schuster und Holger Hof herausgegebene siebenbändige „Stuttgarter Ausgabe“ der Sämtlichen Werke, Stuttgart: Klett Cotta 1986–2003, zu Rate gezogen.
Martin Weinmann
hat sein Publikum auch durch Rundfunkbeiträge erreicht und dabei, was er gerne erwähnte, ein schönes Zubrot verdient. Das ist in den Literaturgeschichten vermerkt und war bekannt. Im Zuge der Recherchen zu vorliegender Edition stellte sich heraus, daß ein veritables Hörwerk existiert – verstreut in den Archivnachlässen von Sendern, deren Namen heute kaum noch jemand kennt.
Benn hat das junge Medium Radio sehr früh und überraschend intensiv genutzt. Von 1927 bis 1934 war er durchschnittlich alle vier Monate Gast in einem Rundfunkstudio. Nach dem Krieg, von 1948 bis zu seinem Tod, sogar noch häufiger. Rund zwei Drittel dieser Tondokumente sind erhalten. Die Herausgeber der jüngst abgeschlossenen kritischen Benn-Ausgabe zögern nicht, die nun gehobenen Archivschätze einen „Meilenstein in der Benn-Forschung“ zu nennen.
Im Hörwerk spiegelt sich das ganze Œuvre: Vorträge, Lyrik-Lesungen, Reden, Interviews, Lesungen aus Neuerscheinungen, Selbstauskünfte, Prosastücke, Hörspiele, Podiumsdiskussionen und Essays. Es spricht eine ungemein wirkungssichere Stimme. In Debatten spielt Benn mit sicherem Gespür seine meist dem Gegner abgeknöpften Trümpfe erst aus, wenn der auf dem Tisch liegende Stich am größten ist. Auch die Essays haben solche Peripetien. Wie in einer Entladung prasselt dann ein Bilderguß nieder und schwemmt den aus den überquellenden Kisten des Zeitgeistes gefallenen Abfall in den Rinnstein.
Wandlungsfähig dosiert Benn seine Kontraste mit größter Sorgfalt. Er schürft im journalistischen Sprachmüll zielsicher nach lyriktauglichem Material und trägt, was er findet, Belcanto vor. Stimmt er seine kurzen, präzise kalkulierten Entrückungsgesänge an, hört man eine spröde, fast abwesend klingende Stimme. „Ich bin nicht innerlich“, gibt er zu Protokoll; und scheut zugleich das Pathos nicht – fein in Lakonie eingeschlagen, als wolle er es vor Verschmutzung schützen.
In Zusammenarbeit mit den Archiven beinahe aller öffentlichen Rundfunkanstalten erschließt die vorliegende Edition erstmals und in annähernder Vollständigkeit das Hörwerk Gottfried Benns.
Zweitausendeins, Klappentext, 2005
Sein Erscheinen war mehrfach angekündigt, aber wegen ungeklärter Urheberrechtsfragen immer wieder verschoben worden – nun endlich liegt es vor: Das Hörwerk 1928-1956 von Gottfried Benn. Auf einer MP3-CD oder zehn herkömmlichen CDs ist jetzt elf Stunden und neun Minuten lang die ungemein wirkungssichere Stimme des wohl bedeutendsten deutschen Dichters des 20. Jahrhunderts bei Lesungen seiner Lyrik und Prosa, bei Vorträgen, Interviews und Rundfunkdiskussionen zu erleben.
Diese von Robert Galitz und Kurt Kreiler (Archivrechte, Audioredaktion) und Martin Weinmann (Beibuch) verantwortete Edition versammelt erstmals wesentliche Radio-Tondokumente Gottfried Benns in bestmöglicher Restaurierung. Vorangegangen waren langwierige Recherchen nach erhaltenen Benn-Aufnahmen in den Archiven beinahe sämtlicher Rundfunkanstalten. Ohne die Rundfunkarchive wäre von der Stimme des Berliner Dichter-Arztes heute kaum mehr etwas zu vernehmen.
Dabei war Benns Verhältnis zum Medium Rundfunk ein durchaus zwiespältiges. Einerseits mokierte er sich über das „unvornehme Geschäft eines Radiovortrags“ und klagte, „Radio ist sehr gegen meine Neigung“, andererseits nutzte er es überraschend intensiv.
Rundfunkauftritte, das mögen Gründe für seine häufigen Auftritte gewesen sein, boten ihm nicht nur eine geschätzte Verdienstquelle, sondern auch einen wichtigen Zugang zur literarisch interessierten Öffentlichkeit. Immerhin war Gottfried Benn von 1927 bis 1934 alle vier Monate Gast in einem Rundfunkstudio, nach dem Krieg sogar noch häufiger.
Die frühesten in das Hörwerk aufgenommenen Tondokumente sind Benns „Totenrede für Klabund“ (1928) und der Vortrag „Die neue literarische Saison“ aus dem Jahr 1931. Die letzten Aufnahmen stammen aus Benns Todesjahr 1956: ein kurzes Interview des SFB zum 70. Geburtstag sowie seine Lesung der Gedichte „Nur zwei Dinge“ und „Quartär“.
Was Benn im Verlauf dieser fast 30 Jahre in den Äther sandte, war – neben seiner Lyrik – ein erstaunlich breites Spektrum an Themen. Dies gilt vor allem für die Zeit bis zur Machtergreifung Hitlers. Da sprach Benn zu Themen wie „Genie und Gesundheit“, „Der Aufbau der Persönlichkeit“ sowie „Der wissenschaftliche und der künstlerische Typ“.
Daß sich gerade diese Aufnahmen ebenso wenig erhalten haben, wie die politisch äußerst delikaten Äußerungen Benns in der legendären Berliner Funk-Stunde („Der neue Staat und die Intellektuellen“, 24. April 1933, und seine „Antwort an die literarischen Emigranten“, 24. Mai 1933) ist bedauerlich. Immerhin wurde sich Benn kurz darauf seines politischen Irrtums bewußt und zeigte dem NS-Regime fortan die kalte Schulter. Damit war für ihn an weitere Rundfunkauftritte nicht mehr zu denken.
So beginnt die eigentliche Benn-„Tonausbeute“, streng genommen, erst nach dem Zweiten Weltkrieg. 1948 liest Benn im SDR und SFB viele seiner Gedichte, 1949 kommt es zu einem ersten Rundfunkgespräch mit Thilo Koch (SFB). 1954 wird vom Schweizer Radio DRS Benns Rede „Altern als Problem des schöpferischen Menschen“ gesendet.
Von 1955 stammt die große Rundfunkdiskussion „Soll die Dichtung das Leben bessern?“ (NWDR) mit Heinrich Böll, Reinhold Schneider, Paul Schallück. Daß dem Hörwerk überdies Benns 1952 von Radio Bremen produzierten Hörspiele Die Stimme hinter dem Vorhang und Drei alte Männer, beide in der Regie von Kurt Westphal, integriert wurden, erhöht den historisch-dokumentarischen Wert dieser grandiosen Edition.
Damit alle Texte auch nachgelesen werden können, sind im Begleitbuch Verweise auf die entsprechenden Stellen in der im vergangenen Jahr bei Zweitausendeins in Frankfurt am Main erschienenen, von Dieter Wellershoff herausgegebenen dreibändigen Ausgabe der Gesammelten Werke Gottfried Benns angegeben.
Meinen Sie wirklich, die Leute wollen so etwas im Radio hören?
Gottfried Benn, der große Schwierige der deutschen Literatur, musste vor Aufnahmeterminen immer wieder überredet werden, ins jeweilige Studio zu kommen, um dort seine Texte ins Mikrophon zu sprechen.
Gottfried Benns Verhältnis zum Radio war nicht gerade unkompliziert. „Am Freitag“, so schrieb der Dichter und Arzt 1931 in einem Brief an den Komponisten Paul Hindemith und dessen Frau Gertrud, „betreibe ich wieder das unvornehme Geschäft eines Rundfunkvortrags“, setzte aber hinzu:
Schade, dass Sie nicht zuhören.
Noch 1949 konstatierte er, Radio sei sehr gegen seine Neigung. Diese von ihm bekundete Antipathie kontrastierte allerdings merkwürdig mit der Tatsache, dass seine Stimme mit ihrer präzisen Intonation häufig in diesem Medium zu hören war. Er nützte die Möglichkeiten des Rundfunks intensiv. Schließlich boten ihm seine Radio-Auftritte Zugang zur literarisch interessierten Öffentlichkeit, und die Honorare waren auch nicht zu verachten. Wörtlich sprach er von einem „schönen Zubrot“.
Die ganze Bandbreite seines Schaffens spiegelt sich in Benns Hörwerk: Vorträge, Lyrik-Lesungen, Reden, Interviews, Selbstauskünfte, Prosastücke, Hörspiele, Podiumsdiskussionen und Essays. Die letzte Aufnahme, eine Lesung seines Gedichts „Quartär“, entstand knapp vor seinem Tod im Jahre 1956.
Langwierige Recherchen waren notwendig, um herauszufinden, dass rund zwei Drittel von all diesem Material noch in den Bandarchiven öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten in Deutschland und der Schweiz vorhanden sind. Nicht erhalten geblieben sind bedauerlicherweise die Tonaufnahmen just jener Essays, in denen sich Gottfried Benn im Jahre 1933 als Sympathisant des Nationalsozialismus outete.
Kurz danach erkannte er seinen politischen Fehltritt und vollzog die ideologische Kehrtwendung. Nachdem er dem NS-Regime die kalte Schulter gezeigt hatte, war für ihn bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an Rundfunkauftritte nicht mehr zu denken. Der Großteil der erhaltenen Tondokumente stammt aus der Zeit von 1948 bis zu seinem Tod 1956.
Richtig wohl war dem Arzt und Lyriker vor Radiomikrofonen offenbar nicht: 1949 zumindest schrieb Gottfried Benn an seinen Freund F.W. Oelze, Rundfunk sei „leichte Kunst“, dort fühle er sich „fehl am Platze“ – und doch verhaspelte sich Benn in seinen Radiodiskussionen etwa mit Heinrich Böll oder Peter de Mendelssohn erstaunlich selten. Diese Gespräche und Interviews, aber auch Vorträge, Lyrik und Prosa sind nun auf einer MP3-CD (oder zehn normalen CDs) neu zu erleben (Gottfried Benn – Das Hörwerk 1928 – 56, Zweitausendeins, Frankfurt am Main): elf Stunden und neun Minuten Benn total. Auch Benns heikle Beziehung zum Nationalsozialismus und seine Kritik an der Emigration vieler Kollegen kommen ausführlich zur Sprache. Seine angenehm ruhige Stimme macht den Dichter 48 Jahre nach seinem Tod ergreifend lebendig. „Mit der Nüchternheit und Ruhe des Naturwissensschaftlers“ lese hier ein Dichter seine oft rauschhaften Verse, befand die Jury der hr2-Hörbuch-Bestenliste, die das Benn-Werk zum Hörbuch des Jahres 2004 gewählt hat.
Erst gabs Berge von Kassetten, dann einen Haufen CDs, jetzt gibts alles auf nur 1 MP3-Scheibe. Das ist genial. Und das hätte sicher auch Benn gefallen – VerDichtung ist ja ein Leitwort in seinem Schaffen.
Das Hörwerk von Benn reicht von zahlreichen seiner von ihm selbst gesprochenen Gedichte über alte, zeitgeschichtlich sehr interessante Radiovorträge bis zu aufgezeichneten Diskussionsrunden mit Leuten wie Reinhold Schneider oder Heinrich Böll – letzteres vermittelt überdem einen einmaligen Eindruck von der Persönlichkeit Benns, von seiner witzigen, verspielten Seite, die manche in seinem dichterischen und essayistischen Werk vermissen mögen. Wie anders spricht er da, wie ein anderer Mensch.
Die Tonqualität der Beiträge ist ok. Einziger Nachteil: Das MP3-Format kann unter Umständen nicht von jedem CD-Spieler gelesen werden.
Dennoch: Es ist nur zu hoffen, dass weitere solcher Hörwerk-CDs produziert werden. Von Canetti und Hubert Fichte gibts schon welche. Viele andere könnten folgen…
Meine Bewertung ist klar: zweitausendeins Sterne!
Jörg von Bilavsky: Was nur der Äther verrät
literaturkritik.de, März 2005
Gottfried Benn – Das Hörwerk 1928–1956
schallplattenkritik.de
Seit dem Erscheinen der neuen Bücher von Gottfried Benn ist eines in überraschender Weise klar geworden: daß es für unsere Generation in Zukunft ohne Benn keine Kunst wird geben können. Dieses Ergebnis ist so überraschend, weil diesen neuen Büchern eine Schweigeperiode von rund zwölf Jahren vorausging, wir also heute, 1949, einen ganz anderen Dichter vor uns haben als die Zeitgenossen von 1930; und wenn man ein Wort über den Unterschied hören will, so wäre zu sagen: damals, in den zwanziger Jahren, war Benn ein außenseiterischer Provokateur, heute dagegen ist er zum repräsentativen Provokateur geworden. Diese Wandlung zum Repräsentativen hin ist um so augenfälliger, als sie sich in einer Art von literarischem Vakuum vollzogen hat; selbst bei gutwilligem Nachdenken wird man, wenigstens in Deutschland, keine gleichrangige Kollegenschaft für den Dichter ausfindig machen können.
Will man unter Kunst jene höhere Zone des Schrifttums verstehen, in der man sich in Alpenhöhe befindet, mit Ausblicken von Gipfel zu Gipfel, so muß man einsehen, daß das Eindringen in diese Höhenwelt Anstrengung kostet, nicht von heute auf morgen möglich ist, sondern nach vielen Klettertouren über unwegsames Terrain ein Blick nach oben wirft schon zurück, und nach unten muß man schwindelfrei sein. Benns Werke fordern diese Anstrengung in besonderem Maße; er ist ein „auteur difficile“, wie die Franzosen seit Mallarmé sagen, ein schwieriger Autor, und wer sich mit ihm einläßt, kann nicht hoffen, leichten Kaufs wieder von ihm loszukommen. Es gilt auch von ihm durchaus, was Valéry über Mallarmés Wirkung schrieb:
Er führte in der Kunst ausdrücklich die Verpflichtung zur geistigen Anstrengung ein. Dadurch hob er das Niveau des Lesers und wählte sich mit einem wunderbaren Verständnis für den wahren Ruhm eine kleine Schar besonderer Liebhaber unter den Leuten aus, denen alles andere n a i v und f e i g e erschien, nachdem sie ihn gelesen hatten.
Diese Aneignungsschwierigkeit wird bei Benn dadurch noch gesteigert, daß er als einziger Dichter seit Goethe und James Joyce die Naturwissenschaften für die Literatur fruchtbar gemacht hat, nicht nur die Medizin, der er seine materielle Unabhängigkeit verdankt, sondern den ganzen naturwissenschaftlichen Sektor, also Physik, Erbbiologie, Paläontologie usw. Diese Weite der Problemstellungen entfernt ihn etwa von Ernst Jünger, dessen naturwissenschaftliche Interessen auf Blätter, Steine und Käfer beschränkt bleiben. Es ist also kein Wunder, wenn der Leser von der Fülle der Voraussetzungen bestürzt bleibt. Aber da eben setzt Benns Methode ein: Hammerschläge gegen die Schädeldecke und Nägel durch die Stirnwände, wenn’s sein muß – darauf zielt seine aggressive Äußerungsform, an Nietzsches Aphorismen geschult, im Laboratorium des Expressionismus gehärtet, eine Sprache ohne Weichteile. Die Substantive bringen die Spannung, nicht die Verben: der Berliner Jargon wird eingebaut und die Folge ist eine monumentale Schnoddrigkeit.
Im Jahre 1912 erschien Benns erster Gedichtband in Berlin. Damals war der Dichter 29 Jahre alt. Geboren wurde er 1886 in der Altmark, eine deutsch-romanische Blutmischung, väterlicherseits eine märkische Pastorenfamilie, mütterlicherseits französische Schweizer. Sein Studium stellte er bald ganz auf Naturwissenschaften ein, wurde militärärztlicher Stipendiat an der Kaiser-Wilhelm-Akademie in Berlin. „Der Durchgang durch die physikalisch-chemische Denkweise war für meine Generation unerläßlich“, schreibt er später. Das erweist der erste Gedichtband, Morgue, „Schauhaus“, in aller Deutlichkeit. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, geht Benn als Militärarzt nach Brüssel, und dort, mitten im Dienstbetrieb, erlebt er eine Schöpfungskrise ersten Ranges, eine Reihe von „punktuellen Perspektiven“ geht ihm auf – was ihm in diesen drei Monaten zustößt, genügt, um ihm die Grundthemen seines späteren Werkes in die Hand zu geben.
Die beiden deutlich autobiographischen Arbeiten aus dieser Zeit, „Rönne“ und „Pameelen“, sind für Benns Werk von entscheidender Bedeutung. In seiner autobiographischen Skizze von 1934 hat der Dichter beide noch einmal kommentiert. In „Rönne“, heißt es da,
hat die Auflösung der naturhaften Vitalität Formen angenommen, die nach Verfall aussehen. Aber ist es wirklich Verfall? Was verfällt denn? Nicht vielleicht doch nur eine historisch überlagernde, jahrhundertlang unkritisch hingenommene Oberschicht, und das andere ist das Primäre? Das Rauschhafte, das Ermüdbare, das schwer Bewegbare – ist das vielleicht die Realität?
Wir wohnen hier dem Rückzug auf eine Tiefenschicht bei, der in der bildenden Kunst seine Entsprechung bei den sogenannten „Abstrakten“ findet, die eine Rückprojektion des Malobjektes aus der Außenwelt in die Innenwelt, sozusagen hinter das Auge vornehmen. In Benns biologischer Sprache ausgedrückt würde das heißen: das Schwergewicht verlagert sich von der Hirnrinde auf den Hirnstamm: also eine Umschaltung von den Erlebniserfahrungen des einzelnen Menschen auf die der ganzen Menschheitsvergangenheit.
Konnte der Künstler bisher die 30 Jahre seiner unmittelbaren Lebenserfahrung für seine Kunst mobilisieren – plus allenfalls 3.000 Jahre europäischer Bildungstradition –, so steigen jetzt, wenn eine glückliche Stunde die tieferen Menschheitsschichten in Bewegung setzt, Bilder, Gefühle und Mythen aus 300.000 Jahren, aus versunkenen Erdzeitaltern empor. Diese Tiefenschichten lassen sich reizen, durch Stimulantien, durch Gifte – das wußten die Primitiven. Benn weiß es auch und huldigt der sprengenden Macht der Reizstoffe, aber das Außerordentliche an diesem Rückgriff auf die Tiefenschichten ist dies: in früheren Jahrhunderten waren die Künstler eingebaut in die Gesellschafts-Pyramide, sozial festgelegt – die griechischen Tragiker auf die Polis, die Minnesänger auf die Höfe, die französischen Klassiker auf Versailles –, im 19. Jahrhundert brechen sie aus. Dichter wie Edgar Allen Poe, Baudelaire, Verlaine, Rimbaud leben als Verfemte und sterben als Außenseiter im 20. Jahrhundert endlich zerfällt die Gesellschaft, aus der sich diese Künstler gelöst hatten, besonders gründlich in Deutschland: zwei Weltkriege, zwei Abwertungen: wo sollte also der Künstler in der allgemeinen Auflösung der Stände seinen Platz finden? Er hat keinen mehr, kann keinen haben – „der Künstler ist statistisch asozial“, sagt Benn zu Recht; aber der Verlust der soziologischen Bindungen wird wettgemacht durch ein ganz Neues: eben durch die existentielle Erschließung der menschheitsgeschichtlichen Vergangenheit. Die äußere Einbuße wird durch Erweiterung der Innenwelten ausgeglichen. Das Erbe der Kulturkreise tönt durch diesen neuen Typ des Dichters hindurch: Lurenklänge verbinden sich mit jüdischen Tempelgesängen, Negertrommeln mit Saxophonjazz.
Der Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung ist aber nur ein Teilaspekt weit umfassenderer Zusammenbrüche. Rücksichtslos hat Benn als Essayist die Bereiche des Verfalls durchspürt, durch die Schonungslosigkeit seiner Methode bei allen Parteien gleichmäßig Anstoß erregt: die christlichen Religionen sieht er auf dem Rückzug, den Sozialismus als utopische Hoffnung, den Humanismus mit seinen Gelegenheitsrenaissancen als Konjunkturerscheinung. Als das Jahr 1933 kam, schwankte er eine Zeitlang: daß da überhaupt etwas geschah, überraschte ihn. Der Marschtritt der Kolonnen drang in sein Arbeitszimmer: war das vielleicht die große Erneuerung? Er ließ sich emotional mitreißen, wie Hauptmann, Dehmel, Rilke und andere bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges; aber er war darum kein Mitläufer – das zeigt sein wunderbarer Aufsatz über den Expressionismus von 1934, eine Rechtfertigung der damals verfemten Kunstform. Er blieb durchaus bei sich und führte seine eigenen Gedanken ins Treffen: sie mißfielen dem Propagandaminister – Benn war zu intellektuell, später hieß es, zu entartet –, also wurde ihm jede Publikation untersagt. Fortan nahm er leidend an der Weltgeschichte teil: insgesamt verbrachte er neun Jahre seines Lebens als Militärarzt in den beiden Kriegen, die seine Familie dezimierten – seine Erfahrungen mit der Macht ließen ihm auch die Geschichte verdächtig werden. Mit ihren notdürftig zurechtgeleimten Sinngefügen erschien sie ihm als Anhäufung von Kuriositäten, brauchbar allenfalls als Bilderkaleidoskop, aber als Gegenwart ertragen schlechthin grauenvoll, als Vergangenheit betrachtet ein durch Brutalität und Zufallsspiel erschöpfendes Schauspiel.
Was blieb denn aber noch übrig, wenn solcherart beinahe alles in Wegfall kam, was früheren Generationen als Grundüberzeugung gedient hatte? Darauf fand er für sich schon Anfang der dreißiger Jahre eine Antwort: der Begriff „Ausdruckswelt“ wurde mehr und mehr zum Kernstück seiner Lehre. Hinter diesem Begriff steckte das Nietzschewort:
Kunst ist die einzige metaphysische Tätigkeit, die dem Menschen von heute noch geblieben ist.
Das heißt also: Formulierungen sind dauerhafter als Gewehrmodelle, die Kunststile geben den Epochen ihren Namen, nicht die Diktatoren, und existentiell ist der Mensch heute nur dort, wo er sich ausdrückt und Kunst produziert. In der vorhin erwähnten Rönnenovelle hieß es:
Manchmal eine Stunde, da bist du, der Rest ist das Geschehen, manchmal die beiden Welten schlagen hoch zu einem Traum.
Solange der Traum sich bildet und Gestalt gewinnt, ist das Geschehen zur Machtlosigkeit verurteilt, mag es draußen Schlossen hageln oder aus Stalinorgeln schmettern, für den Kunstwerdeprozeß bleibt dergleichen ebenso nebensächlich, wie das Geklapper von Gebetsmühlen für die Versenkung des Jogis.
Ist die Ausdruckswelt der einzige intakt gebliebene Bezirk des heutigen Menschen, so muß die Kunst, die in dieser Lage hervorgebracht wird, einzig auf ihre existentielle Erheblichkeit hin geprüft werden. Sie allein hat ja das ganze Dasein zu rechtfertigen und in einem gewissen Sinne zu bestimmen. Im Unterschied zu der Kunst früherer Generationen nennt Benn darum diese neue Form der Kunst Artistik und sich selbst mit Stolz einen Artisten. Mit der Arbeitshypothese von der „Ausdruckswelt“ schließt für ihn die erste zerstörerische Phase des Nihilismus ab. „In Zukunft“, sagt er, „kommt es darauf an, was einer aus seinem Nihilismus macht.“ Was er selbst daraus gemacht hat, zeigen seine Statischen Gedichte, die uns unsere Anfangsthese nahelegten; in Zukunft für diese Generation keine Kunst ohne Benn. Eines dieser Gedichte sei hier angeführt, weil es das Grundgefühl der Bennschen Ausdrucksweltlehre vollendet wiedergibt:
Ein Wort, ein Satz -: aus Chiffern steigen
Erkanntes Leben, jäher Sinn,
Die Sonne steht, die Sphären schweigen
Und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort –, ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
Ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –,
Und wieder Dunkel, ungeheuer,
Im leeren Raum um Welt und Ich.
Wir haben einige Grundmotive des Bennschen Werkes herausgegriffen und vorgeführt. Der Dichter geht sehr haushälterisch mit seinen Einsichten um; er bringt nichts Überflüssiges, und vor allem: er ist kein Falschmünzer – er variiert seine Grundeinsichten. Die Meisterschaft, mit der er diese Variationen vorträgt, macht ihn zur faszinierendsten Gestalt der deutschen Nachkriegsliteratur. Er provoziert seine Leser, das lateinische Grundwort provocare aber enthält zwei Bedeutungen: die des Anregens und des Reizens. Nun wohl, als Anreger und Aufreizer wird Benn den Jüngeren immer verehrungswürdig sein.
Georg Rudolf Lind, Europa Kurier, 23.12.1949
Man gibt mir Gelegenheit, diesen Auszug zu machen aus meinen Gedanken zu Benn, ein paar Zeilen zu schreiben, den Komplex Benn anzuleuchten, dies Problem, das dem neuen Lyriker im Wege liegt. Ich beschäftige mich nicht zum erstenmal damit, ich war mit der Gefahr schon früh vertraut die Benns Gedichte bergen. Man hat es seinerzeit nicht gesehen, man übersieht es vielfach heute noch, das junge Geschlecht bläst die Flöte und will eine Kobra tanzen machen. Das heißt also: sie ahmen Benn nach, den Tonfall, die Gebärde, sie haben die Süße gesoffen, und es war Gift; aber was sie von sich geben, es entbehrt der Süße und der letzten Sensation. Benns gigantischen Bogen, diese Brücke zwischen Pietzengeschlabber und Ullsteinbuch, doch im Klimax die mythischen Monde, Benns Bogen wollen sie spannen, aber sie brauchen zwei Hände ihn zu halten, und es spannt ihn nur, der die Sehne mit den Zähnen packt.
Ich besitze die Lyrik, die Schriften Benns nicht, ich vermeide, sie zu lesen, es genügt, ich habe die Witterung ihrer Größe und ihrer Panthergrazie. Es gibt keine Methode, die sicherer ist, Benns Strophe zu entgehen und neue Lyrik zu machen, das ist keine Feigheit, sowenig wie es Feigheit ist, die bewohnten Gegenden hinter sich zu lassen und ins Brachland zu gehen, ich sage nicht Wildnis, wo gibt’s denn in diesem Jahrhundert noch Wildnis, es gibt die öden Strecken, von denen man abließ, da sie Mühe forderten und keinen Ertrag versprachen; das ist nicht Feigheit, Ausweichen, nicht die Richtung des geringsten Widerstandes, es ist der Widerstand, wo andere erliegen. Ich vermute, wir treffen auf Plätze, die nicht so weit abliegen, ich ahne, wir setzen uns auf die Schutthalden und machen sie fruchtbar, viel mehr weiß ich nicht, ich habe mich mehr mit den Details beschäftigt.
Als ich noch Benn las, als ich beglückt glaubte, mir Reichtum zu erwerben – Sie wissen, welchen Reichtum ich meine, welchen er geben kann, oder Sie haben nicht, was Lyrik ist, begriffen –, wie lange tut man das, wie lange duldet man und liebt im Rücken diese Schauer, wie lange schicken Sie aus nach dem, was Sie sind, leer kehrt die Taube Noahs zurück. Was findet unsereins? Fremden Lorbeer, die exotische Olive, dann letzten Endes das Bewußtsein seiner selbst. Glauben Sie mir, der neue Lyriker hat zu Benn nur eine Relation, die des Siegers zum Besiegten.
Das schließt ein, sich Benn zunutze zu machen, Benn zu verwerten. Das Genießen, meine Herren, überlassen Sie andern. Wagen Sie sich an den Genuß der eigenen Verse, der eigenen Zeilen, in denen Benn duften darf wie seltene Gewürze – aber das Mehl, die Milch, die Kraft müssen Sie gegeben haben, vor allem eben die Kraft, die unendliche Energie des Genies, das in uns atmet, die Kraft, die fremder Kräfte nicht bedarf. Machen Sie die Gegenprobe, Ihr Werk wird sie vielleicht schon aushalten, tragen Sie jene Orchideen Benns neben die Gewächse, die Sie auf unwirtlichem Plan gezogen haben. Ich glaube, es sind Farben benachbarter Bereiche, die sich treffen, komplementär, aber Benns luzides Dunkel ist nicht Ihr leuchtendes Schwarz, sein melodisches Braun nicht Ihre weiten ausgewogenen Umbren.
Die Nachbarschaft wird selten als Nachbarschaft erkannt, vielmehr verdächtigt man hier einige junge Dichter der eindeutigen, vielleicht raffinierten Nachahmung Benns, ohne mehr Beweise zu haben als einer optischen Täuschung innewohnen. Stellen Sie sich eine zylindrische Spirale vor, von oben sehen Sie nur einen Kreis, es sind viele übereinander. Jeder Punkt des Kreises kongruiert mit seinen Untersassen, und der, der die neue Lyrik trägt, liegt über jenem Benns. Denken Sie nun die Linie, diese Lotrechte, in der die kongruenten Punkte ruhen; eine Art Deszendenzlinie; es wird Ihnen einleuchten, was ich meine. Und nun vergleichen Sie noch einmal, zweierlei Lyrik: beides hirnlich, beides Auge, beides voll dieser Skepsis der Sensualisten, stark von Einsamkeit. Aber bedenken Sie, Benn ist verlassen, von Ihnen verlassen, da Sie aufbrachen zur eigenen Vollkommenheit; Sie suchen die Ziele, die jener nicht erreichte; Sie haben die Ziele, vor denen er verworfen wird.
Ich darf noch sagen: diese Lyrik nach Benn, nicht ohne Benn, – ich bekenne mich zu ihr, ich trage dazu bei mit meinen Freunden, – ich glaube an den Tag, der ans Licht bringt, wieviel mehr sie ist als die Lyrik mit Benn, ohne uns.
Werner Riegel, Zwischen den Kriegen, Heft 22, Februar 1955
Ein Gedicht lesen ist Begegnung mit einem Menschen. Es hängt von beider Gestimmtheit ab, was daraus wird, eine Beziehung oder ein Nicht-, womöglich ein Unverhältnis. Mir trat Benn – Anfang der Siebziger Jahre, fast bin ich geneigt zu sagen: unvermeidlich – in seiner Schockierungspose gegenüber, mit „Morgue“, „Kleine Aster“, „Schöne Jugend“, „Kreislauf“ usw., „im Wühlen in der organischen Hinfälligkeit des menschlichen Körpers“ (Friedrich Sieburg).
Mir war entschieden anders zumute. Das Ende des Krieges nahm ich mit Erleichterung wahr, dass es gleichermaßen Befreiung war, weniger. Es war für mich verbunden mit dem Zusammenbruch einer intakt anmutenden Kindheitswelt und der Härte, unter völlig anderen Bedingungen zurechtkommen zu müssen: Zerstörung der Dresdner Wohnung, dann auch Flucht aus der Zufluchtswohnung bei den Großeltern, zwar Rückkehr, aber in ein nun demoliertes, geplündertes Haus, wodurch deutlich wurde, was nun galt. Der Tod des Großvaters, kurz darauf auch der der Großmutter; Not, Mangel, Hunger, Angst, Orientierungslosigkeit; schließlich Nachricht vom Tod des Vaters in der Gefangenschaft, Verlust auch dieser Hoffnung. In diesen Umständen geriet ich an Schulbücher meiner Mutter, die im Haus der Großeltern verblieben waren, unter anderen an eine Sammlung deutscher Gedichte; von Walther von der Vogelweide bis zur Gegenwart. Die Gegenwart des Buches war 1915. Wahrscheinlich ließ ich mich, der ich bis dahin nicht lesefreudig war, auf dieses Buch ein, weil es Texte von nicht abschreckendem Umfang enthielt. Und was ich da las, brachte – völlig unerwarteterweise! – mein Gemüt, meine innere Verfassung, brachte mich in Balance, in einen Zustand, der mich aus der Härte der Realität erlöste, der mich sie ertragen ließ. „Das Wasser rauscht’, das Wasser schwoll, / Ein Fischer saß daran…“ Zweihundert Meter vom großelterlichen Haus entfernt befand sich ja ein Angelteich. „Es ist so still; die Heide liegt…“ Der Wald war mein Rückzugsrefugium aus den Bedrängnissen. „Horch! Das Feuerglöcklein gellt: / Hinterm Berg, / Hinterm Berg / Brennt es in der Mühle!“ Statt des Feuerglöckleins die schrillen Sirenen – das kannte ich zur Genüge! Dichtung in dürftiger Zeit. Worauf zwar auch Benn insistierte, aber meine Intention war von seiner grundverschieden. Gedichte entpuppten sich für mich als die Objekte, als das Medium, das nachreichte, wozu die reale Wirklichkeit außerstande war, dem Dasein Glanz und Wert zu verleihen. Mit dem Fügen von Worten wurde die Welt annehmbar, lebenswert. Goethe, Storm und Mörike, „der völlig geistlose Mann“ (Benn), leisteten das. Wenn auch fremd in manchem Wort, so doch als Mitteilung aus anderer Zeit und von anderswoher, aus Zuständen, die solche Worte und solchen Ton zuließen. Gerade darin, dass es andere Zeiten und andere Orte betraf, von denen die Rede war, lag das Versprechen auf lebenswertere Umstände. Gedichte wurden meine Türen in die Welt. Gedichte waren Befreiung.
Als ich zwanzig Jahre später auf Benn stieß, hatte sich diese literarische Grundierung, so sehr sie inzwischen auch variiert, vertieft, durchgerüttelt und in Frage gestellt worden war, nicht aufgebraucht. Ich wich vor dem Wühlen in der organischen Hinfälligkeit, vor der eiskalten Strahlung, reflexartig zurück. Ich erhob, so wie ich war, Anspruch auf Leben. Die menschliche Hinfälligkeit und Wertlosigkeit vorgehalten zu bekommen empfand ich als Kränkung. Warum sollte ich mir das bieten lassen?! Nun, da Krieg und Furchtbarkeiten überstanden waren, und zwar ein für alle Mal!
Die Begegnung mit Benn fand unter denkbar falschen Prämissen statt, zu ungünstiger Gelegenheit. Die Handvoll Mogue-Gedichte reichte aus, um auch weiterhin Benn nicht zu vermissen. Und er lief einem in der DDR ja nicht ständig über den Weg. Benn meiden, hieß nicht zwangsläufig dem oft genug falschen Aufbau- und Klassenkampfpathos in die ausgebreiteten Fangarme zu laufen. Für dichterische Entäußerungen aufnahmefähig, entdeckt man sich, von Überangebot umstellt, gefordert und herausfordert, längst nicht nur Brecht und Majakowski. Da waren Bobrowski und Braun, Bachmann, Celan und Enzensberger. Und weiter: Rimbaud und Apollinaire, Vallejo und Neruda, Whitman, Yeats und Williams… Es ließ sich, ohne in lyrische Atemnot zu geraten, mühelos ohne Benn auskommen. An der ideologisch-politischen Abwertung, die er mitunter erfuhr, lag meine Zurückhaltung nicht. Die war eher Anlass, ihn doch nicht gänzlich aus dem Auge zu verlieren. Einen Stachel, eine Unruhe hatte er freilich hinterlassen. Das Auftauchen seines Namens rief sie immer wieder mal hervor.
Es waren die grundsätzlichen Änderungen 1989/90 nötig, die nicht nur den geografischen und gesellschaftlichen Raum öffneten, sondern auch literarisch Vorenthaltenes bewusst machten, damit mir Benn näherkam, greifbar wurde, durch die Zugänglichkeit seines Werks.
Statt „Kleine Aster“ nun „Astern“, statt „Blinddarm“ nun „In einer Nacht“, statt „Krebsbaracke“ nun „Epilog“: „Ein breiter Graben aus Schweigen, / eine hohe Mauer aus Nacht…“ und „Melancholie“. Diese Gedichte hätte ich Jahrzehnte früher gebraucht. Nun erweisen sie sich zwar als kostbare Stücke, aber um sich einzubrennen ins Innerste, kommen sie zu spät. Warum, frage ich unnötigerweise, ist er nicht von Anfang an so offenherzig auf die literarische Bühne getreten?
Joochen Laabs, aus Joochen Laabs: Meine Freunde, die Dichter, Quintus Verlag, 2022
„Unsere Gegenwart ist durchschossen von Residuen“ – Im Gespräch mit Uwe Tellkamp
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt, Merkur, Heft 18, August 1949
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt (II), Merkur, Heft 19, September 1949
Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957
L.L. Matthias: Erinnerungen an Gottfried Benn, Merkur, Heft 171, Mai 1962
Nico Rost: Begegnungen mit Gottfried Benn, Merkur, Heft 218, Mai 1966
Nino Franks Bericht über seinen Besuch bei Benn, Merkur, Heft 398, Juli 1981
Walter Aue: „Das ist Bahia, am Meer“. Wege zu Gottfried Benn
Norbert Hummelt: Auf einen Sprung zu Gottfried Benn
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Gottfried Benn
G. B.
Berliner Anachoret
In meinem Zimmer, Quadratmeter zwanzig
steht eine Standuhr ohne Gewichte,
der Psalm ist kurz, die Luft schon ranzig,
vor dem Fenster tut sich Geschichte.
Mülltonnen, Wäsche, Teppichhämmern,
Mond und Sonne abmontiert,
Glühlampe: Preßglas, fahles Dämmern,
na und – mich hat das nicht tangiert.
In meinem Zimmer weben die Spinnen,
der Kalk hat das Tuch schon zugeschneit,
ich höre ihn manchmal niederrinnen,
er fällt sehr leise, sehr weiß, sehr weit.
Durch manchen Traum blüht eine Allee,
auf dunklen Lidern Myrtenlaub,
durch manchen Schlaf weht Hermenschnee,
von blauen Segeln Marmorstaub.
In meinem Zimmer steht eine Blume,
von meinen Wänden tropfen Schatten,
salzig der Kelch, vertrocknet die Krume,
aus meinem Zimmer fliehen die Ratten.
Bruno Hillebrand
GOTTFRIED BENN
Privatim ein Bürger
mit Kitschhang und Homburg
ein Mann der fast weibisch
an Schnittblumen roch
aaaaazu weich
aaaaazu sensibel
trotz Morgue nie ein Schlachter
brutal nur aus Notwehr
höflich aus Angst
Kein Kluger durch Wissen
ein Tiefer aus Leiden
Was dem fiebernden Schweiß ist
das war ihm der Vers
Sonst lebte er bieder
ein Hautarzt mit Homburg
ein Spießer mit Bierdunst
Nur als Künstler ein Wolf
Hans-Jürgen Heise
Helmut Böttiger: Gottfried Benn – Kleine Aster und andere Gedichte
Gottfried Benn: Kleine Aster – Gedichte und Prosa. Ulrike Draesner und John von Düffel im Gespräch mit Anja Brockert am 21.01.2019 im Literaturhaus Stuttgart.
Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011
Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.
Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946
Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956
Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966
Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966
Bruno Hillebrand: Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod
Neue Deutsche Hefte, Heft 110, 1966
Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976
Jürgen P. Wallmann: „Der Ruhm hat keine weissen Flügel“
Die Tat, 30.4.1976
Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976
Heinz Friedrich: Plädoyer für die schwarzen Kutten
Merkur, Heft 30, 1976
Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986
Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986
Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006
Jörg Drews: Das Gegenteil von ,gut gemeint‘
Tages-Anzeiger, 4.7.2006
Cornelius Hell: Persönlich, poetisch, politisch
Die Furche, 29.6.2006
Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.
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