MENSCHEN GETROFFEN
Ich habe Menschen getroffen, die,
wenn man sie nach ihrem Namen fragte,
schüchtern – als ob sie gar nicht beanspruchen
aaaaakönnten,
auch noch eine Benenung zu haben −
„Fräulein Christian“ antworteten und dann:
„wie der Vorname“, sie wollten einem die Erfassung
aaaaaerleichtern,
kein schwieriger Name wie „Popiol“ oder „Babendererde“ −
„wie der Vorname“ – bitte, belasten Sie Ihr Erinnerungsvermögen nicht!
Ich habe Menschen getroffen, die
mit Eltern und vier Geschwistern in einer Stube
aufwuchsen, nachts, die Finger in den Ohren,
am Küchenherde lernten,
hochkamen, äußerlich schön und ladylike wie Gräfinnen −
und innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa,
die reine Stirn der Engel trugen.
Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.
Meinem Vater
zum 13. Juli 1988 zugeeignet
I
Morgue und andere Gedichte: so hieß ein kleines Bändchen, das im März 1912 in Berlin herauskam. Verfaßt hatte die neun Texte ein bis dahin in der Literaturwelt Unbekannter, der fünfundzwanzigjährige, soeben promovierte und approbierte Militärarzt Gottfried Benn. Wohl selten in der Geschichte der deutschen Literatur hat ein Heftchen mit ein paar Gedichten einen solchen Wirbel in der Kritik ausgelöst. Zwar waren schon im Jahr zuvor Georg Heyms Der ewige Tag und Franz Werfels Der Weltfreund erschienen, und in den Jahren 1913 und 1914 kamen Georg Trakls Gedichte und Ernst Stadlers Der Aufbruch hinzu: stärker als sie alle aber, die man später unter der Bezeichnung ,Expressionisten’ unzulänglich zusammenfaßte, erhellt Benns Erstling mitsamt der Reaktion auf ihn die intellektuelle und literarische Konstellation, aus der die dichterische Moderne in Deutschland hervorging. Schon die Stätten, denen der junge Benn seine poetischen Inspirationen verdankte, ließen den bürgerlichen Mittelstand, soweit er dem ,Höheren‘ nachhing und las, sich schaudernd abwenden: die Anatomie und die Krebsbaracke, der Operations- und der Kreißsaal; nicht weniger aber die Beleuchtung, in der sie aufdämmerten und die Menschen, die in ihnen westen und verwesten – ein blutiges Jammertal und ausweglose Höllen des Irdischen, deren Ränder nicht einmal mehr ein Mitleidsappell, wie man ihn vom Naturalismus her doch kannte, abzustecken vermochte. Die nach ihrem Weg suchende jüngere Generation aber erkannte den neuen Meister, der „nun freilich gründlich mit dem lyrischen Ideal der Blaublümeleinritter aufräumt“ (Ernst Stadler), und die Schar der kleineren Dichter versuchte es ihm nachzutun.
Von 1912 bis 1956, in mehr als vierzig Schaffensjahren, entfaltete Benn ein lyrisches Werk, das bei allem Wandel seine Anfänge nicht verleugnete. Heyms, Trakls und Stadlers Lebensbahnen brachen jäh ab, Werfel wandte sich bald anderen literarischen Gattungen zu. So hat einzig Bertolt Brecht, zwölf Jahre jünger als Benn, in der deutschen Lyrik der ersten Jahrhunderthälfte eine der Bennschen vergleichbare Bedeutung erlangt. Nach seinem furiosen Beginn hat der Verfasser der Morgue noch zweimal die jüngeren Dichter in seinen Bann gezogen. Um 1930 ist es vor allem Klaus Mann, der dieser Bezauberung Ausdruck verleiht. Martin Raschke, der mit Günter Eich, Peter Huchel und anderen zur „Jungen Gruppe Dresden“ um die Zeitschrift Die Kolonne und den Wolfgang Jess Verlag gehört, schreibt 1933, Gottfried Benn sei ihm oft in einem Bilde erschienen, „vor uns stand er an der Spitze des Bootes, das durch den Nebel der Zeiten zu unbekannten Ufern trieb“. Als um 1950 Benns Werk nach langer, erzwungener Unterbrechung wieder zugänglich wurde und mit dem Band Statische Gedichte einen neuen Höhepunkt erreichte, gewann der Dichter noch einmal eine unvergleichliche Autorität bei den Jüngeren, bis weit ins linke Spektrum hinein; kein Geringerer als Theodor W. Adorno rechtfertigt 1964 diese Orientierung auf Benn, wenn er mit der Autorität der doch allemal als links geltenden Frankfurter Schule feststellt: „in einem höheren politischen Sinn hat er immer noch mehr mit uns zu tun als sehr viele andere“ (an Peter Rühmkorf, 13. Februar 1964). Ein halbes Jahrhundert lang hat die jüngere deutsche Moderne in permanenter Auseinandersetzung mit Gottfried Benn zu sich selbst gefunden.
Schwerer als die historische Bedeutung ist der literarische Rang dieses lyrischen Werkes zu bestimmen. Es steht damit ähnlich wie mit den Gedichten Heinrich Heines, deren Wertschätzung häufiger auf harmonistischen Voreingenommenheiten als auf der Bereitschaft beruht, sich dem Schock auszusetzen. Raschke meint 1933, in Benn sei „das Erbe Eichendorffs und Mörikes noch lebendig“, und dieser Traditionszusammenhang mit dem deutschen 19. Jahrhundert dürfte einem Gedicht wie „Astern“ seinen bevorzugten Platz in Anthologien und Lesebüchern gesichert haben. Die Blumen muten hier wahrlich vertrauter an als die „Kleine Aster“ in Morgue oder der Strauß Rosen in „Blinddarm“. Gelegentlich bewegt sich Benn sogar auf einer Linie, die von Hermann von Gilm („Stell auf den Tisch die duftenden Reseden“) zum Schlager des 20. Jahrhunderts führt. „Sehr schön – bester Walther von Hollander“, urteilte Ilse Benn 1950 über einige jüngste Strophen ihres Mannes, und er wußte, daß sie so unrecht nicht hatte. In seinen wirklich großen Gedichten aber bringt Benn das bürgerliche 19. Jahrhundert, das zugleich das naturwissenschaftliche Jahrhundert gewesen ist, auf radikalere Weise zu Ende als alle Schriftsteller vor ihm. Was aus der vorausgehenden Periode der deutschen Lyrik in ihm produktiv wurde, das waren anfangs gewisse Elemente, die man bei Fontane und Detlev von Liliencron, auch noch bei Rilke findet und die nicht aus der Lied-, sondern aus der Balladentradition stammen: deren Raffungs- und Beschleunigungstechniken, deren Sprunghaftigkeit und syntaktische Verkürzungen, deren alltagssprachliches ,realistisches‘ Vokabular auch, überträgt Benn aus dem längeren, meist reimgebundenen Erzählgedicht in die kleinere Form seiner vor Sarkasmus oder Emphase vibrierenden Zeilengedichte. Aber die brachiale Kraft seiner Sujets und seiner Sprache sind nicht allein Ausdruck einer innerliterarisch zu deutenden Stilkrise. In Benns erstem Schaffensjahrzehnt kommt vielmehr ein allgemeines Krisenbewußtsein zum Durchbruch, ein Krisenbewußtsein, das vor allem die Kunst selbst mit erfaßt. Denn darin unterscheidet sich Benn von den großen Lyrikern der Jahrhundertwende, zumal von Stefan George und Rainer Maria Rilke: sie messen ihre Werke an einem strengen, unbezweifelten Kunstbegriff, während er sich sein Leben lang mit der Legitimation von Kunst überhaupt herumschlägt. Damit stellt er die deutsche Lyrik in den Horizont der gesamten europäischen Literatur, die um 1910 von Rußland bis Italien und von Spanien bis Großbritannien den Vorsprung der französischen Avantgarde zwischen Baudelaire und Apollinaire einholt. Nicht zuletzt im Zwang zur dauernden Ortsbestimmung der Kunst, in der Reflexion ihrer Stellung zu Geschichte und lebensweltlicher Erfahrung, zum Persönlichkeitsbild des deutschen Idealismus, zu den Erkenntnissen der neueren Psychologie und vor allem Psychopathologie, zu den klassischen Naturwissenschaften samt ihren erkenntnistheoretischen Voraussetzungen und zivilisatorischen Folgen konstituiert sich der Reichtum seiner Lyrik.
Fragwürdig wie die Kunst wird auch die Legitimation des Künstlers, in plötzlichen Umbrüchen liegen zynische Selbstverwerfung und arrogante Selbstüberhöhung hart nebeneinander. Sein Pariabewußtsein auf der einen, sein Künstleraristokratismus auf der anderen Seite hängen zwar wohl auch mit Erfahrungen in Kindheit und Jugend zusammen, haben aber gewiß mehr mit Benns spezifischem Verhältnis zur Kunst zu tun. Es ist auffällig, daß er niemals angestrebt hat, als freier Künstler zu leben; er brauchte die Tätigkeit als Arzt, um Legitimationsdefizite der Kunst zu kompensieren. Aber auch umgekehrt: die Kunst darf sich nicht mit dem Leben gemein machen, indem sie sich von ihm aushalten läßt – Benns gelegentliche grantige Bemerkungen über seine geringen Einnahmen als Schriftsteller wollen dagegen nicht viel besagen, auch mit dem besten Honorar hätte sie in Benns Augen nicht aufgewogen werden können. Jedenfalls bildet auch der Lebensentwurf des Arztes und Dichters Gottfried Benn eine Situation der Kunst und des Künstlers ab, die weit über den Einzelfall hinausreicht. Auf seine Weise nimmt Benn eine säuberliche Scheidung im Nebeneinander vor, wie sie etwa Rimbaud im Nacheinander vorgelebt hatte.
II
Über seine Herkunft aus einem evangelischen Pfarrhaus hat sich Benn selbst mehrfach geäußert und zu Recht die metaphysische Grundströmung in seiner Poesie mit ihr in Verbindung gebracht. Am 2. Mai 1886 als ältester Sohn des Pfarrers Gustav Benn in Mansfeld in der Mark Brandenburg geboren, kommt der junge Benn über das Dörfchen Sellin (Neumark), wo er den Elementarunterricht erhält, und Frankfurt an der Oder, wo er das Friedrichs-Gymnasium („zum Glück ein humanistisches“, so Benn 1934) durchläuft, nach zwei Marburger Semestern (als Student der Theologie, Philosophie und Deutschen Philologie) im Herbst 1904 nach Berlin und verfällt dieser Stadt fürs Leben. Mit geringen und stets unfreiwilligen Unterbrechungen wird er gut fünfzig Jahre hier verbringen, nicht im feinen Alten Westen, nicht in den Arbeitervierteln des Nordens und Ostens, sondern in den klein-, allenfalls bildungsbürgerlich geprägten Bezirken Kreuzberg und Schöneberg. Gegen den Wunsch des Vaters, aber schließlich mit dessen Zustimmung studiert Benn vom Herbst 1905 an Medizin. Es muß in diesen Jahren zu scharfen Auseinandersetzungen zwischen Vater und Sohn gekommen sein; die Einzelheiten liegen im Dunkel, aber das Gedicht „Pastorensohn“, 1916 oder 1917 entstanden, bezeugt es zur Genüge. Eine der Ursachen läßt sich mit Sicherheit erschließen. Gottfried Benn hatte eine enge Bindung an seine Mutter Caroline Benn, die aus dem schweizerischen Jura stammte. Sie erkrankte früh an Krebs und starb mit 54 Jahren. Aus religiösen Überzeugungen heraus wurde in der letzten Krankheitsphase auf eine schmerzstillende Behandlung mit Morphium verzichtet, eine Entscheidung, die den jungen Arzt aufs äußerste empörte. In einer für alle Familienmitglieder existentiellen Situation standen sich der Vertreter einer tiefen alten Frömmigkeitshaltung und der Vertreter der modernen Medizin unversöhnlich gegenüber. Im Februar 1912 absolviert Benn Staatsexamen und Promotion, im März erscheint Morgue, Anfang April erliegt Caroline Benn ihrer Krankheit.
Benns lyrisches Werk bis zu den Gesammelten Schriften von 1922 umfaßt Zeilenkompositionen in freien Formen, Gedichte in Blankversen – ein Liliencronsches Erbe −, seltener liedhafte Gebilde, seine Diktion setzt Berlinisches und Märkisches, die Sprache des preußischen Offizierskasinos und den Fachjargon der Mediziner, den Slang des Zuhältermilieus und der Kneipen, zuweilen sarkastisch untermischt mit Bruchstücken klischeehaften Frömmigkeitsausdrucks, hart gegen und neben eine emphatische Sehnsuchtssprache aus Südmotiven, klassischen Schönheits- und biblischen Heilsbildern. Das seiner mächtige, ordnende Ich älterer Lyrik wird zerrieben zwischen der entindividualisierten Massengesellschaft mit ihrer entleerten, heruntergekommenen Sprache und dem biologisch-materialistischen Triebwesen. Zumal in die Gedichte aus der Zeit des Brüsseler Aufenthalts zwischen Oktober 1914 und Herbst 1917 dringen unverhüllt die philosophischen Fragen ein, mit denen sich der junge Naturwissenschaftler und Mediziner auseinanderzusetzen hat. Man fragt sich, wo im geistigen und emotionalen Haushalt des Verfassers dieser Gedichte, der „Rönne“-Novellen und der ,erkenntnistheoretischen Dramen‘ eigentlich seine eigene junge Familie ihren Platz hat: seit dem Juli 1914 ist Benn mit Edith Osterloh verheiratet, im September 1915 wird die Tochter Nele geboren. Die Gedichte sprechen von anderem: das Leben und die es ordnend durchdringenden Wissenschaften werden vom Sexualtrieb unterlaufen, nichts hat die verlorenen metaphysischen Weltdeutungen und ethischen Bindungen vergangener Jahrhunderte zu ersetzen vermocht, nur das Leid, des Menschen uranfängliches Teil, das ist geblieben. Zu heilen vermag es niemand, und die modernen Religionssurrogate Wissenschaftsautorität und Fortschrittsglaube vermögen es nicht einmal zu trösten. In Benns lyrischen Polemiken tauchen jenseits von Sexualität und Tod, jenseits marktgängiger Heilsversprechen imaginäre Paradiese der Ich-Vergessenheit auf, im Endzeitpathos irrlichtert der Menschheitsbeginn:
aaaaaaaaaaaaaaaIch schluchze immer
vorbei an Brüsten und Gebeinen
den tyrrhenischen Inseln zu:
Dämmert ein Tal mit weißen Pappeln
ein Ilyssos mit Wiesenufern
Eden und Adam und eine Erde
aus Nihilismus und Musik.
(„Hier ist kein Trost“)
Diese Zeilen stammen aus dem Gedicht-Dialog, den Benn 1913 mit der ihm damals aufs engste befreundeten und lebenslang von ihm bewunderten Else Lasker-Schüler führte. Die Formel „Nihilismus und Musik“ aber könnte zu Recht über den Gedichten aus den zwanziger Jahren stehen. Dem Leser des Frühwerks drängen sich Kritik und Formzerstörung als erstes auf, bei genauerem Hinsehen bemerkt er freilich, daß auch hier sehr wohl künstlerisch durchstrukturierte Gebilde vorliegen. Mit der nun einsetzenden Rückkehr zu geschlossenem Vers- und Strophenbau, auch der Rückkehr zu Reim und Sprachmusik bilden sich bei Benn poetologische Positionen aus, die, 1927 in dem Essay „Lyrisches Ich“ formuliert, auch 1934 (in der Selbstdarstellung „Lebensweg eines Intellektualisten“) und 1951 (in dem Vortrag „Probleme der Lyrik“) noch von ihm zitiert werden und zentrale Bereiche seines Denkens über Dichtung berühren. Vor allem um das Wort und um die Strophe kreisen diese Überlegungen:
Worte, Worte – Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen und Jahrtausende entfallen ihrem Flug. Nehmen Sie Anemonenwald, also zwischen Stämmen feines, kleines Kraut, ja über sie hinaus Narzissenwiesen, aller Kelche Rauch und Qualm, im Ölbaum blüht der Wind und über Marmorstufen steigt, verschlungen, in eine Weite die Erfüllung – oder nehmen Sie Olive oder Theogonieen: Jahrtausende entfallen ihrem Flug. Botanisches und Geographisches, Völker und Länder, alle die historisch und systematisch so verlorenen Welten hier ihre Blüte, hier ihr Traum – aller Leichtsinn, alle Wehmut, alle Hoffnungslosigkeit des Geistes werden fühlbar aus den Schichten eines Querschnitts von Begriff.
Und wenige Sätze später:
Schwer erklärbare Macht des Wortes, das löst und fügt. Fremdartige Macht der Stunde, aus der Gebilde drängen unter der formfordernden Gewalt des Nichts. Transzendente Realität der Strophe voll von Untergang und voll von Wiederkehr: die Hinfälligkeit des Individuellen und das kosmologische Sein, in ihr verklärt sich ihre Antithese, sie trägt die Meere und die Höhe der Nacht und macht die Schöpfung zum stygischen Traum: „Niemals und immer.“
Deutlicher als in Benns Anfängen wirkt nun Nietzsche in die Poetik hinein, sein Artistenevangelium, seine Lehre von der Kunst als der letzten metaphysischen Tätigkeit des Lebens, seine These von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Die vom Dichter bevorzugte Strophenform, die achtzeilige, erinnert von fern aber auch an Gestaltungsformen des evangelischen Kirchenlieds, die Benn natürlich aus Kindheit und Jugend innig vertraut waren – er schreibt jetzt gleichsam die Hymnen und Choräle des europäischen Nihilismus. Diese Form bietet der Auflösung der Begriffsinhalte, der Entfesselung des Worts mehr Spielraum als die vierzeilige Liedstrophe, sie bietet auch der musikalischen Responsion eine Fülle von Möglichkeiten. Mit ihren sich in Reim, Alliteration und Assonanz realisierenden Wiederholungen ist diese Strophe für Benn zugleich Aussage und Ausdruck: im sich öffnenden Wort gehen die Gehalte, wie sie der Positivismus in Natur- und Geschichtswissenschaft festschreibt, ewig unter, sie werden überholt vom todverfallenen je Einzelnen; der Klang aber kehrt wieder und repräsentiert die umfassende Ordnung, das „kosmologische Sein“. Die dergestalt klanglich durchgeformte Strophe, das durchgeformte Gedicht wird zum Symbol der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wie an „Widmung“:, Oskar Loerke zum 50. Geburtstag am 13. März 1934 zugeeignet, ablesbar, verstand Benn das Wort ,Strophe‘ auch etymologisch als ,Wende‘, Wiederkehr.
III
Für den unnachgiebigen Kritiker des rationalistischen und zweckorientierten Wissenschaftsbetriebs werden nun zunehmend wissenschaftsferne, mythische Weltdeutungen wichtig, Nietzsches ,Dionysisches’ verbindet sich mit entwicklungsgeschichtlichen und neurologischen Spekulationen, nach denen die Psyche auch des Modernen zu unmittelbarer Teilhabe an solchen im Mythos aufbewahrten Urerfahrungen der Menschheit gelangen könne. Der Rausch, die Orgie, die Massensuggestion auf der einen, die Formleidenschaft auf der anderen Seite: das könnten die zwei Aspekte gewesen sein, unter denen Benn der Nationalsozialismus für eine kurze Zeit als in die Geschichte eingetretene, kunstanaloge Ordnungswelt erschien. Die Illusion verflog sehr bald, und das Gedicht „Das Ganze“ – mit seiner ersten und dritten Strophe verabschiedete er sich von Ina Seidel und Friedrich Wilhelm Oelze vor dem Wiedereintritt in die Armee – deutet an, wie Benn selbst sein Verhalten wenig später beurteilte:
Im Anfang war es heller, was du wolltest
und zielte vor und war dem Glauben nah,
doch als du dann erblicktest, was du solltest,
was auf das Ganze steinern niedersah,
da war es kaum ein Glanz und kaum ein Feuer,
in dem dein Blick, der letzte, sich verfing:
ein nacktes Haupt, in Blut, ein Ungeheuer,
an dessen Wimper eine Träne hing.
Möglicherweise glaubte er, sich gerade noch rechtzeitig und unkompromittiert aus seinem öffentlichen politischen Engagement zurückgezogen zu haben.
Warum aber hatte er sich überhaupt öffentlich geäußert? In der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre beginnen Benns Ansehen und Einfluß zu wachsen. Er spricht gelegentlich im Rundfunk, wird Anfang 1928 in den Pen-Club gewählt, macht die Bekanntschaft Oskar Loerkes, einer Schlüsselfigur im literarischen Leben Berlins als Lektor des S. Fischer Verlags, als Sekretär der Sektion für Dichtung in der Preußischen Akademie der Künste, als Lyriker und Essayist von eigenem Rang. Sehr rasch gerät Benn in die literarischen und politischen Kontroversen der späten Weimarer Republik, bleibt dabei aber ein radikaler Einzelgänger ohne Gruppenbindung. Als Zivilisations- und Fortschrittskritiker war er für eins jedenfalls von vornherein verloren: für eine engagierte politische Lyrik, gleich welcher Couleur. 1932 wird er neben Rudolf G. Binding, Max Mell, Rudolf Pannwitz, Alfons Paquet und Ina Seidel in die Preußische Akademie der Künste gewählt. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, hat er die höchste Auszeichnung, die das literarische Deutschland einem Dichter zu bieten hatte, gerade erhalten, und er ist stolz darauf. Und in eben diesem Augenblick werden Entscheidungen fällig, keine künstlerischen, sondern politische und moralische. Benn bekennt sich zum „neuen Staat“. Sein Verhalten ist, so scheint mir, nicht unabhängig von den ihm in den Jahren unmittelbar zuvor zugewachsenen Rollen zu verstehen. Weder zur Hohenzollern-Monarchie als Staat noch zur Demokratie von Weimar, noch zu den staatlichen Gebilden nach dem Zweiten Weltkrieg gibt es, was die Staatlichkeit und staatliches Handeln betrifft, eindeutige Urteile, geschweige denn Bekenntnisse, auch nicht 1914, als sich viele Schriftsteller von nationalen Emotionen mitreißen ließen und öffentliche Erklärungen abgaben. Hat er sich von den Macht- und Masseninszenierungen der NSDAP wirklich täuschen lassen und der Kunst, seiner Kunst, unter solchen Voraussetzungen adäquatere Rahmenbedingungen versprochen, oder glaubte er sich als Akademiemitglied verpflichtet zu taktieren, um der Kunst ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu erhalten? Gleich, welche Motive letztlich ausschlaggebend waren, angesichts des täglichen Terrors sind sie nicht zu rechtfertigen. Und es ist nicht ihre von Klarsehenden sogleich vorausgesagte Vergeblichkeit, von der her Benns Optionen 1933 zu bewerten wären, sondern von der empörten Reaktion und tiefen Trauer seiner Verehrer in der Emigration, zu deren Sprecher Klaus Mann wurde. Er schenkte Benn nichts und sprach öffentlich aus, was gesagt werden mußte – und dennoch ist die Verbindung zwischen den beiden über den scharfen Auseinandersetzungen nicht definitiv zerbrochen; Benn hatte ein richtiges Gespür, als er die Zusendung des Mephisto-Romans durch den Autor, mit der Eintragung der Benn-Verse „Die du verlassen, sie atmen noch“, nicht nur als Drohung, sondern auch als Anhänglichkeit deutete – 1937. Überhaupt muß Klaus Mann, soweit das aus der Emigration möglich war, den weiteren Weg Benns im Auge behalten haben. Während dessen Prosa – Essays, Reden, Rezensionen – 1933 und 1934, mit einigen Ausnahmen, im gedanklichen und sprachlichen Niveau deutlich sank, blieb das knappe Dutzend Gedichte, das zwischen dem Januar 1933 und dem Sommer 1934 abgeschlossen wurde, von den Verwicklungen des Autors unbeschädigt; freilich gingen die meisten von ihnen auf ältere Vorstufen zurück, der Lyriker Benn verstummte in jenen eineinhalb Jahren beinahe völlig. Spätestens nach dem sogenannten Röhm-Putsch Ende Juni 1934 hat Benn sein öffentliches Engagement definitiv abgebrochen. Im August 1936 entsteht „Einsamer nie –“, das Gedicht wurde in der letzten ,legalen‘ Buchpublikation des Autors, im Dezember desselben Jahres, gedruckt. Unter dem Datum des 10. August 1941 notiert Klaus Mann in seinem Lebensbericht Der Wendepunkt: „,Einsamer nie als im August…‘ Die Zeile von Gottfried Benn will mir – trotz allem – nicht aus dem Sinn“, und er zitiert dann das Gedicht, vor allem um der Schlußverse willen: „im Weingeruch, im Rausch der Dinge, / dienst du dem Gegenglück, dem Geist“. Dieses „trotz allem“ aus der Feder eines unmittelbar und tief durch Benns Verhalten Getroffenen soll das Urteil nicht befangen machen, aber mitbestimmen. Es bleibt nichts übrig, als den Konflikt auszuhalten, mit dem Benn selbst von Mitte 1934 an zu leben hatte. Am 24. Januar 1936 schreibt er an F.W. Oelze: „Unendliche Scham über meinen Abstieg und zu langes Leben, Über-leben, unendliche Trauer über den Verrat, den ich an mir zu begehn plante, warf mich um.“ An dieser Stelle unterscheidet sich Benns Sprache über sich selbst kaum mehr von der, die Klaus Mann für ihn gefunden hatte.
IV
Gegen Ende 1934 beginnt Benn sich aus allen literatur- und verbandspolitischen Bindungen zu lösen. Einen Ausweg aus seiner in jeder Hinsicht desolaten Lage bietet ihm die Rückkehr in die Armee. Zum 1. April 1935 wird er als Oberstabsarzt nach Hannover kommandiert, und diese räumliche Distanz zu Berlin, unter der Benn gleichwohl leidet, erleichtert das Entkommen aus inneren wie äußeren Abhängigkeiten. Schon im Herbst 1934 setzt, mit dem Zyklus „Am Brückenwehr“, wieder eine reichere lyrische Produktion ein, gleichzeitig mit neuen Überlegungen zu Poesie, Leben und insbesondere Geschichte, die zunächst im intensiven Briefwechsel mit F.W. Oelze, dann auch in weder zur Veröffentlichung bestimmten noch im Dritten Reich publizierbaren Essays ihren Niederschlag finden (Weinhaus Wolf, 1937/38). „Doppelleben“: unter dieser Formel sucht Benn für sich, aber vor allem auch für sein Dichten eine klare Scheidelinie, eine unüberschreitbare Grenze zwischen dem Reich der Kunst und allen Erscheinungen des Lebens zu statuieren. Es besteht vermutlich eine versteckte Beziehung zwischen diesem Bemühen und der Wiederannäherung an den Vater, der Sohn bezeugt dem Pastor emeritus in diesen Jahren die größte Hochachtung. Nach Benns eigenen Worten, schon 1931 und mehr noch in Briefen an Oelze von 1936, 1937 und 1939, gilt seine Bewunderung, ja Verehrung einer Sphäre der Transzendenz, die den Vater umgebe und die alles, worauf sie ausstrahle, erhöhe und mit Reinheit umhülle. Wenn es zutreffen sollte, wie berichtet wird, daß Gustav Benn, ebenso wie Gottfrieds Bruder Stephan, sich zur Bekennenden Kirche hielt, die das nationalsozialistische Regime verwarf, so mag der Sohn darin ein Exemplum für die nun ihm selbst gestellte Aufgabe in bezug auf den Bereich der Kunst erkannt haben.
Im Januar 1936 veröffentlicht Benn ein schmales Heftchen mit neuen Gedichten, das F.W. Oelze gewidmet ist. „Astern“ ist hier zum ersten Mal gedruckt, aber auch das eine grausige Gegenwelt evozierende „Träume, Träume“ – und das selbstkritische Gedicht „Das Ganze“. Wenig später erscheint, anläßlich des 50. Geburtstags am 2. Mai 1936, ein umfangreicherer Band Ausgewählte Gedichte 1911-1936, im Dezember in einer auf staatliche Pressionen hin veränderten zweiten Auflage. Dieser Auswahlband führt zu den ersten scharfen Angriffen auf Benn in der nationalsozialistischen Presse, im Jahr darauf kommt es zu erneuten denunziatorischen Polemiken, am 18. März 1938 schließlich wird Benn aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen und mit Schreibverbot belegt. In der gleichgeschalteten Presse wird sein Name nicht mehr erwähnt, und für zehn Jahre, bis 1948, ist Benn für das literarische Leben in Deutschland nicht mehr existent. Schon als er Mitte 1937 seine Rückversetzung aus Hannover nach Berlin erreicht, meidet er Kontakte zu den Kreisen um die alte Akademie. Seit Januar 1938 in zweiter Ehe mit Herta von Wedemeyer, die er in Hannover kennen gelernt hat, verheiratet, teilt er sein Leben bis 1943 zwischen den geregelten Dienststunden beim Stab des Generalkommandos in der Bendlerstraße und den Abenden in der Schöneberger Privatwohnung, wenn er nicht lieber seine Stammkneipe aufsuchte. Die Korrespondenz mit Oelze wird intensiv fortgesetzt, auch von Landsberg an der Warthe aus, wohin im August 1943 Benns Dienststelle verlegt wird und wo er zusammen mit seiner Frau bis zum Januar 1945 bleiben wird. Dem Bremer Freund gehen laufend neue Gedichte und Prosawerke zur Verwahrung zu, und es ist nicht ohne Ironie, daß Oelze die Manuskripte im April 1945 in Fischerhude in Sicherheit brachte – bei Clara Rilke, über deren Mann sich Benn alles andere als freundlich geäußert hatte, auch gegenüber Oelze, zuletzt noch im Mai 1944. Die tiefste Erschütterung, die der Dichter in den Monaten der Niederlage und der Besetzung Deutschlands erfuhr, war der Freitod Herta Benns im Juli 1945. Das Gedicht „Orpheus’ Tod“ ist Zeugnis dieser Erschütterung, monatelang hat Benn im Jahr 1946 an diesem Text gearbeitet.
Die erste Publikationsmöglichkeit nach dem Krieg verdankt der Dichter dem Schweizer Verleger Peter Schifferli, dem Inhaber des Verlags Die Arche. Bei ihm erschien im Herbst 1948 der Band Statische Gedichte, die Sammlung fast des gesamten lyrischen Ertrags seit 1935, vierundvierzig Gedichte, und Text für Text von höchster künstlerischer Dignität. So bedeutend Benns Schaffen in den zwanziger und in den fünfziger Jahren gewesen ist, das Frühwerk und die Gedichte aus der Zeit der Verfemung sind die dichtesten, die wahrhaft inkommensurablen Teile seines Werks geblieben. Jeder der Texte in den Statischen Gedichten stellt sich dem Leser, mit Novalis zu sprechen, als ein Kunstindividuum dar, für das der Interpret die Formel zu suchen hat. Und doch, so groß die Gestaltungsvielfalt auch ist – von der in den zwanziger Jahren entwickelten achtversigen Strophe bis zu liedhaften kleinen Gebilden, von strengen, der Stanze verwandten Texten bis zu gelockerten, prosanahen Zeilenkompositionen, von zyklusartig angelegten Gedichtfolgen bis zu lakonisch knappen Kurzgedichten −, die Sammlung wird zusammengehalten durch den einen, unverkennbaren Bennschen Sprachgestus, der sich hier in unzähligen Variationen moduliert. Das Programmgedicht „Statische Gedichte“ nennt mit der Absage an zielorientierte Bewegungen, an Steigerungen in der Natur, planendes Handeln in der Geschichte, einige wenige Voraussetzungen von Benns Poetik in diesen Jahren. Aber der Rang der Statischen Gedichte hat, nicht anders als beim Frühwerk, damit zu tun, daß es hier zwar auch um artistische Abbreviaturen für Erfahrungen des Intellekts, mehr noch aber um solche für autobiographische, ja oft genug für existentielle Erfahrungen im umfassendsten Sinne geht, ohne daß sie darum unmittelbar Gedichtmotiv werden müßten. Benns Arbeitsweise ist komplex, aber wie immer es mit der Labor-Metaphorik in seinen späten dichtungstheoretischen Auslassungen bestellt sein mag, zwischen 1935 und 1948 bringt er jedenfalls mehr in sein Labor mit als zu anderen Schaffenszeiten. Reife und Reichtum teilen sich nun schlichtesten Zeilen mit, und zwei Linien wie „kleine Ordnungszeile / über Land geweht“ („Nasse Zäune“), inmitten eines Kontextes, der märkisch-dörfliche Landschaftsbilder heraufruft, erhalten plötzlich poetologisches Gewicht und sagen kaum weniger, vielleicht sogar mehr über Benns Poetik damals aus als der berühmte und folgenreiche Marburger Vortrag „Probleme der Lyrik“ (1951) oder als eine abstrakte Zusammenfassung wie „Anschauen, Prüfen, Bildersammeln −: Worte, / darin Zusammenhang, erfahrener Sinn: / ordnendes Sein: Gedichte –“ („Unanwendbar“; Sämtliche Werke, Bd. 1).
V
Von den in diese Auswahl aufgenommenen, unmittelbar ins Autobiographische weisenden Gedichten „Pastorensohn, 1886 und „Teils-teils“ ist das zweite gegen Ende 1944 entstanden. Schon seit dem Beginn der dreißiger Jahre und dann bis in die späten Schaffensperioden versteht Benn sich immer deutlicher als Repräsentanten aller Dichter seiner Generation. So gibt dieser Text nicht die individuellen, sondern die allgemeinen Bedingungen an, in die der Jahrgang 1886, in die auch Benn hineingeboren wurde. Er tut es nach der Weise des pars pro toto, und die Auswahl dessen, was im Text genannt wird und auf das Ganze verweisen soll, bedarf des Kommentars und der Deutung, wobei sich die Aufmerksamkeit vorab auf die von Sprache und Kunst redenden Abschnitte zu richten hätte. Aber der vorletzte Abschnitt zeigt, wo die unter denselben allgemeinen Voraussetzungen Angetretenen im Herbst 1944 halten, und das wichtigste Kriterium, nach dem sie klassifiziert werden, ist ihre Stellung im und zum nationalsozialistischen Deutschland:
1886 −
Geburtsjahr gewisser Expressionisten,
ferner von Staatsrat Furtwängler,
Emigrant Kokoschka,
Generalfeldmarschall v. W. (†)
Drei Entscheidungsmöglichkeiten gab es: sich anzupassen und entsprechend geehrt zu werden, zu emigrieren oder im Innern des Reichs Widerstand zu leisten – Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben war am 8. August 1944 wegen seiner Beteiligung am Attentat des 20. Juli hingerichtet worden (Benn irrt sich übrigens, v. Witzleben ist nicht 1886, sondern 1881 geboren). Nur indirekt teilen die Verse auch etwas über Benn selber mit: Staatsrat ist er nicht und Emigrant ist er auch nicht, wohl aber einer jener ,gewissen Expressionisten‘ und zugleich Angehöriger der Armee, über die v. Witzleben, wäre das Attentat geglückt, den Oberbefehl übernommen hätte. Benn, so darf man wohl folgern, sah 1944 seinen Platz im Bereich des militärischen Widerstands gegen Hitler. Noch verhüllter fällt der Rückverweis auf den Schreibenden selbst in jenen Gedichten aus, die sich mit Werk und Gestalt Friedrich Nietzsches auseinandersetzen. Mit der Kritik an den philosophisch-anthropologischen Grundbegriffen des Willens zum Leben, des Willens zur Macht, mit der Zurückweisung von Nietzsches Gedankenkonstruktion des Übermenschen kehrt Benn zur tragischen Anthropologie seiner Anfänge zurück. Fast verstohlen kommt jetzt und in den Spätjahren aber auch gelegentlich eine ethische Komponente ins Spiel, die oft bezeugte gütige und menschliche Haltung Benns als Arzt und seine weltanschaulichen Überzeugungen berühren sich nun manchmal oder, besser: sie geraten aneinander. Nach einem Besuch beim Vater im Juni 1937 schreibt er an Oelze:
Wirklich ein überirdischer Mann. Man kann sich dem garnicht entziehn. Eine Atmosphäre um ihn von letzter Transzendenz, die äußerste Entscheidungen fordert. Hat mich tief berührt. Stehe vor neuen Fragen u. Grundkrisen. Auch was Ihren Brief von gestern angeht: ist alles Schund, was von Menschen nicht hoch kann, nicht die letzte Höhe erreicht u. garnicht kennt? Darf es nicht doch Erbarmen fordern? Sehr wichtige Frage!
Aus dem Munde eines einundfünfzigjährigen Pfarrerssohns und Arztes eine merkwürdige Frage, ideologiegeschichtlich freilich erklärlich, sie klingt wie das Erwachen aus einem verstiegenen ideologischen Traum, der die alltagspraktische Erbarmensfähigkeit aus der Reflexion radikal verbannt hatte. Wir wissen doch, daß Benn um 1930 Arbeitslose nicht nur kostenlos behandelte, sondern ihnen mitunter auch noch die Kohlen bezahlte, daß die Prostituierten von der Friedrichstraße zu ihm kamen, weil er ihre Krankheiten sorgsam und für wenig Geld kurierte und ihnen ohne jeden Hochmut begegnete. In der Denktradition Nietzsches und des naturwissenschaftlichen Determinismus fehlte dem Dichter aber das intellektuelle Instrumentarium, um mit ethischen Fragen anders als ,nihilistisch‘, psychologisch-perspektivisch und die Werte umwertend umzugehen. Trotzdem muß er ein tiefes Empfinden dafür gehabt haben, daß das nicht ausreichte. Wie hatten schon die Morgue-Gedichte darauf insistiert, daß der Mensch ein Nichts sei, von Erde genommen, Erde zu werden bestimmt. Davon nimmt auch das späte Gedicht „Menschen getroffen“ kaum etwas zurück. Ärmlich und der Herdasche nahe leben sie, der Name „Popiol“ ist nichts als das polnische Wort für ,Asche‘, eine Maskierung gleichsam dessen, was in Wahrheit gilt, der Name „Babendererde“ führt die Bestimmung seines Trägers unmittelbar mit sich. Darüber aber irisieren andere, religiös konnotierte Bedeutungselemente, im Namen „Christian“, in der Wendung „reine Stirn der Engel“, im Hinweis auf Nausikaa, das antike Musterbild jungfräulicher Sanftheit, Schönheit und Unverletzlichkeit. Am Schluß des Gedichts lösen sich „das Sanfte und das Gute“ von Situationen und Charakteren und werden kategorial aufgefaßt:
Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.
Nun, das ist gewiß nicht von jenseits von Gut und Böse gesprochen, sondern von diesseits; keine Philosophie vermag sie wegzudisputieren und zu relativieren. Ihren Ursprung weiß der Sprechende nicht, aber er hat sie wahrgenommen, und das ist mehr, jedenfalls in Anbetracht des Weges, den Benn dahin zurückgelegt hat.
VI
Von 1948 an bis zu seinem Tode blieb Benn, dank der Bemühungen zunächst des Arche-Verlags, sodann des konsequent für sein Werk sich einsetzenden Limes Verlags Max Niedermayers, der meistdiskutierte Lyriker in Westdeutschland. Obgleich sein Spätwerk mit der Ära Adenauers, mit der Mentalität der Wiederaufbaujahre und der abendländischen Erbaulichkeit wenig zu tun hat, im Gegenteil höchst empfindlich auf jeden Konformismusdruck reagierte – das, unter anderem, hat Adorno in der zitierten Antwort an Rühmkorf mitgemeint −, spielt Benns Name in den ideologischen Auseinandersetzungen der fünfziger Jahre eine erhebliche Rolle; aber wie im Falle Brechts und Becketts die Werkcharaktere das stärkste Argument gegen das damals beliebte plakative Gegeneinandersetzen der Namen darstellen, so auch bei Benn, etwa in den Kontroversen über ,reine‘ und ,engagierte‘ Lyrik. Die in den Sammlungen Fragmente (1951), Destillationen (1953) und Aprèslude (1955) veröffentlichten Gedichte der letzten Lebensjahre bewahren, unter spürbarer Entspanntheit, den Formenreichtum der vorausgegangenen Werkepoche, ihre Zeitkritik wandelt sich von Polemik in Ironie, der Abstand von lyrischem und empirischem Ich verringert sich. Das Problem des Alterns ist nicht nur Gegenstand der Bennschen Prosa, sondern auch Gedichtmotiv; und häufiger als zuvor meldet sich die Frage nach dem Anderen, dem Nebenmenschen an: dem Künstler-Ich, das sein Außenseitertum, seine durch Schicksal und Auftrag verhängte Isolierung akzentuiert hatte, waren die Anderen primär Objekt und als Teil der im Ich-Ausdruck zu überwindenden Lebenswelt im Wege. Jetzt heißt es in einem Text von 1950: „du hast dich zwar gerettet, / doch wen rettetest du?“ („Die Gitter“). Das Problem, wie es mit der Legitimation der Kunst bestellt sei, läßt auch den späten Benn nicht los. Nicht unabhängig davon scheint mir, daß Aspekte zwischenmenschlicher Kommunikation im Spätwerk stärker thematisiert werden als zuvor, der über Jahrzehnte hin gelungene Austausch mit F.W. Oelze mag darauf nicht ohne Einfluß gewesen sein. Ende 1946 geht Benn mit der fünfundzwanzig Jahre jüngeren Zahnärztin Dr. Ilse Kaul seine dritte Ehe ein, und er nennt sie nicht nur, in einem Brief an Oelze, „völlig als ebenbürtig“, die späte Korrespondenz weist es auch aus, daß Ilse Benn in sehr viel intensiverer Weise in die geistige Welt des Lyrikers und in seine Probleme als Künstler hineingezogen wurde; alles deutet darauf, daß es in diesen Jahren um Benn weit dialogischer zuging als zuvor. Das bedeutet nun nicht, daß Benn seine alte These vom „monologischen Zug“ des modernen Gedichts aufgegeben hätte, das gewiß nicht, nur das Klima, das in diesen späten Gedichten herrscht, mutet im Ganzen gesprächsoffener an, durch das nicht seltene Spiel von Frage und Antwort etwa, oder durch Wendungen des Meinens und Vermutens.
In den poetologischen Äußerungen findet sich freilich kaum ein Niederschlag dieser etwas veränderten Haltung. Sie sind Variationen, oft geradezu Zitate dessen, was schon in den „Problemen der Lyrik“ steht. Das gilt überwiegend auch für die letzte Zusammenfassung der eigenen Position. Am 15. November 1955 diskutiert Gottfried Benn mit Reinhold Schneider über das Thema: Soll die Dichtung das Leben bessern? Unter einem ähnlich lautenden Titel – „Können Dichter die Welt ändern?“ – hatte Benn sich schon 1930 dazu öffentlich geäußert und die Frage verneint. Dichtung, so hatte er damals gesagt, „erwirkt“ das äußerste Bild von einer letzten dem Menschen erreichbaren Größe: „Diese Größe will nicht verändern und wirken, diese Größe will sein.“ Von der „individuellen Monomanie“ des Dichters ist die Rede, von den „Autonomien“, die er hervorbringt. Von da ist es nur noch ein Schritt zum „monologischen Gedicht“ in den „Problemen der Lyrik“ zwanzig Jahre später. Dabei bleibt es auch 1955. Aber es gibt hier einige neue Sätze, die, ohne die alte Position aufzugeben, doch eine bemerkenswerte Erweiterung zum Inhalt haben:
Also, werden Sie nun vielleicht denken, der Redner beantwortet die an ihn gestellte Frage schlechtweg negativ. Nein, das tut er nicht. Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenderes: sie verändert. Sie hat keine geschichtlichen Ansatzkräfte, wenn sie reine Kunst ist, keine therapeutischen und pädagogischen Ansatzkräfte, sie wirkt anders […]. Alle Dinge wenden sich um, alle Begriffe und Kategorien verändern ihren Charakter in dem Augenblick, wo sie unter Kunst betrachtet werden, wo sie sie stellt, wo sie sich ihr stellen. Sie bringt ins Strömen, wo es verhärtet und stumpf und müde war, in ein Strömen, das verwirrt und nicht zu verstehen ist, das aber an Wüste gewordene Ufer Keime streut, Keime des Glücks und Keime der Trauer.
Diese Veränderung erfaßt gewiß zunächst den Dichter selbst, den alternden zumal, der desto emotionaler die schöpferischen Augenblicke heraufruft, je mehr er ein Nachlassen der produktiven Energien fürchtet; sie erfaßt aber auch alle anderen, die an der Leben und innere Bewegtheit erweckenden Kraft der Dichtung teilhaben wollen. Damit hat Benn für seine eigene Poesie eine Antwort auf die selbst gestellte Frage „doch wen rettetest du?“ gefunden, und wer diese Antwort genau liest, wird in ihr nicht nur die Stimme des Dichters, sondern auch die des Arztes vernehmen, leise tönt sie mit. Benns Beitrag zur Rundfunkdiskussion am 15. November 1955 ist auch ein Schlußwort. Am 7. Juli 1956 stirbt Gottfried Benn siebzigjährig in Berlin.
Christoph Perels, Nachwort
bis zur späten Lyrik der fünfziger Jahre enthält der Band einen repräsentativen Querschnitt durch Gottfried Benns lyrisches Werk, ergänzt durch den berühmten Vortrag von 1955: „Soll die Dichtung das Leben bessern?“.
Philipp Reclam jun. Stuttgart, Klappentext, 1988
Gottfried Benn – Arzt und Dichter – lebte von 1886–1956. Er begann als Expressionist und bereits hier klang seine Stimme deutlich aus dem Chor der vielen hervor. Später fand Benn seinen eigenen Weg und Stil und wird so zu DEM Deutschen Dichter der Moderne, dessen Einfluss auf die Literatur weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein spürbar bleibt.
Der vorliegende Band bieten einen Querschnitt durch Benns lyrisches Schaffen. Die Auswahl beginnt mit einigen von Benns berühmten Morgue-Gedichten, die in ihrer lakonischen Art, dem Menschen seine eigene Materialität und Vergänglichkeit vor Augen zu führen, immer noch schockierend wirken, und enthält zahlreiche der berühmtesten Gedichte Benns, so z.B. „Astern“, „Das Ganze“ und „Chopin“. Einige der Gedichte erschliessen sich dem Leser eher leicht, die meisten aber erfordern viel Überlegung und Hintergrundwissen – Benns Beschäftigung mit der Philosophie Nietzsches und mit den Naturwissenschaften hat Einfluss auf seine Lyrik, so dass es nicht einfach ist, Benns Horizont zu verstehen. Der Herausgeber lässt den Gedichten noch ein Benn-Vortrag aus dem Jahre 1955 folgen. Hier erklärt Benn wichtige Aspekte seiner Auffassung von Poesie. Dieser Text und ein umfangreiches Nachwort des Herausgebers Christoph Perels erhellen manche Zusammenhänge und machen die Beschäftigung mit Benns Gedichten noch interessanter.
Weshalb nicht fünf Sterne? Der Herausgeber hat Benns lyrisches Schaffen in vier Zeitabschnitte eingeteilt: 1912-1921; 1922-1932, 1933-1946 und 1947-1955. Warum gerade diese Zeiteinteilung gewählt wurde, bleibt weitgehende unbegründet, aus dem Nachwort von Christoph Perels lässt sich einiges dazu erschliessen, aber man hätte sich doch gewünscht, sowohl Einteilung als auch Auswahl wären besser begründet worden. Auch sonst vermisst man genauere editorische Hinweise: So ist z.B. – mit wenigen Ausnahmen – nicht ersichtlich, wann genau und wo ein einzelnes Gedicht erstmals erschienen oder wann es entstanden ist. Auch könnte die Literaturhinweise einmal wieder auf den neuesten Stand gebracht werden.
Insgesamt: empfehlenswert für alle, die sich ein Bild über das lyrische Schaffen Benns machen wollen.
„Die Dichtung bessert nicht, aber sie tut etwas viel Entscheidenders: Sie verändert.“
Die weiche Bucht. Die dunklen Wälderträume.
Die Sterne, schneeballblütengroß und schwer.
Die Panther springen lautlos durch die Bäume.
Alles ist Ufer. Ewig ruft das Meer −
Gottfried Benn, vielleicht der erste große deutsche Dichter der Moderne, wird bis zum heutigen Tag hauptsächlich als wichtigster Vorreiter und Vertreter des Expressionismus gesehen und ist vor allem dafür bekannt, dass er in seinen frühen Gedichte neue Tabuthemen wie Verwesung, Krankheit, körperliche Prozesse und ärztliche Detailuntersuchungen auf den Plan brachte; und obwohl man mit diesen Gedichten nur ein Drittel seines Gesamtwerks erfasst – den frühsten, drängendsten Teil – scheint er auf diese frühen Werke unwiderruflich abgestempelt zu sein. Ich selbst wurde damals im Deutschunterricht lediglich mit „Mann und Frau gehen durch die Krebsbaracke“ konfrontiert, einem Gedicht, das ich, wie ich direkt klarstellen will, ganz scheußlich finde; es ist ein schlechtes, das Werk Benns kein bisschen wiedergebendes Gedicht, vielleicht expressiv-innovativ oder historisch interessant, aber lyrisch ohne Wert.
Niemand ist Alles auf Erden.
In die Blüte des Lichts,
in die Aue des Werden,
strömt die Seele ihr Nichts
Wie dann die Stunden auch hießen,
Qual und Tränen des Seins,
alles blüht im Verfließen
dieses nächtigen Weins
Warum wird Benn oft allein als dieser Dichter frühster Stunde gesehen, warum werden seine heute fragwürdigen „Innovationen“ als seine größten lyrischen Triumphe gefeiert, wo er doch in reiferen Jahren so tiefsinnige und ehrliche Verse geschrieben hat. Ich weiß es nicht. Aber ich kann es mir denken. Denn auch mich hat es Überwindung gekostet, mich durch die frühen Gedichte zu wühlen; nicht durch alle, denn es sind sie nicht alle schlecht, aber so manche blutleere und von Schlamm übersprudelnde Quelle unpoetischer Verbalisierungen ist muss man überspringen, wenn man die guten frühen Gedichte herausfiltern will.
Und das kann zu dem Gedanken verleiten, es gehe weiter wie es anfängt. Und genau da liegt der große Irrtum, von dem ich hoffe, dass letztlich vielleicht nur ich und wenige andere ihm aufgesessen sind und für die meisten diese Mahnung lächerlich ist – es würde mich freuen! (Übrigens: Wer sich jetzt irgendwie angegriffen fühlt: Wenn sie Benn schon entdeckt haben oder seine frühen Werke mögen – ich spreche von mir aus und ich schreibe dies hier aus Sorge und nicht aus dem Wunsch nach Polemik)
Zwei Welten stehn in Spiel und Widerstreben,
allein der Mensch ist nieder, wenn er schwankt,
er kann vom Augenblick nicht leben,
obwohl er sich dem Augenblick verdankt;
Panta rhei – Alles fließt. Diesen Satz könnte man, weiß auf schwarzem Marmor, als Einband für Benns mittlere und spätere Gedichte benutzen, als Stichwort, als Motto, als Credo. Hauptsächlich haben diese Gedichte nichts mehr mit den frühen Werken aus Morgue oder Schutt gemein, außer vielleicht den Hang zu kulturellen Anspielungen und der immer noch kräftig wirkenden, am Zügel gehaltenen Sprache. Man kann sich bei den meisten förmlich vorstellen, wie ein älterer, weiser, ruhiger Mann an einem Tisch sitzt und die Reime ihm aus der Feder fließen, hinein in die Ewigkeit der Bücher.
Es geht um Metaphysik und um den Wunsch zu entkommen oder zu bleiben. Eins von beidem will gelingen, aber beides steht dem Menschen nur scheinbar offen. („Wenn Du noch Formen willst, / um nicht zu enden, / wenn Du noch Normen stillst, / statt dich zu wenden.“) Die Angst ist kein Wegweiser, aber sie hält uns klein. Der Tod ist kein Übel, aber er ist das Ende des Lebens, wie wir es kennen. Das einzige, was es gibt, ist das Andere, das Leere und du.
Vor keiner Macht zu sinken,
vor keinem Rausch zur Ruh,
du selber bist Trank und Trinken,
der Denker, du.
Gewiss, dieser kleine Themeneinblick ist nichts, was einen zärtlich oder freudig stimmt. Aber es stimmt einen nachdenklich und ist wundervoll zu lesen, als würden sich die Reime Sinn und Wort zugleich reichen. Und immer wieder erscheinen Verse, die einen wie der Ton einer tiefen Glocke treffen, weithin gut zu hören, durch Jahre, Zeit und Papier – und andere, die begegnen einem wie ein Gedanke in der Nacht, wenn man in völliger Dunkelheit am Fenster steht, Verse wie:
Die dunklen Fluten enden,
als Fremdes, nicht dein, nicht mein,
sie lassen dir nichts in den Händen,
als der Bilder schweigendes Sein.
Die Fluten, die Flammen, die Fragen −
und dann auf Asche sehn:
„Leben ist Brückenschlagen
über Ströme, die vergehn“.
Knapp könnte man sagen: Die Gedichte haben etwas Meditatives. Noch später kommen sogar einige erzählende, geradezu leichte, reimlose Gedichte auf, aber auch diese haben eine Art, einen nicht loszulassen mit ihrem Fluss, ihrem Gedankengut, ihren beobachtenden Augen.
Der sah dich hart, der andre sah dich milder,
der wie es ordnet, der wie es zerstört,
doch was sie sahn, das waren halbe Bilder,
da dir das Ganze nur allein gehört.
Ich glaube, dass Benn in seinem Spätwerk zu den größten Dichtern Deutschlands gehörte und gehört. Mag sein Werk auch düster und über die Melancholie hinaus sogar kalt sein; nur in dieser Dunkelheit konnte diese dunkelrote Note entstehen, die ein paar seiner Verse zu dem trefflichsten und ausgeglichensten machen, was ich in der deutschen Sprache bisher an Lyrik lesen durfte. Vor allem die letztgenannte Ausgeglichenheit, selbst schon in frühen Gedichten teilweise vorhanden, ist ein Merkmal Benns das immer wieder zu verblüffen weiß – der klare Ton, die tiefe Stimme.
Es ist ein Knabe, dem ich manchmal trauere,
der sich am See in Schilf und Wogen ließ,
noch strömte nicht der Fluß, vor dem ich schauere,
der erst wie Glück und dann vergessen hieß.
Es ist ein Spruch, den oftmals ich gesonnen,
der alles sagt, da er dir nichts verheißt −
ich habe ihn auch in dies Buch versponnen,
er stand auf einem Grab: „tu sais“ – du weißt.
Der Lyriker Gottfried Benn (1886–1956) wird als moderner Klassiker der Dichtung eingestuft. Sein Werk gehört durch seine Sprachkraft und seine theoretischen Reflexionen zur literarischen Avantgarde seiner Zeit.
Der Lyriker hat stets einen sozialen Auftrag für sein Werk abgelehnt.
Er verspricht nichts, ruft keine Massen auf, legt lediglich Ergebnisse seiner Zwänge vor. Benn lädt, wenn überhaupt, allenfalls zu Besichtigung einer Sackgasse ein. Seine Gedichte beinhalten eine Menge sozialkritisches Material, doch dies ist letztlich nicht das Thema des Dichters.
Benns politisches Engagement in der NS-Zeit bestand darin, dass er nicht mitmachte, die Gegenwelten nicht zu verkleistern suchte, sondern Kunst produzierte, reine Kunst, so rein wie Kunst sein kann, nicht zuletzt, weil er der Überzeugung war, dass reine Kunst durch ihre bloße Existenz für Humanismus zeugt.
Um das Können des großen Spachvirtuosen zu dokumentieren, habe ich folgendes seiner Gedicht ausgewählt.
NUR ZWEI DINGE
Durch so viele Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?
Das ist eine Kinderfrage.
Dir wurde erst spät bewußt,
es gibt nur eines: ertrage
− ob Sinn, ob Sucht, ob Sage −
dein fernbestimmtes: Du musst.
Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.
Benns analytisch-scharfsinnige Betrachtungen, so etwa in seinem Gedicht „Chopin“, schmälern die Poesie seiner Verse erstaunlicherweise keineswegs.
Benn war ein Wegbereiter der Moderne in der Lyrik. In seinen Gedichten kommt gut die Entfremdung zum Ausdruck, die in der abschreckenden Rationalität der Moderne gründet, wurzelt. Aber dementsprechend sind auch seine Gedichte: sie trösten nicht, sie berühren nicht, sie weisen nicht zu neuen Horizonten, sie beflügeln nicht, sie… Kurzum: man kann eigentlich nicht genau sagen, weshalb man sie lesen sollte, ebensowenig wie man sagen kann, weshalb ein Mann mit der Weltauffassung, die Benn zu eigen war, eigentlich Gedichte schrieb?
Um nicht so arg ungebildet zu sterben, sollte man sie vielleicht doch kennen. Hierzu reicht aber dieser Reclam-Band vollkommen aus.
Kankin Gawain, amazon.de, 11.8.2007
Georg R. Lind: Um eins gleich klarzustellen: ich werde Sie nicht fragen, ob Sie Nihilist sind oder nicht. Über Nihilismus ist in den letzten Jahren gerade genug geredet worden.
Gottried Benn: In der Tat, diese Frage ist genauso inhaltlos, wie es die Frage wäre, ob ich Schlittschuhläufer sei oder Briefmarkensammler. Es kommt nämlich darauf an, was man aus seinem Nihilismus macht. Sonja Henie und Maxie Herber bei den Pas des Patineurs – die goldene Suaheli in der Philatelie – und der Ausdruck in der geistigen Welt – immer das Reinste, immer das, wo die Vollendung am nahesten. Stil ist der Wahrheit überlegen, er trägt in sich den Beweis der Existenz. Form: in ihr ist Ferne, in ihr ist Dauer.
Lind: Einen Augenblick. Sie sprechen von Stil und Form: wo gibt es dergleichen bei uns? „Wir haben Goethe und Ansätze“, sagte Hofmannsthal. Literarische Kontinuität: das war kein deutscher Exportartikel. Und Stil? Wo soll die junge Generation überhaupt anschließen? Thomas Mann: zu ausladend, zu weit verästelt, für solche Spinnwebereien fehlt es an Geduld; Ernst Jünger ist unter die Alchimisten gegangen: vermittels kostbarer Metaphern macht er Gold aus Alpaka.
Benn: Der Stil der Zukunft wird der Roboterstil sein. Montagekunst. Der bisherige Mensch ist zu Ende. Biologie, Soziologie, Familie, Theologie, alles verfallen und ausgelaugt, alles Prothesenträger. Das Getue in den Romanen, als ob es an sich weiterginge und etwas geschähe, mit dem altmodischen Begriff des Schicksals oder dem neumodischen einer autochthonen gesellschaftlichen Bewegung, ist Unfug. Es geht nichts an sich weiter und es geschieht nichts, der Mensch stockt und arbeitet – der Künstler ist es, der weiter muß, der sammelt, gruppiert. Nur so schafft er etwas jenseits von Relation und Ambivalenz.
Lind: Was heißt Montagekunst?
Benn: Der Mensch muß neu zusammengesetzt werden aus Redensarten, Sprichwörtern, sinnlosen Bezügen, aus Spitzfindigkeiten, breit basiert: Ein Mensch in Anführungsstrichen. Seine Darstellung wird in Schwung gehalten durch formale Tricks, Wiederholungen von Worten und Motiven. – Einfälle werden eingeschlagen wie Nägel und daran Suiten aufgehängt. Herkunft – Blödsinn! Schwarzwald oder Königsberg, das hat jeder! Jetzt werden Gedankengänge gruppiert, Geographie herangeholt, Träumereien eingesponnen und wieder fallen gelassen. Nichts wird stofflich-psychologisch mehr verflochten, alles angeschlagen, nichts durchgeführt. Alles bleibt offen, Antisynthetik, Verharren vor dem Unvereinbaren.
Lind: Da werden die Blu-boisten Augen machen. Fürchten Sie nicht, daß die Verleihung des Goethepreises an Sie Verzögerungen erfährt?
Benn: Es ist provinzielle Unterentwickeltheit des Künstlers, zu erwarten, daß die Öffentlichkeit sich für ihn interessiert, ihn ökonomisch unterstützt, seinen 60. Geburtstag mit Banketts und Blattpflanzen feiert. Er wütet in sich herum – wer müßte ihm das danken? Ich stimme daher der Monetschen Sentenz zu: il faut décourager les arts – und James Joyce variiert einen Talmudspruch: „Wir Juden sind wie die Olive; wir geben unser Bestes, wenn wir zermalmt werden, wenn wir unter der Last unserer Fronden zusammenbrechen.“ Das gilt nach seiner Meinung für die Künstler. Das sind gesunde Ideen! Man unterscheide doch endlich zwischen Kunstträgern und Kulturträgern; das schlug ich schon in einem meiner Bücher vor 15 Jahren vor. Der Kunstträger ist statistisch asozial, lebt nur mit seinem inneren Material. Er ist ganz uninteressiert an Verbreiterung, Flächenwirkung, Aufnahmesteigerung, an Kultur. Er ist kalt, das Material muß kaltgehalten werden, er muß ja die Ideen, die Wärme, denen sich andere menschlich überlassen dürfen, kaltmachen, härten, dem Weichen Stabilität verleihen.
Lind: Wer treibt Ihrer Meinung nach den neuen Stil vorwärts?
Benn: Ich nenne Perse, Auden, Lautréamont, Palinurus, Langston Hughes, Henry Miller, Elio Vittorini, Majakowski (ohne Bolschewismus), einige junge Deutsche aus dem Freiburger Kreis.
Lind: Noch eins: Sie sind Naturwissenschaftler in Problemstellung und Diktion. Wieweit halten Sie naturwissenschaftliche Studien für die jüngere Generation für unerläßlich?
Benn: Für meine Generation war der Durchgang durch die physikalisch-chemische Denkweise unerläßlich, ob es für die heutige ist, ist mir fraglich. Mir scheinen Genetik und Paläontologie wichtiger, ebenso die Kulturmorphologie. Übrigens hat sich die Situation der Naturwissenschaften grundsätzlich geändert, die moderne Physik ist ebenso Mathematik wie Metaphysik, Planck ist Kepler und Kierkegaard in einem.
Lind: Und wenn Sie selbst den Geist Ihrer Bücher in einem einzigen Satz zusammenfassen würden, welcher würde das sein?
Benn: Ein Satz aus dem „Ptolemäer“: „Du stehst für Reiche, nicht zu deuten, und in denen es keine Siege gibt.“
Aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Band VII/1, Klett-Cotta, 2003
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt, Merkur, Heft 18, August 1949
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt (II), Merkur, Heft 19, September 1949
Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957
L.L. Matthias: Erinnerungen an Gottfried Benn, Merkur, Heft 171, Mai 1962
Nico Rost: Begegnungen mit Gottfried Benn, Merkur, Heft 218, Mai 1966
Nino Franks Bericht über seinen Besuch bei Benn, Merkur, Heft 398, Juli 1981
Walter Aue: „Das ist Bahia, am Meer“. Wege zu Gottfried Benn
Norbert Hummelt: Auf einen Sprung zu Gottfried Benn
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Gottfried Benn
Helmut Böttiger: Gottfried Benn – Kleine Aster und andere Gedichte
Gottfried Benn: Kleine Aster – Gedichte und Prosa. Ulrike Draesner und John von Düffel im Gespräch mit Anja Brockert am 21.01.2019 im Literaturhaus Stuttgart.
Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011
Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.
Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946
Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956
Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966
Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966
Bruno Hillebrand: Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod
Neue Deutsche Hefte, Heft 110, 1966
Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976
Jürgen P. Wallmann: „Der Ruhm hat keine weissen Flügel“
Die Tat, 30.4.1976
Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976
Heinz Friedrich: Plädoyer für die schwarzen Kutten
Merkur, Heft 30, 1976
Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986
Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986
Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006
Jörg Drews: Das Gegenteil von ,gut gemeint‘
Tages-Anzeiger, 4.7.2006
Cornelius Hell: Persönlich, poetisch, politisch
Die Furche, 29.6.2006
Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.
Guten Tag
was für eine grandiose website zu Benn, die ich leider erst heute, aber immerhin, entdeckt habe.
Vielen Dank! ! !