GEDICHT
Und was bedeuten diese Zwänge,
halb Bild, halb Wort und halb Kalkül,
was ist in dir, woher die Dränge
aus stillem trauernden Gefühl?
Es strömt dir aus dem Nichts zusammen,
aus Einzelnem, aus Potpourri,
dort nimmst du Asche, dort die Flammen,
du streust und löschst und hütest sie.
Du weißt, du kannst nicht alles fassen,
umgrenze es, den grünen Zaun
um dies und das, du bleibst gelassen,
doch auch gebannt in Mißvertraun.
So Tag und Nacht bist du am Zuge,
auch sonntags meißelst du dich ein
und klopfst das Silber in die Fuge,
dann läßt du es – es ist: das Sein.
„Die Dinge mystisch bannen durch das Wort“
Der „Prolog“ (,Prolog zu einem deutschen Dichterwettstreit‘), eines der Gedichte Gottfried Benns aus der Zeit um 1920, beginnt mit den Strophen:
Verlauste Schieber, Rixdorf, Lichtenrade
Sind Göttersöhne und ins Licht gebeugt,
Freibier für Luden und Spionfassade –
Der warme Tag ist’s, der die Natter zeugt:
Am Tauentzien und dann die Prunkparade
Der Villenwälder, wo die Chuzpe seucht:
Fortschritt, Zylinderglanz und Westenweiße
Des Bürgermastdarms und der Bauchgeschmeiße.
Jungdeutschland, hoch die Aufbauschiebefahne!
Refrains per Saldo! Zeitstrom, jeder Preis!
Der Genius und die sterblichen Organe
Vereint beschmunzeln ihm den fetten Steiß.
Los, gebt ihm Lustmord, Sodomitensahne
Und schäkert ihm den Blasenausgang heiß
Und singt dem Aasgestrüpp und Hurentorte
Empor! (zu Caviar). Sursum! (zur Importe.)1
Es sind die Dichter im Chaos der Nachkriegszeit, im Strudel von Korruption und Schiebertum und von Orgien des Berliner Nachtlebens, die in diesem Gedicht zynisch angefeuert werden. „Schon damals stellte sich die Frage: ist das noch Lyrik?“2 Es ist Lyrik im schnoddrigen Jargon des Milieus selbst, geschrieben auf der „Schädelstätte Abendland“, wie es in einem anderen Prologgedicht, „Prolog 1920“, heißt.
Totale Auflösung, monströseste Konglomerate,
neurotische Apokalypsen, transhumane Foken,
Jaktation, hybridestes Finale […]
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. II, S. 51)
Schon als Autor der Sammlung Morgue und andere Gedichte (1912) hatte der Arzt Gottfried Benn, etwa in „Kleine Aster“ oder „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“, medizinische Pathologie und die Haltung des Sezierenden bis zur Schmerzgrenze des Schocks getrieben, aber auch mit dem ersten der drei „Gesänge“ aus dem Jahre 1913 einen Regressionswunsch in provozierenden Bildern enthüllt:
O daß wir unsere Ururahnen wären.
Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor.
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. 1, S. 23)
Jetzt werden die naturwissenschaftlichen Deutungsmuster des 19. Jahrhunderts mit Hohn verabschiedet, werden die Bewußtseinslage am Übergang von der Wilheminischen Ära zur Weimarer Republik und eine tollhausreife Demimonde gnadenlos analysiert. Der Begriff „Abendland“ kommt vor 1920 bei Benn nicht vor; wohl beeindruckt vom ersten Band der Morphologie der Weltgeschichte von Oswald Spengler, vom Untergang des Abendlandes (1918), versteht Benn darunter den okzidentalen Kulturkreis (Holthusen)3 Alles deutet ihm auf den Abgesang, das „Finale“ des Abendlandes.
Benns aufputschender Beifall für den Sänger des moralischen Sumpfs und der hemmungslosen Lüste im „Prolog zu einem deutschen Dichterwettstreit“ ist also Ausdruck kulturkritischer Emphase und setzt auf die schonungslose Selbstenthüllung dichterischer Scharlatanerie in der Nietzsche-Nachfolge, etwa in Hugo Balls „Der Literat“, noch einmal eine zynische Pointe.4 Polemisch, ja rabiat wird die Sprache im Gedicht „Innerlich“:
Das Dichterpack, der abgefeimte Pöbel,
das Schleimgeschmeiß, der Menschheitslititi,
ein Stuhlbein her, ein alter Abtrittsmöbel,
ein Schlag – der Rest ist Knochenchirurgie.
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. II, S. 56)
Die desillusionierende Sicht wird beibehalten auch in der poetologischen Lyrik der „Neuen Sachlichkeit“ während der zwanziger Jahre. Doch weicht das emphatische dem unterkühlten, geradezu geschäftsmäßigen Sprechen. Um etwas wie den Handel mit ,Effekten‘ geht es in Erich Kästners „Geständnis einiger Dichter“:
Wir reisen in Gefühl wie Ihr in Seife.
Wir dekorieren jeden Schrei und Schmerz –
geschmackvoll, wie wir sind – mit Kranz und Schleife.
Und schlachten dreimal täglich unser Herz.
Wir sind, pfui Teufel! eine üble Sorte.
Die Sehnsucht wird bei uns nach Maß bestellt.
Was auch geschieht – wir machen daraus Worte.
Was auch passiert – wir machen es zu Geld.5
Unverblümt wird vom Warencharakter der Kunst gesprochen, als Handlungsreisende stellen sich die Dichter vor. Für die Seele bieten sie seifiges Gefühl; den Schmerz machen sie, nach dem Muster von Begräbnisinstituten, durch dezente Trauerrequisiten erträglich; Sehnsuchtsbedürfnisse beliefern sie nach Wunsch. Die Selbstbeschimpfung im „pfui Teufel!“, die mit der Schamgebärde nur kokettiert, soll glaubhaft machen, daß mit offenen Karten gespielt wird: alles läßt sich ,verworten‘ (hier ist der ärgerliche Begriff einmal am Platze), Dichtung ist nur eine unter vielen Sparten des Kommerz.
Solch radikale Offenheit gerät unweigerlich in Konflikt mit dem Geschmack von Bildungsphilistern und Kleinbürgern, mit ästhetischen Mustern, auf die sich der Staub gelegt hat. Dem entrüsteten Publikum antwortet Kästner im Gedicht „Und wo bleibt das Positive, Herr Kästner?“:
Die Spezies Mensch ging aus dem Leime
und mit ihr Haus und Staat und Welt.
Ihr wünscht, daß ich’s hübsch zusammenreime,
und denkt, daß es dann zusammenhält?
Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.
Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.6
Die Weigerung, über die Brüche und Widersprüche in der gegenwärtigen Welt beschwichtigend hinwegzureimen, entspringt einem aufklärerischen Impuls, der sich bei Erich Kästner vor allem im satirischen Gedicht entfaltet, in persiflierenden und salopp-didaktischen Versen, die gegen politische Unverbesserlichkeit, gegen Untertanentum und Militarismus die Ansichten des gesunden Menschenverstandes durchzusetzen suchen, sich also – wie Kästner selber sagt – als „Gebrauchslyrik“ verstehen und der jungen Demokratie in Deutschland und der schon rasch wieder gefährdeten Republik geistig verbunden sind.
Weder an den politischen noch den gesellschaftlichen Schwierigkeiten der Weimarer Republik und der Demokratie interessiert ist Gottfried Benn, was dann um 1933 seine paradoxen Folgen in Benns vorübergehendem Paktieren mit dem Hitlerregime hat. Nicht als soziales, sondern als zerebrales Wesen wird der Dichter gesehen („Der Sänger“, entstanden spätestens November 1925):
heute ist er Zersprenger
mittels Gehirnprinzips,
stündlich webt er im Ganzen
drängend zum Traum des Gedichts
seine schweren Substanzen
selten und langsam ins Nichts.
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I, S. 55)
In Benns lyrischen Texten der dreißiger Jahre macht poetologische Reflexion sich rar, ausgenommen das Gedicht „Verse“ (Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I, S. 184f.), das den Gedanken der Unsterblichkeit von Poesie an den Liedern der Völker demonstriert: sie sind es, die „Völkerstreit“ und „Macht und Mörderbund“ überdauern und jene „Träume“ der Völker bauen, „die sie der Niedrigkeit entrücken“. Der auf den ersten Blick konventionelle Gedanke verweist schon auf eine Beurteilung der Geschichte, die sich nach einer Durchgangsphase, in der Benn „den Irrweg einer vermeintlichen Affinität seines eigenen Denkens zur nationalsozialistischen Idee“ beschritt, in der Auffassung verfestigt, daß Dichtung „nicht in die Geschichte als bloßen Ablauf verwickelt“ ist – wobei aber die „völlige Ungeschichtlichkeit des lyrischen Ich“ nicht ausschließt, daß „es andererseits mit der akkumulierten Geschichte von Jahrtausenden beladen“ ist (Allemann).7 Geschichte von Jahrtausenden wird in einem Gedicht aus dem Oktober oder November 1941, „Gedichte“, an einigen besonderen Fällen exemplifiziert.
Im Namen dessen, der die Stunden spendet,
im Schicksal des Geschlechts, dem du gehört,
hast du fraglosen Aug’s den Blick gewendet
in eine Stunde, die den Blick zerstört,
die Dinge dringen kalt in die Gesichte
und reißen sich der alten Bindung fort,
es gibt nur ein Begegnen: im Gedichte
die Dinge mystisch bannen durch das Wort.
Am Steingeröll der großen Weltruine,
dem Ölberg, wo die tiefste Seele litt,
vorbei am Posilipp der Anjouine,
dem Stauferblut und ihrem Racheschritt:
ein neues Kreuz, ein neues Hochgerichte,
doch eine Stätte ohne Blut und Strang,
sie schwört in Strophen, urteilt im Gedichte,
die Spindeln drehen still: die Parze sang.
Im Namen dessen, der die Stunden spendet,
erahnbar nur, wenn er vorüberzieht
an einem Schatten, der das Jahr vollendet,
doch unausdeutbar bleibt das Stundenlied –
ein Jahr am Steingeröll der Weltgeschichte,
Geröll der Himmel und Geröll der Macht,
und nun die Stunde, deine: im Gedichte
das Selbstgespräch des Leides und der Nacht.
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I, S. 186)
Für einen Augenblick drängt sich beim Lesen des siebten und achten Verses eine Reminiszenz mit ein, die Erinnerung an Eichendorffs Vierzeiler „Wünschelrute“, in dem wir einen mystischen Zusammenhang zwischen dem Kern der Dinge und der dichterischen Sprache angedeutet fanden: der Dichtermagier hebt ins Lied, was in den Dingen noch verborgen ist, noch ungeweckt. Aber von einer ähnlichen mystischen Erweckung spricht Benn gerade nicht.8 Es ist ja etwas Zerstörerisches, Kaltes, Bindung und Ordnung Zersprengendes, dem das Gedicht begegnet. Und nun zeigt sich, wie sehr frühere Textvarianten hier das Verständnis des Gedichts klären helfen.9 In einem früheren, zweiten Entwurf hieß es:
Es gibt nur eine Abwehr: im Gedichte
die Dinge mystisch bannen durch
[…]
das Wort.
Das Gedicht stellt sich also der Erfahrungswelt entgegen; es ist nicht Wünschelrute, sondern Zauberspruch, der den bösen Zauber der Dinge bannt, unschädlich macht.
Der Text gehört zur Gruppe der sogenannten „Biographischen Gedichte“ Benns, die schon zu den Statischen Gedichten von 1945 hinüberweisen. Entstanden ist er im dritten Kriegsjahr. Und die Kriegserfahrung war nicht dazu angetan, Benns Deutung der Weltgeschichte als eines Zerstörungsprozesses zu erschüttern. Auch unser Gedicht stellt den Zeitenlauf als ruinös („Steingeröll“ der „Weltruine“) und als Leidensgeschichte dar. Große Beispiele werden genannt: der betende Christus, an dem der Kelch nicht vorübergehen wird, dem die Passion bevorsteht, und Konradin, der letzte Staufer, der auf Befehl Karls von Anjou 1268 in Neapel enthauptet wurde. Wo aber das Gedicht sein Urteil spricht, fließt kein Blut, würgt kein Strang; sein „Gedicht“ ist Schicksalsgesang.
Gott wird bei der Berufung auf den Namen dessen, der „die Stunden spendet“, nicht benannt, weil er nur „erahnbar“ und sein „Stundenlied“ unausdeutbar bleibt – dem bloßen „Geröll“ der Weltgeschichte, der Machtherrschaft und der Transzendenz ist kein Sinn abzulesen. Wieder erweist sich eine frühere Textstufe als hilfreich:
Kein Himmelstrost,
kein Trost aus der Geschichte,
Die Unschuld fällt, der Mord
ergreift die Macht –
Und diesem Zustand setzt die Vorfassung des Textes die „Tröstung“ im Gedicht entgegen, die „Biographie des Leides und der Nacht“.
In der endgültigen Textgestalt, im „Selbstgespräch des Leides und der Nacht“, grenzt sich aber das Gedicht selbstsicherer von der Lebenswelt ab. Gegen das geschichtliche Dasein setzt sich das ästhetische autonom. Sogar die Trostfunktion wird von der endgültigen Textfassung preisgegeben. Nur noch Monolog ist das Gedicht. Die Eichendorff-Reminiszenz war also eine Fehlzündung, doch erhellt sie das Gedicht.
Es ist nicht die Sprache der Dinge selbst, die das Gedicht entbindet; das tiefe sympathetische Einverständnis des Lieds mit der Schöpfung ist bei Benn verlorengegangen. Das dichterische Wort bannt die Dinge, indem es sie unwesentlich werden läßt. Diese Gegenkraft des Gedichts aber bleibt Zauberkraft wie bei Eichendorffs Lied, und etwas von ihr wird erlebbar in der Form dieses Bennschen Gedichts, in der Musik der Reime und Wiederholungen, in dem Vers- und Satzschranken unterlaufenden Rhythmus, der auf die Gegenwendung am Strophenende hinlenkt, in dem Facettenreichtum der Schlüsselbilder und dem fremdartigen Reiz des „Südworts“ (wie „Posilipp der Anjouine“), der Bennschen Droge.
Das Individuum, sagt Jürgen Schröder in seinem Kommentar zum Gedicht, „konstituiert und proklamiert die höhere Autonomie der Kunst, weil sie das letzte Asyl seiner Ohnmacht ist.“10 Die Kunstautonomie als Kompensation? Zumindest das Gefühl der Ohnmacht schafft sich ein Bild im sterbenden, verstummenden Orpheus. Das 1946 entstandene Gedicht „Orpheus’ Tod“ schließt mit den Versen:
und nun die Steine
nicht mehr der Stimme folgend,
dem Sänger,
mit Moos sich hüllend,
die Äste laubbeschwichtigt,
die Hacken ährenbesänftigt –:
nackte Haune –!
nun wehrlos dem Wurf der Hündinnen,
der wüsten –
nun schon die Wimper naß,
der Gaumen blutet –
und nun die Leier –
hinab den Fluß –
die Ufer tönen –
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I, S. 183)
Die Schlußstrophen zeigen Orpheus in dem Moment, da er von den Mänaden zerrissen wird und die Magie ihre Macht verliert, wo die Kraft des Gesangs, sogar die Steine mit sich fortzuziehen, versagt und die den Händen entglittene Leier vom Fluß weggeschwemmt wird. Aber nun – in Anlehnung an Ovids Metamorphosen XI, Vers 50ff. – das Wunder, die Rettung der Kunst! Selbst als dem toten Sänger das Instrument entrissen ist, antwortet der Leier noch die Umgebung:
die Ufer tönen.
Eine geradezu universale Kraft wird der Sprachkunst zugesprochen im Gedicht „Ein Wort“ (spätestens Ende 1941 entstanden, ebenfalls den „Biographischen Gedichten“ zugehörig):
Ein Wort, ein Satz –: aus Chiffern steigen
erkanntes Leben, jäher Sinn,
die Sonne steht, die Sphären schweigen
und alles ballt sich zu ihm hin.
Ein Wort – ein Glanz, ein Flug, ein Feuer,
ein Flammenwurf, ein Sternenstrich –
und wieder Dunkel, ungeheuer,
im leeren Raum um Welt und Ich.
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I, S. 198)
Metaphorisches Sprechen rückt Dichtung in den Rang eines kosmischen Ereignisses. Im Weltall taucht das Wort als ein Komet auf, als ein Komet von blendender Kraft, der sogar die Sonne in ihrer Bewegung erstarren läßt und eine unerhörte Anziehung ausübt. Dichtung hebt das kopernikanische System, seine kosmische Ordnung auf, „substituiert sich der Sonne als Gegen-Zentrum. Das war gemeint, wenn Benn sich als ,Ptolemäer‘ einstufte.“ (Theo Buck)11 In der poetischen Sprache, in den Chiffren haben sich alle Erkenntnis- und Sinnmöglichkeiten gesammelt, zusammengeballt. Und dieses Essentielle entfaltet nun seine ganze Strahlkraft. Die beiden ersten Verse der zweiten Strophe veranschaulichen, auf dem Grundriß der Lichtmetapher, mit dem rhetorischen Mittel der Steigerung eine Explosion der Leuchtenergie, so daß nach dem Verlöschen des Lichts das Dunkel und die Leere, worin Ich und Welt zurückgelassen werden, um so ungeheuerlicher erscheinen.
In diesem Gedicht ist das Wort von höherer Realität als die sichtbare Welt. Nicht aufgelöst wird die Paradoxie, daß Dichtung, die Zeiten überdauernd (siehe „Verse“), gleichwohl in der jeweiligen Gegenwart aufleuchtet und wieder verlöscht, also der Zeit unterworfen ist, „daß Worte eine latente Existenz besitzen“ („Probleme der Lyrik“). Gegenüber den „Gedichten“ erweitert „Ein Wort“ noch einmal den Autonomiegedanken. Nicht nur der geschichtlichen, sondern auch der kosmischen Welt gegenüber behauptet sich Dichtung in ihrer Eigengesetzlichkeit und Überlegenheit. Gerade dieses Gedicht ist Zeugnis für Benns „Artistenevangelium“12 um den von ihm mehrfach zitierten Begriff Nietzsches aufzunehmen.
Die expansive Bestimmung der Kunst, daran muß erinnert werden, wird zum „Rückzug in die Ausdruckswelt“. Aber da Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens (Nietzsche) erscheint, ist sie, obgleich „geschichtlich wirkungslos“, doch – als Gegenentwurf – „nicht bedeutungslos für das Leben, die Wirklichkeit und die Geschichte“ (Steinhagen).13
Zwei Texte aus den letzten Lebensjahren Benns geben Einblicke in die Einsamkeit des Dichters und in seine künstlerische Werkstatt. „Allein: du mit den Worten / und das ist wirklich allein“, beginnt das Gedicht „Worte“ (Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I, S. 282), das die Monologsituation noch einmal vergegenwärtigt. Vom „Ausdruckszwang“ und vom Produktionsprozeß handelt das „Gedicht“ (spätestens im Mai 1955, im Jahr vor dem Tod entstanden):
Und was bedeuten diese Zwänge,
halb Bild, halb Wort und halb Kalkül,
was ist in dir, woher die Dränge
aus stillem trauernden Gefühl?
Es strömt dir aus dem Nichts zusammen,
aus Einzelnem, aus Potpourri,
dort nimmst du Asche, dort die Flammen,
du streust und löschst und hütest sie.
Du weißt, du kannst nicht alles fassen,
umgrenze es, den grünen Zaun
um dies und das, du bleibst gelassen,
doch auch gebannt in Mißvertraun.
So Tag und Nacht bist du am Zuge,
auch sonntags meißelst du dich ein
und klopfst das Silber in die Fuge,
dann läßt du es – es ist: das Sein.
(Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, Bd. I, S. 281)
Es scheint, als setze das Gedicht Verlaines Formel vom „Laboratorium der Worte“, die Benn in Deutschland eingebürgert hat, frei in Bilder um.14 Was aus der unbestimmten Sphäre des Gefühls zum Ausdruck drängt, wird kanalisiert durch die Prägeformen des bildhaften, des direkten und des berechneten, systemgebundenen Sprechens. Aus allen Bereichen des Nichtbewußten und der Erfahrung strömt es heran, und der schöpferische Prozeß nimmt das Substrat in seine Obhut. Bescheidung ist nötig – aber daß das Eingrenzen kein Abwürgen ist, deutet das chiffrenartige Bild des „grünen Zauns“ an, mit dem sich die Vorstellung von etwas Organischem verknüpft. Deutlicher wird nun der dichterische Schöpfungsvorgang als Arbeitsvorgang kenntlich. Daß er dem Meißeln, also der Arbeit am Stein oder Marmor verglichen wird, läßt an „Meißel“ und „Marmorblock“ im frühen Gedicht „Der junge Hebbel“ denken. Doch fehlt im späten Gedicht das Gewaltsame, Exaltierte des künstlerischen Tuns (der junge Hebbel schlägt die Form eben nicht mit dem Meißel, sondern mit seinem Kopf heraus). Mit den Bildern des Meißelns und des Einklopfens von Silber beschwört die letzte Strophe die Atelieratmosphäre der Bildhauerkunst. Und tatsächlich läßt sich das „Sein“ (das Seinshafte) im künstlerischen Endprodukt nirgendwo besser veranschaulichen als an der in Stein gehauenen statischen Figur. Im übrigen deutet das instrumentale Zubehör des Arbeitsvorgangs auf einen technisch-artistischen Aspekt der Kunst, wie er auch zum Bild des Wortlaboratoriums gehört.
Es ist gerade die Botschaft des Artistentums, mit der Benn im ersten Nachkriegsjahrzehnt, seinem letzten Lebensjahrzehnt, bei seinem Publikum und auf jüngere Lyriker wirkt. In gewissem Sinne Epoche gemacht hat sein – zunächst in Marburg gehaltener – Vortrag „Probleme der Lyrik “ (1951). Die Assoziation zum poetologischen Text „Gedicht“ von 1955 ist erlaubt, wenn Benn hier von einer „Philosophie der Komposition“ und einer „Systematik des Schöpferischen“ spricht, die uns die modernen Lyriker böten, und apodiktisch festhält:
Ein Gedicht entsteht überhaupt sehr selten – ein Gedicht wird gemacht.
Zur Charakterisierung der modernen Lyrik (von Nerval und Baudelaire über Verlaine und Rimbaud, Valéry und Apollinaire zu den Surrealisten) erscheint ihm der Begriff „Artistik“ der geeignetste. Zustimmend zitiert er Mallarmés Satz, ein Gedicht entstehe nicht aus Gefühlen, sondern aus Worten. „Absolut“ nennt er ein Gedicht, das in der Lage ist, „ohne Zeit zu operieren, wie es die Formeln der modernen Physik seit langem tun“. Und wieder definiert er das moderne Gedicht als eine „monologische Kunst“.15
Zu dieser monologischen Kunst in erklärtem Gegensatz steht die Lyrik eines Autors, der in den fünfziger Jahren allgemein als der Antipode des Lyrikers Benn gilt: Bertolt Brecht. Benn und Brecht (zwölf Jahre jünger als Benn, nur einen Monat nach ihm im Jahr 1956 verstorben) sind auf exemplarische Weise die beiden Väter der jungen deutschen Lyrik nach dem Zweiten Weltkrieg, Benn als Wegweiser für eine absolute und monologische, aber auch magische Poesie, Brecht für eine auf Erkenntnis dringende, im Sozialen verankerte und lesergerichtete Lyrik.
Walter Hinck: Magie und Tagtraum. Das Selbstbildnis des Dichters in der deutschen Lyrik, Insel Verlag, 1994
Die Literatur über Gottfried Benn ist im letzten Jahrzehnt sprunghaft angewachsen. Die Phase der Auseinandersetzung im Zeichen eines scharfen Für und Wider scheint abgeschlossen zu sein. Statt dessen liest man Studien wie Gottfried Benn – Phänotyp dieser Stunde von Dieter Wellershoff (Kiepenheuer & Witsch, 1958) und Edgar Lohner Passion und Intellekt. Die Lyrik Gottfried Benns (Luchterhand, 1961), die sich der Selbstinterpretation Benns sehr getreu anschmiegen. In seiner vorzüglichen Studie Gottfried Benn, das Problem der Geschichte (Neske, 1963), die aus der Perspektive der späten Gedichte geschrieben ist, deutet Beda Allemann eine Verfahrensfrage an:
Indem der Interpret sich der essayistischen Selbstinterpretation des Dichters anschließt, Ihre Grundauffassungen und Grundbegriffe in die eigne Interpretation übernimmt, wählt er einen Weg des geringsten Widerstandes zur Erschließung des Werkes, der ihn der Ausarbeitung eigener Kategorien enthebt.
Zugleich kann dieses bequeme Verfahren den Anspruch erheben, besonders angemessen zu sein. Weil es die vom Autor selbstvorgebahnten Schneisen zum Verständnis des Werkes benutzt, bringt es nichts Fremdes und Unangemessenes in die Interpretation. Hier öffnet sich ein wirkliches und methodologisch noch zu wenig bedachtes Dilemma.
Für den Leser spiegelt sich dieses Dilemma in dem Eindruck, daß sich kaum einer der Deuter und Interpreten über das Phänomen, dem seine Betrachtung gilt, so weit zu erheben wagt, daß man nicht wieder und wieder in erster Linie Benn liest. Seine Formulierungen und Begriffe, auf deren Durchleuchtung man gespannt ist, werden terminologisch verwendet. Auffallend häufig läßt man Benn in eigener Sache argumentieren, als hätte an dem Ort, wo die Sphinx spricht, der Rätselspruch mehr zu bedeuten als irgendein Lösungswort. Vermutlich geschieht dies aus dem richtigen Instinkt, daß man Benn nicht von sich weghalten, ihn nicht aus geruhiger Distanz ins Auge fassen kann, weil dann die winzigen Sprünge, die sein Bild durchziehen, nicht mehr wahrzunehmen sind und aus dem pulsierenden Hirnwesen plötzlich ein erstarrter Meteor wird. Aber vielleicht sollte man es einmal darauf ankommen lassen, Benn nicht durch Benn verstehen zu wollen, sondern einfach zu sehen. Dann würde sich auf einmal alles verändern. Das intellektuelle Craquelé, das immer wieder den Beweis zu liefern hat, daß Benn „Phänotyp dieser Stunde“, Mensch der Großstadt und der Hirnüberfütterung ist, würde gemessen an Umfang und Profil an die zweite Stelle treten. Staunend würde man sich fragen: Wie kommt der in unsere Zeit? Vom Nilufer welchen Jahrhunderts hat sich dieser Ptolemäer aufgemacht? Welche Reinheit leistet diesem reinen Ich Genüge? Was hat er bei uns gesucht, und was konnte der Heimwehkranke nie vergessen? Verfährt man umgekehrt, das heißt: erklärt man das Phänomen Gottfried Benn aus seiner Zeit, läuft es immer auf eine Schmälerung hinaus. Dieter Wellershoff sagt in seinem Vortrag: „Fieberkurve des deutschen Geistes. Über Gottfried Benns Verhältnis zur Zeitgeschichte“ (in Die Kunst im Schatten des Gottes, Sachse & Pohl, Göttingen 1962):
Woher kommt dieser Haß, der Benns mächtige Rhetorensprache immer wieder in Gang setzt, der sein Denken radikalisiert? Woher dieses Ungenügen an der Welt, in der er lebt? Man kann hier zunächst auf einige zeitgenössische Theorien hinweisen, die ihn stark beeindruckt haben. Etwa auf die Kulturmorphologie Oswald Spenglers, nach der die abendländische Kultur sich im Vergreisungsstadium der Zivilisation befindet.
In derselben Vortragsreihe äußert sich Reinhold Grimm über Benns „vieldiskutierten Nihilismus“ folgendermaßen:
Er stand immer unter dem Verhängnis des Bewußtseins – im Pessimismus, Relativismus, Nihilismus, in der Verzweiflung, aber mit jedem Gedicht, mit jedem Satz und jeder Zeile, die er schrieb, wurde er diesem Verhängnis stets aufs neue entrückt. Der kreative Akt ist niemals nihilistisch. Er ist vielmehr lustvoll erregt, ja euphorisch – bei aller Qual des Schaffens. Schöpfung verneint nicht, sondern bejaht.
An solchen Stellen zeigt sich, daß wir von der Mechanik des Geistes die gröbsten Vorstellungen haben. Die Morphologie Spenglers verhalf allenfalls dem dumpfen Unbehagen der Zeitgenossen zu einem Jargon, aber im Vergleich mit der Faustschen Verzweiflung der Rönne-Novellen nimmt sie sich doch wie die Beflissenheit des Wagner aus. Reinhold Grimms Behauptung, „der kreative Akt“ (warum nicht „der schöpferische Akt“?) sei niemals nihilistisch, widerspricht Benns wohlerwogenem Bekenntnis, er habe sich nie zu denen gerechnet, die aus dem Dunkel ins Helle streben.
GIücklich war der Gedanke von Max Niedermayer, der im Limes Verlag 1962 eine Auswahl – Lyrik und Prosa, Briefe und Dokumente – mit einschlägigen kritischen Äußerungen der Zeitgenossen konfrontiert hat. Die Konfrontation und nicht die Verquickung entspricht Benns eigener Anschauung. In dem Prosastück „Der Garten von Arles“ nimmt Benn eine grundsätzliche Scheidung vor.
Man kann die ganze Menschheit einteilen in jene mit dem Zug zur Singularität und jene mit dem Zug zur Universalität.
Und er fragt im Anblick der „drei Vasen voll Herz des Gartens“:
ist, was ich sehe, jetzt die Synopse?
Ein Zitat unter vielen, eine der vielen provisorischen Einteilungen, die Benn getroffen hat, wird man sagen. Wenn man das Zitat so stehen läßt, gewiß. Es scheint mir das Gebrechen fast aller Benn-Deutungen zu sein, daß man seine Formeln als Feststellungen und nicht als Beschwörungsformeln liest. Singularität und Universalität werden für einen Moment zusammen gesehen. Die Synopse selber ist wortlos. Daher die Frage und das Fragezeichen. Das Singuläre streift zwar seine Endlichkeit ab: es steht da wie für immer. Und doch verhilft ihm die Berührung mit dem Universalen zu keiner Idee. In Gedicht oder Prosazeile ist es Wort, Metapher, Zeichen – deutet nicht mehr zurück auf Wirkliches, ist lediglich Reflex, Gedanke, Chiffre. In den Statischen Gedichten heißt es im letzten Stück, das mit dem Wort „Entwicklungsfremdheit“ anfängt:
Linien anlegen,
sie weiterführen
nach Rankengesetz –,
Ranken sprühen –,
auch Schwärme, Krähen,
auswerfen in Winterrot von Frühhimmeln,
dann sinken lassen –
Beda Allemann nennt dieses „Sinken-lassen“ „ein tröstliches Zurücksinken in die Nacht“. Er sagt weiter:
Benn hat sich hin und wieder scharf gegen den deutschen Hang zur unklaren Tiefe und gegen die Sehnsucht ins dunkle Reich der Mütter gewandt – hier scheint er auf seine Art selber an ein solches Reich zu denken, und das Sinken-lassen ist dabei eine seiner höchst kennzeichnenden dichterischen Gebärden.
Dieser Deutung vermag ich nicht zu folgen. Dieses „Sinkenlassen“ erscheint mir weder tröstlich noch wohlig. Sinkenlassen heißt vielmehr die Hand abziehen, sobald die Erscheinung aufgestiegen und in ihrer Singularität zeichenhaft geworden ist. Denn weder das Wirkliche – der Krähenschwarm – läßt sich halten noch die rankende Versfigur. Nach der aufblitzenden Berührung sinken sie in getrennte Bereiche herab: dort die wortlose Erscheinung, hier das Wortgebilde.
Auf die Spaltung – Reich der Wirklichkeit, Reich des Geistes – wird in den Studien über Benn häufig hingewiesen. Doch fällt der Blick regelmäßig auf die intellektuelle Seite, auf das Hirntier, den Kulturpessimisten, den Nihilisten (so bei Dieter Wellershoff). Selten wird bemerkt, daß hinter Pessimismus und Nihilismus die Sehnsucht nach Universalität steht, verbunden mit der Einsicht, daß nur noch das Singuläre die Gewähr für Universalität bietet. Demgegenüber bekannte sich das 19. Jahrhundert zu universalen Zusammenhängen geschichtlicher oder systematischer Art. Dagegen revoltierte Nietzsche. Den blinden Willen Schopenhauers, der sich unter das Joch der Kausalität beugte, verwandelte er in den dithyrambischen Willen, den kein Gestade auf die Dauer festhält.
Singulär – das bedeutet, daß jedes Ding idealiter befähigt ist, ein Ich zu werden, das heißt ein Zentralpunkt des Universums. Don Quijote sieht bei einem Dorfbarbier ein Metallbecken, das beim Einseifen der Kunden nützliche Dienste leistet. Durch die Berührung mit seinem Traumuniversum wird das Becken zu einem Helm und kommt zu einem Eigennamen: das einzelne zufällige Geschirr ist fortan der „Helm des Mambrino“. Die Synopse hat stattgefunden. Das in endlicher Zweckhaftigkeit befangene Ding ist zu etwas Höherem geworden, hat sich individualisiert. Aber wie steht es mit diesem Höheren? Hat Don Quijote sich auf dem Gipfel des Augenblicks zu behaupten vermocht, in dem er das Singuläre mit dem Universalen zusammensah? Mitnichten. Der „Helm des Mambrino“ ist eine literarische Reminiszenz. Er verfällt dem Universalreich der Literatur. Auf eine Idee kann das Epitheton ebensowenig Anspruch erheben wie das kupferne Geschirr des Barbiers. Es gibt folglich Universalität nur innerhalb einer Perspektive.
Je tiefer man in den Konflikt zwischen dem Singulären und dem Universalen eindringt, um so deutlicher schält sich aus der Zeitgebundenheit Benns ein zeitloses Problem heraus. Jean Paul betonte in seiner Definition der humoristischen Totalität, daß das Endliche, nicht jedoch das Einzelne durch den Kontrast mit der Unendlichkeit der Idee vernichtet werde, und daß es für den Humoristen keine einzelnen Toren gebe, sondern nur Torheit und eine tolle Welt. Der Unterschied zwischen dem Endlichen, an dem sich die Idee fortgesetzt rächt, indem sie es vernichtet, und dem einzelnen, das in den unangreifbaren Bereich der aus dem Geist geschaffenen Zeichen hinübertritt, ist auch für Benns Anschauung grundlegend.
Man sollte einmal mit Bezug auf sein Werk das Phänomen der Nacktheit erörtern. Das nackte Bewußtsein ist das Singuläre: zunächst gilt von ihm nur, daß es Einzelbewußtsein ist. Im Begriff, aus sich herauszugehen oder sich zu setzen, stößt es auf die Physis oder setzt sie. Damit vollzieht es jenen Akt, der den Gnostiker Marcion an der Schöpfung irre werden ließ. Wie sollte Gott mit der Bedingtheit des Geschaffenen in Berührung treten können, ohne seine Vollkommenheit zu beflecken? Um das Thema Reinigung kreist der Essayband Ausdruckswelt. Gerhard Loose hat in dem gleichnamig überschriebenen Kapitel seiner gehaltreichen Studie Die Ästhetik Gottfried Benns (Vittorio Klostermann, 1961) eine feinfühlige Interpretation dieser Gedankengänge gegeben. Ehe jedoch Benn die Physis in Richtung auf eine gereinigte Ausdruckswelt überstieg, forderte er sie als den naturalistischen Partner des nackten Bewußtseins heraus. Diese Herausforderung war ein Akt, mit dem er sie aus sich herausstellte. Er provozierte damit die Wissenschaft, die das Singuläre in der Flucht der Ableitungen verlorengehen ließ und Physis mit der Säure des Intellekts verfärbte. Benn erblickte sich selber im Zerrspiegel des Körpers und rückte mit einem „Das bist du“ allen Idealschwärmern das Porträt ihres nächsten Partners, des Leibes, vor die Augen. Verständlich, daß es zu einer Katastrophe kommen mußte, als ein Mensch, der sich auf dem Boden der Empirie gebildet hatte; der davon geträumt hatte, die poetische Namengebung mit der botanischen oder allgemein naturwissenschaftlichen Namengebung auszusöhnen; der mitten in einer historisch, entwicklungsgeschichtlich und teleologisch denkenden Zeit lebte – als dieser Mensch die bestürzende Einsicht gewann, daß in den Netzen, die unser Geist auswirft, vom reichen Beutefang des Lebens nichts hängenbleibt; daß wir immer nur uns selber fangen. Man spricht von dem Einfluß Nietzsches. Er war unbestreitbar vorhanden. Aber Nietzsche war Philologe, Benn Mediziner. Wäre Nietzsche zu dem Akt imstande gewesen, mit dem in den Morgue-Gedichten das nackte Bewußtsein sich mit der Physis konfrontiert? Wenn Ernst Nef (in Das Werk Gottfried Benns, Die Arche, Zürich 1958) schreibt: „In Wahrheit ist eben nur das bloß Physische“ und im nächsten Absatz fortfahrt: „Philosophisch betrachtet ist Benns These als Ablehnung alles metaphysischen Denkens, als radikaler Bruch mit jeder Metaphysik zu bezeichnen“, so gilt das zwar für die These, nicht aber für das zugrunde liegende Drama, das metaphysischen Ursprungs ist. Mit eben dem Recht könnte man sagen, Cervantes habe einer naturalistischen These zum Sieg verhelfen wollen, weil dem Geburtsakt seines Helden nur das Zerrbild des Ritters von der traurigen Gestalt entsprang, gegen den die Wirklichkeit in allen Punkten recht behält. Das realistisch oder naturalistisch gezeichnete Detail ist auch hier gesetzt von einem Bewußtsein, das nackt ist, das heißt ununterscheidbar identisch mit seinem Wahn. Warum spielt in den Morgue-Gedichten der Geburtsakt eine so vorherrschende Rolle? Weil hier der Körper aus dem Bewußtsein ausgestoßen wird. „Lauter Neugeburten“ heißt es einmal. Wenn es, wie Ernst Nef meint, Benn darauf angekommen wäre, zu beweisen, daß alles „Dreck“ ist und daß der einzige Weg, sich in dieser Welt ungetrübt wohl zu fühlen, der wäre: „selbst Dreck zu werden“, dann hätten die Morgue-Gedichte für uns ihren faszinierenden Reiz sicher längst verloren. Ihre Faszination besteht aber gerade darin, daß sie auf eine nicht näher zu erklärende Art das Bewußtsein reinigen, indem sie es mit der Physis konsequent entzweien. Nicht Lust flößen sie ein, sondern Ekel und Grauen, so wie Leonardos Skizzen von der Paarung menschlicher Leiber. Die Entzweiung mit der Physis, Entzweiung des Geistes mit der Endlichkeit und Vergänglichkeit – die Morgue ist der Sieg über die Endlichkeit – gewinnt exorzistische Bedeutung. Hier ist der Umschwung zur späteren „Klassik“ bereits angelegt, hier ist auch der Punkt, an dem Benn mit Valéry einiggeht.
Die moderne Medizin zerstückelt den menschlichen Organismus in ihrem Gehirnlaboratorium. Sie hat das Gefühl dafür verloren, daß jedes Glied, jedes Organ dieses Leibes zur magischen Klaviatur unseres Bewußtseins gehört. Die Machtergreifung des Gehirns hat uns der Glieder beraubt und sie in Begriffsschemen verwandelt. Seitdem ist der achtbare Antagonismus, der allein von Nacktheit zu sprechen erlaubt – Nacktheit der Statue und Nacktheit gesammelter Anschauung –, einem Kompromiß gewichen. Physisches und Geistiges durchziehen in trüber Vermischung die Gehirnbahnen. Es gibt kein reines Bewußtsein mehr, nur noch ein halbschlächtiges, das von Körperlichem ebenso durchsetzt ist wie der Körper von Worten und Begriffen. Mit diesen Anmerkungen soll nicht einem zeitlosen Benn das Wort geredet werden, sondern jenem Benn, der sich jeder Zeitbedingtheit – nicht nur der spezifischen unserer Epoche – widersetzt hätte, weil es ihm darum ging, durch das einzelne das Endliche zu besiegen oder durch Vernichtung der Endlichkeit das einzelne zu retten. „Entwicklungsfremdheit“ und „Perspektivismus“ – die beiden Worte, in denen Beda Allemann die Achse des Titelgedichts der Statischen Gedichte entdeckt hat, bringen diese Polarität ein letztes Mal zum Ausdruck. Entwicklungsfremdheit – das heißt: der Relativierung des Singulären Widerstand leisten. Perspektivismus: die einzige Form, in der Universalität heute noch möglich ist.
Dies mag auch der Grund sein, weshalb wir genötigt sind, Benn wörtlich zu zitieren. Er duldet nicht, daß wir eine andere Sprache als seine eigene sprechen – ein Idiom, das sich selbständig gemacht hat und hinter dem wir zu Unrecht den zeitbedingten Benn suchen. Denn nur deshalb steht er in der Sprache so greifbar deutlich vor uns, weil sein Bewußtsein dahinter nackt, weil er niemand war.
Karl August Horst, Merkur, Heft 17, 1963
– Abschied von Gottfried Benn. –
Der im Sommer 1956 gestorbene Berliner Spezialarzt Dr. Gottfried Benn, der nebenher sehr schöne Gedichte schrieb, hat der literarischen Welt Rätsel aufgegeben, mit denen sie nicht fertig wurde. Das erste war dieser Doppelberuf, das zweite seine Parteinahme für den nationalsozialistischen Umsturz, das dritte seine ebenso unerwartete Rehabilitierung nach der deutschen Niederlage. Rätselhaft war diese Rehabilitierung freilich nur für das unbeteiligte Ausland, das nicht wußte, welche geistige Wüste der Nationalsozialismus hinterlassen hatte. Die deutsche Jugend von 1945, entmündigt und im Stich gelassen wie vielleicht nie eine Jugend vor ihr, geriet an das Rauschgift von Benns Versen und verwechselte deren Nihilismus mit ihrer eigenen Verzweiflung. Sie hätte einen besseren Tröster verdient. Überall in der Welt war inzwischen die große Wendung der Kunst ins Ethische, Religiöse vor sich gegangen, nur in Deutschland wußte man noch nichts von ihr. Statt auf die Worte der Geopferten zu hören, ließ man sich von einem Meister der lyrischen Betäubung einschläfern, wo jetzt doch alles auf klare Gedanken und ein reines Gewissen ankam.
Die Stimme Benns war im Konzert der expressionistischen Lyrik eine der faszinierendsten gewesen. Es war die Stimme eines Ekstatikers, aber nicht eines wehklagenden wie Trakl, eines Mystikers wie Stadler oder eines psalmodierenden Pathetikers wie Werfel, sondern eines an Urgesichten berauschten, eine Poesie der Bodenlosigkeit. In magisch flutenden, von einem überhellen Intellekt widerspruchsvoll gesteuerten und oft durchkreuzten Rhythmen holte er Bilder von unerhörter Schönheit aus dem Ozean des Unbewußten, Vergangenen empor. Archaisches mischte sich mit Exotischem, Trunkenheit mit Schwermut, berückender Klang mit zauberischen Farben.
„Rot ist der Abend auf der Insel von Palau
und die Schatten sinken –“
singe, auch aus den Kelchen der Frau
läßt es sich trinken,
Totenvögel schrein
und die Totenuhren
pochen, bald wird es sein
Nacht und Lemuren.
Diesen Ton haben wir einst geliebt, er ging ins Blut. Niemand machte sich Gedanken darüber, was mit den Totenuhren und Lemuren gemeint sei, das Halbverständliche gehörte dazu, es waren betörende Klänge und Visionen. Ihre Schönheit lag im seltenen Reichtum der Assoziationen, die sie heraufriefen, im Finden fremder Worte voll unentdeckter Welten. Dieselbe Magie der Entrückung fand sich in Döblins „Drei Sprüngen des Wang-lun“, in Jahnns „Medea“; in der Lyrik war Benn derjenige, der am hinreißendsten über sie verfügte. Der Rausch war ihm Selbstzweck, der Dichter ein Zauberer, der inmitten der grimassierenden modernen Zivilisation, ja mithilfe ihrer zynischen Fremdwörter noch einmal das Wunder zustande brachte. Der Hautgoût der Berliner Schnoddrigkeit, der Anstrich des Sensationellen und Korrupten gehörte dazu. Man spürte, daß hier ein Mediziner seine „thalassale Regression“ betrieb. Dazu bekannte sich „Der Sänger“:
Keime, Begriffsgenesen,
Broadways, Azimuth,
Turf- und Nebelwesen
mischt der Sänger im Blut,
immer in Gestaltung,
immer dem Worte zu
nach Vergessen der Spaltung
zwischen ich und du.
Neurogene Leier,
fahle Hyperämien,
Blutdruckschleier
mittels Coffein,
keiner kann ermessen
dies: dem einen zu,
ewig dem Vergessen
zwischen ich und du.
Wenn es einst der Sänger
dualistisch trieb,
heute ist er Zersprenger
mittels Gehirnprinzip,
stündlich webt er im Ganzen
drängend zum Traum des Gedichts
seine schweren Substanzen
selten und langsam ins Nichts.
Das Aufsehen dieser Lyrik wurde durch vehemente, blendend geschriebene Essays verstärkt, mit denen Benn seine Kunst theoretisch begründete.16 Er gab sich als ein Schüler Nietzsches, der aus den Resultaten der modernen Naturwissenschaft die Konsequenzen zog, drapierte sich noch tragisch-dionysisch, pries die Kunst als „die letzte Transzendenz innerhalb des großen europäischen Nichts, die dionysische Kunst, die vielleicht auch sinnlos ist“, sagte aber auch schon:
Die Ecce-homo-Schauer: Nihilismus ist ein Glücksgefühl.
Er sah keinen Widerspruch darin, daß er das Herkuleswerk versprach, an dem Nietzsche gescheitert war: die Überwindung des Nihilismus durch den Übermenschen. Denn er meinte nicht mehr den Nietzsches, sondern den Typ des Artisten, der die Erfahrung des Nichts in geistige Energie umsetzt. Kunst als „die hohe geistige Korruption“ war im Grund dasselbe, was der junge Thomas Mann im „Tristan“, im Tonio Kröger und vor ihm die europäische Décadence verkündet hatten. Benn bewunderte den grandiosen ästhetischen Nihilismus Flauberts; in der Rede auf Heinrich Mann rühmte er diesem nach, er habe den Speer dort aufgenommen, wo Flaubert ihn liegengelassen hatte. Aber der Ästhetizismus erhielt in seinem Mund eine letztmögliche Zuspitzung. Unter Geist verstand er die Abkehr vom Gehirnlichen, das biologisch eine Fehlentwicklung und zum Absterben verurteilt sei.
Sie wissen, es ist fünfzig Jahre her, daß Nietzsche den Mann das unfruchtbare Tier nannte, jetzt aber stoßen ganze Schichten nach ihm vor, nach dieser Chimäre, dem Gerippe der Sphären die Mutterreiche fordern ihn an. Fausts große Stunde war einzig bei den Müttern, Don Juan erstickt in Fruchtwasser, die Kurve des Mannes sinkt zurück. Von Anfang an nur Beigeschlecht, Hirnblase mit Suchtrieb, Augenfleck mit Genitale, beleibte Spermatozoen phänomenale Welten hochbalzend, aber nie den Zwitter verdrängend, die Urform, das Doppelgeschlecht –: Lingam, die Selbstlust unter Früchten und Blättern, strömt immer wieder über: bei gewissen zoologischen Typen kommt auf tausend Weibchen nur noch ein Männchen, gewisse Ringelkäfer sind nur noch als Weibchen bekannt im Prinzip herrscht in der Natur Parthenogenesis, mit aller Wucht untermauert sie das Primat der Mutter, immer von neuem ruft sie das Beigeschlecht zurück.
Das ist Bachofens Mutterrecht, eben damals in Schwabing durch die Augen Schülers und Klages’ entdeckt und nochmals gebrochen durch den Blick eines Spezialarztes für Geschlechtskrankheiten. Der Mann ist überspezialisiertes Hirnwesen im Stadium der Entartung, daraus ergibt sich: „Der Begriff und die Halluzination“ sind „die Ausdrucksmechanismen der neuen Zerebralisationsepoche“, die im Expressionismus zum erstenmal rein verwirklicht wird. „Klee, Kandinsky, Léger, der ganze Südsee-Einbruch beruht ja nicht auf logisch-empirischen, sondern auf halluzinatorisch-kongestiven Mechanismen.“ Denn Halluzination heißt Rückkehr ins Archaische, Prälogische, wie es Lévy-Bruhl an den Primitiven beschreibt. Im späten Künstler erwacht die Urzeit wieder.
Ist das Nihilismus? Vom Standpunkt jeder materiellen, selektiven, historischen Idee des Menschen aus wohl, von den alten Wahrheiten, den alten Inhalten ist nichts zu retten, aber vom Standpunkt unserer Untersuchung des Produktiven aus meine ich: nein. Gerade weil die Lage so über alles gespannt ist, so unausweichlich, geradezu herausfordernd, stellt sich von selbst der Gedanke ein, daß dies gar keine besondere Lage ist, daß es nie eine andere Lage gab, daß der Geist nie etwas anderes atmete als diese Ambivalenz zwischen Bilden und Entgleiten, sich nie anders erlebte als in der Differenzierung zwischen den Formen und dem Nichts.
Dem lauschte man in den Zwanzigerjahren mit Andacht und Entzücken, weil bei einigen Großen Großes daraus entstanden war. Keinem grauste vor diesem Cocktail aus Lyrik und Wissenschaft, vor dem Südsee-Einbruch, vor dem verheißenen „radikalen Vorstoß der alten noch substantiellen Schichten“ und davor, daß „die Endepoche der Menschheit, aus der ja allerdings wohl ganz ohne Zweifel alle ideologischen und theistischen Motive völlig verschwunden sein werden, gleichzeitig die Epoche eines großartig halluzinatorisch-konstruktiven Stils sein wird, in dem sich das Herkunftsmäßige, das Schöpfungsfrühe noch einmal ins Bewußtsein wendet“. Es blieb alles sitzen und klatschte, wenn Benn phantasierte:
Dämonisch diese Erkenntnis, für Melancholie kein Raum, der Acheron hat den Olymp überflutet, der Ganges setzt sich in Bewegung nach Wittenberg.
So verstand man ja auch Freuds Traumlehre, Klages’ Lehre vom kosmogonischen Eros und noch manche andere erregende Lehre jener Zeit, die Benn als Beweis für seine Ansicht zitierte.
Es ist heute demnach eine Übereinstimmung aller: von der Mythenforschung bis zur Völkerpsychologie, von der Erbbiologie bis zur Phänomenologie: wir tragen die Reste und Spuren früherer Entwicklungsstufen in unserem Organismus, wir beobachten, wie diese Spuren realisiert werden im Traum, in der Ekstase und bei gewissen Zuständen der Geisteskranken.
Besonders die Psychiatrie war damals salonfähig, und wenn gar ein Lyriker über die Schizophrenie Bescheid wußte, hatte er das Ohr der ganzen Avantgarde.
Hier hat der Kranke Organempfindungen mit deutlichem Anklang an die Pubertätsriten der Wilden, hier ist Spiegel und Original identisch wie beim Bildzauber der Primitiven, hier geht in seinen Wahnvorstellungen die Gedankenübertragung durch die Haare vor sich wie in der Simsonmythe aus dem typischen magischen Kreis. Hier durchleidet einer nochmals alle Gänge der menschlichen Geschichte, Dinge, die er nie bewußt in seinem Ich besaß: das Tierhafte, das Dämonische, das Metaphysische, das Titanidische, alles spiegelt sich bei ihm auf dem kosmischen Plan im Aufeinanderprall mythischer Mächte wider.
Hier beschrieb ja aber vor allem Benn unbewußt seine eigene Kunst. Diese Symptome der „Spalthirnigkeit“ sind haargenau auch die seines Stils, er sprach absichtslos schon seine spätere These vom Doppelleben aus. Und er prophezeite:
Der Tag wird kommen, wo die Mont Pelées diese fruchtbaren Siedlungen mit ihrer Lava ersticken und die Ozeane diesen Meliorisationsmodder ohne Gebrüll überfluten werden – o schöner Tag der Reue der Natur, wenn auf einer Eisscholle zwei Tranherden mit Grätenkeilen wieder um die Seehundsstellen boxen, o Heimkehr der Schöpfung, wenn gelackte Doppelhorden ihre Lippenpflöcke salben und unter Hakenschnabelmasken das Opfer bringen im Schrei des Totemtiers.
Das war die Antwort auf die Frage, ob hier Nihilismus gepredigt werde.
Aber wir kommen um die Frage nicht herum, was erleben wir denn nun in diesen Räuschen, was erhebt sich denn in dieser schöpferischen Lust, was gestaltet sich in ihrer Stunde, was erblickt sie, auf welche Sphinx blickt denn ihr erweitertes Gesicht? Und die Antwort kann nicht anders lauten, sie erblickt auch hier am Grunde nur Strömendes hin und her, eine Ambivalenz zwischen Bilden und Entformen, Stundengötter, die auflösen und gestalten, sie erblickt etwas Blindes, die Natur, erblickt das Nichts.
Erst später stellte sich heraus, daß die Antwort auch ganz anders lauten konnte, so nämlich, wie sie der Privatdozent im „Garten von Arles“ formuliert:
Meine Herren, muß ich sagen, Sie sind einem ganz subtilen Schwindel zum Opfer gefallen, einem Gesetzschwindel, einem Konklusionsschwindel, einem Abrundungsschwindel – hoch paraboloid!
Es war Naivität, daß man Lärm schlug und lamentierte, als sich Benn ohne Zögern zum nationalsozialistischen Umsturz bekannte. Nicht nur deshalb, weil diese Lust am Archaischen maßgeblich am Zustandekommen des Dritten Reiches beteiligt war, sondern auch deshalb, weil Benns Kunsttheorie und -praxis gar nichts anderes erwarten ließen. Er war ein besessener Visionär, der seine chaotische Zuchtlosigkeit in oft herrliche, oft feuilletonistische Verse verströmen ließ und von allem Primitiven unwiderstehlich angezogen wurde. Nichts deutete darauf hin, daß er der Woge aus dem Abgrund nicht zujauchzen werde. Er hatte ihr keine Vernunft, kein Ethos, nur ihre Apotheose entgegenzusetzen, denn diese proteische Denkweise ist in ihrem Wesen charakterlos. Die ekstatische Geistigkeit, als deren Entdecker er sich aufspielte, wurde schon bei Verlaine, Baudelaire, Mörike, Brentano, Goethe erlebt, aber mit geistiger Zucht und menschlichem Rang, und daher auch in ihren Gefahren erkannt; diese sind das Thema des Faust und von Brentanos, Mörikes, Eichendorffs denkwürdigsten Liedern. Benn spielte mit dem Feuer als ein Zauberlehrling, der im entscheidenden Augenblick das rettende Wort nicht wußte.
Was er im Taumel von 1933 schrieb und sprach, was er von den Enttäuschten zu hören bekam und wie Karl Kraus in der letzten Fackel („Die dritte Walpurgisnacht“ 1952) den „abgründig seichten Schmus“ seiner Manifeste durchleuchtete, interessiert uns hier nicht. Wie hätte der Prälogiker nicht die Freiheit als Vorurteil verlachen, der in Räuschen Abgebrühte nicht das „vivere pericolosamente“ bejahen und die Geflohenen als Feiglinge verhöhnen sollen? Wie hätte er vollends jetzt, wo die Lava hereinbrach, nicht seine größte Halluzination erleben, mit Erdteilen und Jahrtausenden um sich werfen sollen?
Ich sehe die schwarzen Scharen, die Littoria bauten, die Stadt über Sümpfen und Fieber; ich höre Faust als Letztes zum Augenblick sagen: Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen. Ich weiß, dies Volk wird frei werden, das kein Glück mehr will, sondern seine Züchtung… Seine großen Geister werden kommen mit Worten, die wieder Sinn haben, Geltung unter den Völkern und Fruchtbarkeit. In ihren Lauten wird alles sein, was wir erlitten, das Überirdische und das Vergängliche, das Erbe unseres denkerischen Leids. Ich weiß, sie werden kommen, keine Götter, auch nur halbgut wie Menschen, aber aus der Reinheit eines neuen Volks. Die sollen dann auch richten und die Pfühle zerreißen und die Wand umwerfen, wo man mit losem Kalk getüncht hat und wo man entheiligt hat um eine Handvoll Gerste und einen Bissen Brot – sie allein. Ich weiß, sie werden kommen, ich bin sicher, es sind ihre Schritte, die hallen, ich bin sicher, ihnen gelten die Opfer, die fallen: – ich sehe sie nahen.
Das alles verstand sich von selbst. Es war der falsche Prophet, wie er in der Bibel, bei Ezechiel steht:
Ich recke meine Hand aus wider die Propheten, die Trug schauen und Lüge wahrsagen. Darum, ja darum, weil sie mein Volk irreführten, indem sie ,Heil!‘ riefen, wo doch kein Heil war – das Volk baut eine Wand, sie aber streichen Tünche darauf – sprich zu denen, die Tünche streichen: Ich will meinen ganzen Grimm auslassen an der Wand und an denen, die sie mit Tünche bestrichen, und man wird zu euch sagen: Wo ist nun die Wand, und wo sind, die sie getüncht haben, die Propheten Israels, die über Jerusalem weissagten und für sie Gesichte des Heils schauten, wo doch kein Heil war?
Es gibt wahre und falsche Propheten, die Lügenpropheten sind immer die, die dem Volk und den Machthabern Heil verkünden, indem sie ihre eigenen Träume als Offenbarungen ausgeben. Nicht selbstverständlich ist nur, wie die falschen Propheten sich nach der Katastrophe verhalten, denn auch bei ihnen gibt es Unterschiede. Ahitophel von Gilo, der Absalom im Aufstand gegen seinen Vater David unterstützte, sattelte, als das Unternehmen fehlschlug und man nicht mehr auf ihn hörte, seinen Esel, zog heim in seine Stadt, bestellte sein Haus und erhängte sich. Benn dagegen gelang es nach Kriegsende, sein Ansehen wiederherzustellen.
Die Kundgebungen, mit denen er seither einer ahnungslosen Jugend zuredete, sind ein Meisterstück der Tarnung. Auch dieser Proteus muß aber Farbe bekennen, wenn man sich getraut, ihn in einer seiner Metamorphosen zu packen. In den neuen Aufsätzen, Bekenntnissen und Gedichten gibt sich sein magischer Solipsismus als Philosophie der totalen Charakterlosigkeit, einer jeder Eventualität gewachsenen Mimikry. Das Hauptdokument ist das Selbstporträt Doppelleben, das die Blamage eines „Intellektualisten“ in die Botschaft einer neuen geistigen Lebensform einkleidet. Man hat sie treffend mit dem Argument der Bewußtseinsspaltung verglichen, auf das sich der Atomspion Klaus Fuchs zu seiner Rechtfertigung berief. Benn macht geltend, er sei im Dritten Reich bald verdächtig und dann verfemt gewesen, was ja wahrlich nur ihn überraschen konnte, lehnt im übrigen jede Verantwortung ab und zieht sich, unter reichlicher Zitierung seiner früheren Schriften, auf folgende Theorie zurück.17 „Der Schwellungscharakter der Schöpfung ist evident, in den Fluten, in den Phallen, in der Ekstase, im Produktiven wird er aufgenommen vom lyrischen Ich“ (nein: vom berauschten!). „Das Wort ist der Phallus des Geistes, zentral verwurzelt“ (das berauschte Wort Benns). „Im Grunde also, meine ich, es gibt keinen anderen Gegenstand für die Lyrik als den Lyriker selbst“ (das meint er). Da das Ich ins Nichts blickt, resultiert daraus „das absolute Gedicht, das Gedicht ohne Glauben, das Gedicht ohne Hoffnung, das Gedicht, an niemanden gerichtet, das Gedicht aus Worten, die Sie faszinierend montieren.“ Soll das auch für Günther, Goethe, Hölderlin, George gelten? Nein, denn:
Natürlich sind Goethe und Rubens da, reich, stabil, nahezu rausch- und giftfrei, wenn man sich Götter vorstellen wollte, hier sind sie, aber sie sind die Ausnahme.
Alle übrige Kunst ist Steigerungskunst von Entarteten, Rauschprodukt, Wirklichkeitszertrümmerung.
Wir werden uns damit abfinden müssen, daß Worte eine latente Existenz besitzen, die auf entsprechend Eingestellte als Zauber wirkt und sie befähigt, diesen Zauber weiterzugeben. Dies scheint mir das letzte Mysterium zu sein.
Genau das war zu vermuten, wir haben ja auch die entsprechend Eingestellten dem Zauber verfallen sehen, aber uns nicht damit abgefunden. Daher setzt er hinzu:
Um es nochmals zu sagen, wer auch hinter dieser Formulierung nur Nihilismus und Laszivität erblicken will, der übersieht, daß noch hinter Faszination und Wort genügend Dunkelheiten und Seinsabgründe liegen, um den Tiefsinnigsten zu befriedigen, daß in jeder Form, die fasziniert, genügend Substanzen von Leidenschaft, Natur und tragischer Erfahrung leben.
Das ist nun eben der dunkle Punkt. Es gibt Leute, die auch diese Auskunft schäbig finden und deren Tiefsinn mit einem andern Schlagwort befriedigt werden muß:
Von Verlust der Mitte ist gar nicht die Rede, folgern wir hieraus hinsichtlich unseres Themas, die Mitte ist voll Unerschöpflichkeit, erst Andeutungen von ihr haben sich in den Hochkulturen dargestellt.
Da hier jemand an die Hochkultur von 1933 denken könnte, muß er sich noch deutlicher vorstellen:
Uns, die letzten Reste eines Menschen, der noch an das Absolute glaubt und in ihm lebt.
Es wird aber immer noch gelacht, daher erklärt er:
Nein, von dieser Mitte nehme ich keine Belehrung an, meine Mitte ist intakt. Entweder nämlich hat der Mensch heute genau so eine Mitte, wie er nur je eine hatte, entweder ist der Mensch auch heute tief, oder er war es nie.
Mit solchem Geschwätz kann man immer noch vielen imponieren, und diese nehmen auch die Schlußfolgerungen daraus für bare Münze. Sie fußen immer noch auf Nietzsches Satz aus dem Willen zur Macht:
Die Kunst als die letzte metaphysische Tätigkeit innerhalb des europäischen Nihilismus.
Das heißt nach Benn, daß „in den Mittelpunkt des Kultischen und der Riten das anthropologische Prinzip des Formalen zu rücken“ ist, „der reinen Form, des Formzwanges, man kann auch sagen: die Unwirklichmachung des Gegenstandes, seine Auslöschung, nichts gilt die Erscheinung, nichts der Einzelfall, nichts der sinnliche Gegenstand, alles gilt der Ausdruck, alles die gesetzgeberische Umlagerung zu Stil“. Die „intakte Mitte“, die das leistet, das faszinierend unerschöpfliche Ich, ist an und für sich nichts, nur Durchgangsort der Erschütterungen, aus denen die unvergängliche Form entsteht. „Ich gehe das Leben an und vollende ein Gedicht. Alles, was sonst das Leben betrifft, ist fragwürdig und unbestimmt; eine Verbindung mit dem Religiösen empfinden wir nicht mehr als tatsächlich“ (woher dann das Kultische und die Riten?), „von der Verbindung mit dem sogenannten Nationalen ganz zu schweigen“ (begreiflicherweise), „als tatsächlich empfinden wir nur seine Fügung in ein ausdrucktragendes ästhetisches“ (er meint: künstlerisches) „Werk. Die biologische Spannung endet in Kunst“ (die moralische würde in Schweigen enden). „Kunst aber hat keine geschichtlichen Ansatzkräfte, sie hebt die Zeit und die Geschichte auf“ (sofern sie nicht durch sie erledigt ist), „ihre Wirkung geht auf die Gene, die innere Erbmasse“ (nicht mehr die Volksmasse), „die Substanz“ (das Lieblingswort des Substanzlosen) – „ein langer innerer Weg“ (immerhin zwölf Jahre). „Das Unterhaltende und Politische einiger Spezialitäten, z.B. des Romans“ (auch Dantes, Molières, Schillers, Dostojewskis?) „täuscht, das Wesen der Kunst ist unendliche Zurückhaltung, zertrümmernd ihr Kern, aber schmal ihre Peripherie“ (nicht mehr die schwarzen Scharen von Littoria), „sie berührt nicht viel“ (denn sie hat sich die Finger verbrannt), „das aber glühend.“ Letzteres ist seltsam, wenn man doch meint:
Ich finde Gebet und Demut arrogant und anspruchsvoll, es setzt ja voraus, daß ich überhaupt etwas bin, aber gerade das bezweifele ich, es geht nur etwas durch mich hindurch.
Woher dann die Glut? An die Entzündung von außen glaubt er nicht mehr:
Man ist doch, das wissen Sie, immer hinter sich her, und das während der siebzig Jahre, die man höchstens zu leben hat, durch Gemeinsamkeiten zu unterbrechen, erschiene mir unverantwortlich.
Nicht nur von der „neuen typologischen Majorität“, die er einst begrüßte, hat er nämlich genug, sondern vom Menschen überhaupt.
Laßt doch euer ewiges ideologisches Geschwätz, euer Gebarme um etwas ,Höheres‘, der Mensch ist kein höheres Wesen, wir sind nicht das Geschlecht, das aus dem Dunkel ins Helle strebt – wohin wir streben, weiß ich offen gestanden nicht, aber was wir erreichten, war in weitem Umfang das Überhebliche.
Wir finden es auch, diese demütige Arroganz ist nicht mehr zu überbieten. „Ich schreite meinen Kreis ab, Moira, ich schreite nicht die Geschichte ab, ich prüfe meine Aufgaben, meine Bindungen“ (Bindungen?), „zerre auch vielleicht an ihnen, aber der Kreis ist in mir beschlossen, ich blicke nicht über mich hinaus, ich versage mir diese Erleichterung“ (uns scheint es eine Erschwerung), „ich arbeite, ich suche Worte, ich zeichne meine Morphologie, ich drücke mich aus. Vierzig Jahre, vierzig Jahre unter Zwang, einem Zwang, nach dessen Wesen ich allerdings vergeblich fragte“ (der frühere Hinweis auf die Schizophrenie war immerhin aufschlußreich)… „Aber was Sie nicht aussprechen, das ist nicht da, denken Sie also ruhig alles aus sich heraus – Sie machen sich Feinde, Sie werden allein sein, eine Nußschale auf dem Meer“ (Flauberts Lieblingsbild), „eine Nußschale, aus der es zirpt mit fragwürdigen Lauten“ (das ist von Benn), „klappert vor Kälte, zittert von Ihren eigenen Schauern vor sich selber“ (also ist er doch etwas?) „– aber geben Sie nicht sos – erstens hört Sie keiner“ (wir hören es sehr gut), „und zweitens wird Ihr Ende sanft sein nach so viel Fahrten“ (das ist das Erstaunliche). „Glühen“ kann dieses absolute Ich auch nicht im Bewußtsein seiner Leistungen, denn auch sie blättern sinnlos von ihm ab.
Übrigens, wenn man vier Jahrzehnte geschrieben hat und liest dann jetzt zusammenfassende Rückblicke, Studien, da faßt man sich an den Kopf. Das kann man doch nicht sein! Woher stammen denn diese Zitate? Verse von mir? Unmöglich! Wenn mir jemand sagte, daß ich eine Tabakfirma verträte und zeit meines Lebens Zigaretten hinter dem Ladentisch verkauft; hätte, würde ich es auch glauben.
Das würde heute noch mancher gern von sich glauben. Leider sind die Dinge aber gedruckt, und nicht nur die Verse. Wir legen sie nebeneinander und fassen uns gleichfalls an den Kopf, wenn wir jetzt lesen:
Daß prophetische Ansichten die Menschen nicht ändern, bessern, ausrichten, hat der Mißerfolg des jüngsten Dionysos erwiesen, die blonde Bestie raste sich aus. Ansichten – nur, um die Peristaltik der geschichtlichen Welt in Bewegung zu bringen, als Gleitmittel – welcher gehaltvolle Mann träte deswegen heute öffentlich hervor?
Die Sinnlosigkeit alles Geschehens, schon immer ein Lieblingsthema von Benns lyrischen Aufschwüngen, wird von ihm nun gallenbitter herauf beschworen und zum Vorwand für den Verzicht auf jegliche moralische Entscheidung gemacht. „Es ist natürlich naheliegend, zu sagen, dieser Glaube“ (welcher?) „müsse bekannt werden, wer so denkt, wer die Dinge so sieht, müsse eingreifen, aufhalten, Revolution machen oder sich erschießen lassen. Dieser Ansicht bin ich nicht. Es gibt hinsichtlich dieser Dinge keinen allgemeinen Beweis, es gibt nur existentielle Gründe. Bei mir liegen diese Gründe in meinem persönlichen Unglauben an“ (wie drückt er sich aus, Moira) „eine Bedeutung der geschichtlichen Welt. Ich habe es nicht weiter gebracht, etwas anderes zu sein“ (Moira, Moira!) „als ein experimenteller Typ, der einzelne Inhalte und Komplexe zu geschlossenen Formgebilden führt, der unter Einheit von Leben und Geist nur das gemeinsame sekundäre Resultat verstehen kann: Statue, Vers, hinterlassungsfähige Gebilde.“ Warum verhöhnte er denn 1933 die aus Deutschland fliehenden Künstler und Dichter, von denen einige wahrlich Hinterlassungsfähigeres hinterlassen haben, als es die Mehrzahl seiner Gedichte ist? Das ist ja das Elend gewisser Literaten, die schon der alte Andreas Gryphius „Schriftlinge“ nennt, daß sie nicht zu ihrem Geschriebenen stehen. Und wie kommt Benn dazu, seine schmissigen Songs mit Statuen zu vergleichen? Sie stehen in einem schreienden Gegensatz zu seiner Lehre von der unzerstörbar gefügten Form, die man wohl einem Phidias oder Michelangelo glaubt, aber nicht einem, der Sätze wie diesen schreibt:
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, der Mensch habe noch einen Inhalt oder müsse einen haben. Der Mensch hat Nahrungssorgen, Familiensorgen, Ehrgeiz, Neurosen, aber das ist kein Inhalt im metaphysischen Sinn.
Trotzdem ist er der Ansicht, entweder sei der Mensch noch heute tief, oder er sei es nie gewesen.
Im Nichts sind eben alle Katzen schwarz. Im unendlich Sinnlosen heben sich alle Widersprüche auf. Wenn einer Benn schreibt, es wäre an der Zeit, daß er auch zur Nation redete, statt Monologe zu führen, die er ja im Grund mit der Nation und mit Gott führe, dann verfärbt sich das Chamäleon augenblicklich ins Fromme und antwortet:
Niemand ist ohne Gott, das ist menschenunmöglich, nur Narren halten sich für autochthon und selbstbestimmend. Die Frage ist also gar nicht, ob Gott oder Nicht-Gott, die Frage ist nur, ob man Gott in sein Leben verarbeitet, ob man ihn verwertet, ihn unmittelbar für seine Lebensart benötigt. Er verlangt es bestimmt nicht… Ihn fortgesetzt mit Blicken und Lippen anzustarren, ist in meinen Augen ein großer Frevel, es setzt ja voraus, daß wir überhaupt für ihn etwas sind, während meine Ehrfurcht annimmt, er geht nur mit etwas, einem geringen Etwas, durch uns hindurch.
Wie durch Moses und die Propheten. Ein noch größerer Frevel ist es, wie da der Nihilist Gott mit seinem eigenen Nichts verwechselt. Nicht anders hat es ja auch der Briefschreiber gemeint, der ihm versicherte:
Wenn das Ich alles ist, so ist auch das Du alles, und wahrscheinlich sind beide dasselbe. Es kommt nur darauf an, daß man sich selber, wie die Urgötter, zu spalten versteht, in das Ich und in Gott, in das Ich und die Nation, in das Ich und die Geliebte.
So reden die Herren heute miteinander. In Barlachs letztem, aus der Erde gerettetem Drama stehen die Worte:
Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich.
Für Benn dagegen bleibt es dabei:
Schön, alles in Ordnung, muß wahrscheinlich alles so sein, aber bitte ohne mich, ich kenne nämlich eine Sphäre, die ruht, die nie aufgehoben werden kann, die abschließt: die ästhetische Sphäre.
Diese Geistesverfassung nennt er die „Phase II“, „nämlich Phase II des expressionistischen Stils, aber auch Phase II des nachantiken Menschen“. Sagen wir bescheidener: des nachhitlerischen. Kennzeichnende Attribute für sie seien „interessant“ und „Scharlatan“.
Scharlatan – das ist kein schlimmes Wort, es gibt schlimmere: historisch und grundsuppig.
Den Scharlatan hat man freilich schon in Phase I bemerkt, wenn der Sänger in den Kalauer ausrutschte, so daß schwer zu erkennen war, wo die Lyrik aufhörte und das Kabarett anfing. Beim alten Benn ist diese Grenze ganz verwischt. Der Essayist blufft mit Superlativen und Fremdwörtern, es fallen ihm die tollsten Übertreibungen ein:
Dies als Lehre zu verkünden, erscheint mir eine geistige Perversität, der gegenüber die verzerrtesten Ausgeburten versengter Landstriche, Fakirkünste, religiöse Bauchrhythmik, indische Eingeweide- und Leberübungen das reine Atmen von Dolden ist.
Auch die Berliner Frechheit ist wieder da:
Wenn dir jemand Ästhetizismus und Formalismus zuruft, betrachte ihn mit Interesse: es ist der Höhlenmensch, aus ihm spricht der Schönheitssinn seiner Keulen und Schurze.
Er macht uns das Hexeneinmaleins vor:
Unterzieht man die weiße Rasse einer Betrachtung, wird man als ihre größten Männer Plato, Michelangelo, Shakespeare, Goethe nennen müssen, von diesen waren zwei eindeutig homoerotisch, einer zweideutig, der vierte – statistisch also fünfundzwanzig Prozent – einwandfrei nicht homosexuell.
Er reißt über den Menschen Witze wie ein Clown vor der Bude:
Ein Konglomerat das Ganze – Zähne raus, Mandeln raus, Blinddarm raus, Gebärmutter raus, geprägte Form, die prophylaktisch sich zerstückelt.
Daher seine Berufung auf Goethe als einen Ahnherrn des modernen Nihilismus. Nationen gibt es aber auch, „die haben Augenblicke, in denen sie ihre eigene Substanz analysieren und überzeugt feststellen, daß sie aus nichts weiter bestehen als aus Rasse und Turnschuhen.“
Deutschland hat den Surrealismus, die Kunst des Unsinns, verpaßt, da er in Frankreich unter dem Alpdruck des Dritten Reiches aufblühte. In Benn fand es den Anschluß an ihn, nur leider unfreiwillig und mit tödlichem Ernst. Welcher Witzbold hätte er sein können ohne sein deutsches Gemüt! „Bengalische Krisenbeleuchtung und Grundlagenfeuilletonismus werden bald nur eine Weide für Strauße sein oder eine Steppe, über die die Füchse laufen. Optimismus-Pessimismus werden sich umarmen wie zwei Jünglinge im feurigen Ofen, und ihre Asche streut ein mongolischer Wind rechts in den Atlantik und links ins Mittelmeer“ – so etwas liest man auf deutsch nur noch bei Hans Arp und Kurt Schwitters. Auch als Lyriker wirkte Benn schon immer nur dort echt, wo er entweder in Trance geriet oder aber metaphysische Witze auftischte. Die Entrückungslieder gelangen ihm zuletzt nur noch selten, seine Altersgedichte sind vorwiegend saloppe Journalistik oder Unsinnspoesie. Aber sie kommt als solche nicht recht zur Geltung, denn er schluchzt mit der Zigarette an der Unterlippe.
Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion –: Gama-Strahlen-Lamm –,
Teilchen und Feld –: Unendlichkeitschimären
auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.
Ich ziehe Arp und Morgenstern vor, weil sie mir keinen metaphysischen Dunst vormachen, sondern zu ihrem Infantilismus stehen. Arp hat ein gutes Gewissen, wenn er die Wörter auftürmt wie ein Kind seine Klötzchen und sie dann lachend durcheinanderschmeißt:
die klappernden märchen strickenden straßen packenden störche tanzen.
die wachsenden schornsteine fressenden harfen porzellanenen sträuße tanzen.
die wurzeln der pharaonen sind aus rosen.
die störche packen ihre schornsteine in ihre koffer und ziehen in das land der pharaonen.
Neben diesen übermütig steigenden Kinderdrachen nimmt sich Benns Gaukelwerk bleischwer aus. Arp hat das Wortkaleidoskop erfunden, in dem sich die Splitter der sinnlos gewordenen Sprache zu bezaubernden Figuren zusammenschließen; man guckt eine Weile in das Spielzeug hinein und legt es weg, wenn es einem verleidet ist. Spielen ist schön, aber es muß richtiges Spielen sein, wie es nur Kinder und Narren verstehen, zu denen Arp sich zählt:
Als wäre der ewige Schalk
in eigener Person
aus der himmelblauen Verzweiflung der Unendlichkeit
in uns gefahren…
Es war wohl am ehesten als ein schabernakalisches Scheinmanöver
von Singen und Musizieren anzusprechen,
was wir auf dieser Erde,
auf dieser Welt der Bretter und des Scheines
einem illustren Publikum von
Spiegelfechtern, komischen Käuzen, fidelen Häusern, Tausendsasas,
die uns die Ehre erwiesen, unserer Vorstellung beizuwohnen,
zum besten gaben.
Hätte sich Benn in solche Späße gerettet, statt seine nihilistische Philosophie auszubrüten! Er litt offenbar selbst an seiner Schwere. „Unterhaltlich bin ich kein Matador“, gesteht er in Doppelleben, „ging nie auf Feten, nicht aus Ablehnung, sondern aus einem physiologischen Grunde, der mein ganzes Leben so beherrschte, daß ich ihn erwähne: eine Müdigkeit von hohen Graden, eine gehirnliche Schwere innerer und äußerer Art, die ich geradezu als Widerstand gegen Eindrücke bezeichnen muß – ich versuchte es mit allen Mitteln zu bekämpfen, aber meistens vergeblich.“ Er sagt nicht, ob zu diesen Mitteln auch Rauschgifte gehörten; im Aufsatz „Provoziertes Leben“ singt er ihr Lob, beschreibt ihre Wirkungen und empfiehlt sie zur beschleunigten Heranzüchtung des neuen Menschen.
Die wenigen elementaren Verbrechen, die ein Jahrzehnt etwa mit sich bringt, genügen nicht, um den Glauben an einen moralischen Besitz der Rasse wach zu erhalten. Vor allem fehlt jede systematische Erziehungsarbeit in der Richtung bewußter Vitalsteigerung, weil es ja eben der Epoche überhaupt an wahren Grundsätzen fehlt. Sonst käme sie darauf, durch den Ausbau visionärer Zustände, etwa durch Meskalin oder Haschisch, der Rasse einen Zustrom von Erkenntnissen und von Geist zu vermitteln, der eine neue schöpferische Periode aus sich entbinden könnte. Oder sie fände die Idee, die Hypnose – heute ausschließlich in den Händen kausal-analytischer, auf Normbegriffe gedrillter Ärzte – nicht weiter allein auf Lebensbejahung im Sinne von Betriebsverwendbarkeit auszurichten, sondern die Freimachung unbewußter, d.h. eindruckslos gewordener Organfunktionen sowie archaischer Mechanismen durch sie zu versuchen – überraschende Erlebnisresultate würden das Ergebnis sein. Pervitin könnte, statt es Bomberpiloten und Bunkerpionieren einzupumpen, zielbewußt für Zerebraloszillationen in höheren Schulen angesetzt werden. Das klingt wahrscheinlich manchem abwegig, ist aber nur die natürliche Fortführung einer Menschheitsidee.
Sogar so etwas bringt der Scharlatan mit todernster Miene vor.
Ob Morphinist oder Kokainist oder keines von beiden, ob schizoid oder nur hochparaboloid, Benn ist der Musterfall eines manisch-depressiven Narkotikers, dessen Zerebraloszillationen zwischen phantastischem Überschwang und aschgrauem Katzenjammer vibrieren. Die filmartige Flucht seiner Assoziationen, die ausschweifenden Superlative und Hyperbeln, der Schwellungscharakter seiner Wortergüsse, die Steigerungswut seiner Verse, der hypnotische Rhythmus und Satzbau auch in seiner Prosa, die stoßweise anflutenden und immer geiler emporjagenden Kämme seiner lyrischen Bilder, ihre wollüstigen Gipfel und ihr Absacken ins Nichts sind literarisch nicht schwer zu diagnostizieren. Es sind die „paradis artificiels“ der dekadenten europäischen Romantik, nur etwas spät und etwas erschlafft, was sich auch in der zunehmenden Sprachverluderung spiegelt. Es ist die Agonie des ausgelebten, in die Enge getriebenen rein ästhetischen Kunstbegriffs, die sich als „Phänotyp“ einer kommenden Rasse zu präsentieren versucht. Der „Roman des Phänotyp“ von 1944 und die Novelle „Der Ptolemäer“ von 1947 wollen die „absolute Prosa“, also eine deutsche „poésie pure“, begründen. Da werden die alten Halluzinationen noch einmal bis zum Überdruß abgebrannt: das Menschliche zählt nicht zu den höchsten Sphären – „natürlich soll man human sein, aber es gab hohe Kulturen, darunter solche, die uns sehr nahestehen, die diesen Begriff überhaupt nicht realisierten“ –, es gibt keine individuellen Konflikte mehr:
Mein Gott, diese soziale Welt, – wer jonglieren konnte und Maske machen, schlüpfte ihr noch immer durch die Maschen!
Der Kern der Rasse ist „der Geist, das heißt der Nihilismus“, alle großen Geister der weißen Völker in den letzten fünfhundert Jahren waren Nihilisten, den Vorrang hat das Archaische und Amorphe:
In dieser romantischen Schummerbeleuchtung wird vom Ptolemäer Benn noch einmal die Ästhetik der reinen Ausdruckskunst gepredigt. Die Welt ist „nur als ästhetisches Phänomen zu deuten und zu ertragen.“ Denn „vor wem sollen wir noch knien?“ Nur vor dem standpunktlosen, ephemeren, tatenlos verwehenden Ich, das „unter Böen aus Nirvana“ parthenogenetisch das Unvergängliche schafft, dem Nichts entsteigend und im Nichts sich lösend.
Ausschweifen und es beobachten, leiden und es übersteigern; ein Phallus im Stammhirn; eine Orgie, eisig und glühend, bitter und süß, in Dunkelheiten und Nächten in ihm allein. Fröste des Isoliertseins, blutleerer Taumel, Brüchigkeiten, – und fortschreiten, fortklimmen, fortschleichen von Wort zu Wort, Silbe zu Silbe, — Tauziehen mit Gedanken, Volten der Überspannung, alles dies unter körperlichen Gefahren –: Ausdruck schaffen, ja ihn verlangt nach dem allein.
Der Ptolemäer philosophiert über Lyrik so desperat, wie er 1933 politisierte, und betätigt den Schwelltritt der Kinoorgel ausgiebiger als je.
So geht alles durcheinander, Blut, Speichel, Tränen, Samen, wer will sagen, was das Richtige, was das Wichtige ist? Wir wogen nach allen vier Himmelsrichtungen, die Windrose ist viel zu klein. Die große Verwobenheit, das Heilige in allem. Immer wieder sein Schicksal auf sich nehmen, Trauer und Licht, Melancholie und Neonbeleuchtung, Hoffart, Unzucht, Ausbeutung und dann die hohen Dinge: der Becher mit Schierling und die Dornen am Kreuz.
Da der Ptolemäer zwar nichts lehren will und einzig seine Leere genießt, aber dem Dogma von der Schöpferlust des Nichts verfallen ist, fühlt er kollegial für Sokrates und Christus, und auch der Prophetenbart kommt gelegentlich wieder zum Vorschein. Doch seine Botschaft lautet jetzt anders, denn das Dritte Reich ist abgeschrieben, „mein Nihilismus ist universal“. Ernstnehmen der Wirklichkeit ist nur eine „abendländische Schicksalsneurose“, ist „die schizoide Katastrophe“. Der Geist steht in reiner Verzweiflungsstellung da wie angeblich bei Jakob Böhme, der „bemerkenswerterweise an das Nichts, nicht an Gott“ glaubte (das steht schon bei Feuerbach, der auch nicht wußte, daß Nichts das mystische Wort für die über allen Namen seiende Gottheit ist).
Erst heute dämmert vor so viel Widersinn und Qual die Ahnung davon auf, daß das Leben gar nicht in den Besitz von Erkenntnis gelangen, der Mensch, jedenfalls die höhere Rasse, gar nicht um inhaltliche Stofferklärungen ringen sollte. Es sieht vielmehr alles nach einem versuchsweisen Schritt der Ferne aus, die die Formel für ein ungeheuerliches Alkaloid preisgab, aber die Substanz völlig rein bewahrte… Es handelt sich nicht um Züchtung in eine nicht mehr erwartbare und auch nicht mehr verwertbare Zukunft, sondern um Haltung in einer nur noch abstraktiv erlebbaren, finalen Gegenwart. So lautet die Chiffre. Hier halten die Bestimmten: vor den fernen Zeichen, den sich nähernden, als die unsichtbaren Träger der Verwandlung.
Er hört sie noch immer hallen, die Schritte. Aber für sich selbst erwartet er nichts mehr, als daß man ihn mit seiner finalen Chiffre in Ruhe läßt. Nur in die Pose des charaktervollen Bekenners wagt er sich noch zu werfen. „Ich von heute, der mehr aus Zeitungen lernt als aus Philosophien, der dem Journalismus näher steht als der Bibel, dem ein Schlager von Klasse mehr Jahrhundert enthält als eine Motette, der an einen gewissen physikalischen Ablauf der Dinge eher glaubt als an Nain oder Lourdes, der erlebt hat, wie man sich bettet, so liegt man, und keiner deckt einen zu –“ doch das Maß des Unerträglichen ist längst voll.
Warum wirkt das alles so würdelos? Große Künstler der modernen Zeit wie der Vergangenheit haben beinahe das gleiche gesagt, Kafkas Bekenntnisse beispielsweise decken sich oft fast wörtlich damit und sind doch durch einen Abgrund davon getrennt. Alles, was Benn schreibt, wäre wahr, wenn es nicht auf der Verwechslung von Nihilismus und Tragik beruhte. Die beiden Denkweisen liegen haarscharf nebeneinander und überschneiden sich vielfach, aber es liegt eine Welt zwischen ihnen, und kein noch so virtuoser Tänzer täuscht auf die Dauer darüber hinweg. Benn verbiß sich in das Zauberwort Nihilismus und hielt sich dadurch für unangreifbar. Es ist aber nur das heutige Allerweltswort, nicht die Weisheit eines schöpferischen Geistes. Es sieht ihr zum Verwechseln ähnlich und ist doch nur ihr armseliger Ersatz. Das tragische Denken hat Konsequenzen, es erlaubt kein Lavieren und Renommieren. Es bürdet seinem Träger ein Schicksal auf, von dem der Ptolemäer nichts ahnt. Diese Last zu heben oder gar zu tragen, dazu fehlt ihm die Kraft. Er schwatzt nur von ihr.
Der rehabilitierte Benn veranschaulicht das Ende einer Generation, die sich an Nietzsche übernommen hat und die wir lieber anders hätten sterben sehen. Man etikettiere diesen Exhibitionismus bitte nicht als „geistige Verzweiflung“, diese sieht anders aus. Ein geschminkter Schauspieler am Tageslicht ist keine tragische Figur. Es sind die Ladenhüter des Fin de siècle, die da noch einmal an den Mann gebracht wurden. Die idyllische Richtung der Neuromantik hat sich in Hesses Glasperlenspiel zur Ruhe gelegt, die diabolische zeigt seit Nietzsche die Zähne. „Der Drang, sich auszudrücken, zu formulieren, zu blenden, zu funkeln – das war seine Existenz“, rühmte Benn von ihm, und er hoffte ihn noch zu überbieten:
Erst in uns begann das Böse und Zerrissene, das Luziferische, das keine Objektivität mehr kennt.
O nein, die Welt ist seit langem voll davon, es ist eine altvertraute Musik. Dieser Glaube an das Kunstwerk um seiner selbst willen war bei Platen noch eine Religion, bei Stendhal und Flaubert der Rettungsring Ertrinkender, in der Décadence und beim mittleren Nietzsche Symptom eines hochgradigen geistigen Zerfalls. Dieser delirierende Stil begeisterte einst an Victor Hugo, von dem Mallarmé sagte: Welcher Dichter wäre er gewesen, wenn er etwas zu sagen gehabt hätte! Die letzten, echt tragischen Meister der Trancelyrik waren Verlaine, Rimbaud und Trakl, bei denen der Schönheitstraum sich tödlich verdunkelte. Daraus ist die Katastrophenkunst des zwanzigsten Jahrhunderts in allen ihren Formen hervorgegangen, die vom Narrengeschell bis zur mystischen Erschütterung reichen. In Benn sind alle Geister dieser Endzeit, vor allem die bösen Geister des Ästhetizismus, zum Kehraus versammelt, aber es ist daraus nichts Gutes, nur eine muffige Form des Existentialismus aus zweiter Hand geworden. Der Hörselberg, in den er uns lockt, reizt uns nicht mehr. Was einer in diesem Ton sagt, kann nicht wahr sein, und er kann nur in diesem Ton davon reden. Es ist nicht nur durch die persönliche Vergangenheit Benns, sondern durch den Gang der Geschichte hinfällig geworden.
Auch wir sehen diese Geschichte eher sinnlos als sinnvoll, eher halluzinatorisch als vernünftig, eher klein als groß. Aber einige Wahrheiten hat sie doch gerade in den letzten Jahren ans Licht gebracht. Zu ihnen gehört die, daß die Kunst nicht mehr ohne weiteres etwas schlechthin Höchstes ist. Dieser Anspruch, der sie in Europa seit der Renaissance trug, ist verbraucht; er war zuletzt ein schönes bürgerliches Vorurteil, und heute ist er nichts mehr. Wir haben erfahren, daß viele Künstler ihm nicht mehr gewachsen sind. Sie haben die absolute Form zum Götzen herabgewürdigt und als Chimäre entlarvt. Wir haben erfahren: die Kunst steht diesseits von Gut und Böse, sie kann auch ein Laster sein, Verbrecher können sich ihrer bedienen. Wer das nicht weiß, ist von gestern. Die Maßstäbe haben sich grausam verschoben. Benn war bis zuletzt ein Dichter, ein Zauberlied wie „Welle der Nacht“ beweist es trotz der Umgebung, in der es steht. Aber Schönheit allein ist nichts mehr, es kommt darauf an, wer sie schafft und warum er sie erzeugt. Sie liegt heute auf der Straße, Tausende schaffen sie. Tausende mißbrauchen sie. Sie ist uns fad geworden, wir glauben nicht mehr an sie.
Das Rätsel Benn ist der nicht durchschaute Zusammenhang zwischen Kunst und Moral. Für uns ist dieser Dichter weder ein Rätsel noch eine Faszination. Wir kennen größere, die etwas zu sagen haben und die Verantwortung für ihre Worte übernehmen, sei es auch nur, indem sie verstummen. Die Zukunft der Kunst hängt nicht von einer an sich sinnlosen Schönheit ab, wie die Zukunft der Völker nicht von ihrem Vorrat an Wasserstoffbomben, sondern von ihrem Vorrat an moralischen Energien.
Walter Muschg, aus Walter Muschg: Die Zerstörung der deutschen Literatur, List Verlag, 1960
Brief an Jürgen P. Wallmann
Im Jahre 1956 erschien im Francke-Verlag in der Schweiz ein Buch mit dem Titel Die Zerstörung der deutschen Literatur; der Verfasser ist Prof. Dr. Walter Muschg, Ordinarius für deutsche Literatur an der Universität Basel. In seinem Buch befaßt sich Prof. Muschg in 8 Essays mit deutschsprachigen Schriftstellern und Dichtern, u.a. Josef Weinheber, Friedrich Schiller, Jeremias Gotthelf und Sigmund Freud. Ein Essay, betitelt „Der Ptolemäer“, ist der Person und dem Werk des 1956 verstorbenen Dichters Gottfried Benn gewidmet. Dieser Essay stellt wohl die stärkste Ablehnung dar, die Benn bisher erfahren hat; obwohl der Verfasser dem Lyriker Benn dichterische Begabung nicht abspricht, lehnt er ihn vor allem aus moralischen Gründen ab.
Der Aufsatz von W. Muschg schien mir einige Unklarheiten und einander widersprechende Aussagen zu enthalten. In einem Brief an den Verfasser setzte ich mich mit diesem Essay ausführlich auseinander; nachstehend veröffentlichen wir den Antwortbrief von Herrn Prof. Muschg, der wohl von allgemeinem Interesse sein dürfte.
J.P.W.
Sehr geehrter Herr Wallmann!
Sie haben mir Ihre Einwände gegen meinen Aufsatz über Gottfried Benn so ernsthaft und sachlich geschrieben, daß ich Ihnen gern darauf antworte. Ich muß mich allerdings auf Stichworte beschränken.
Daß Sie, wie Sie sagen, erst durch Benn und seinen Vortrag Probleme der Lyrik zur Beschäftigung mit Dichtung gekommen sind, ist für mich bereits eine Rechtfertigung meiner Kritik. Darin sehe ich eben das Unglück, daß die deutsche Nachkriegsjugend diesem Betäubungskünstler ins Garn lief, statt daß sie bei Trakl oder Loerke die wahrhaft große deutsche Lyrik des Expressionismus kennenlernte. Kennen Sie die Lasker-Schüler? Es wären noch andere Namen zu nennen.
Benns Charakterlosigkeit ist etwas anderes als die Tolstois, der um die Erfüllung einer sittlichen Forderung rang, unter der er schließlich zerbrach, während Benn die Unverantwortlichkeit zum Prinzip erhob. Daß er nicht wie Weinheber die Konsequenzen aus seiner Bodenlosigkeit zog (es brauchte nicht der Selbstmord zu sein), bestätigt auf der menschlichen Ebene seinen Mangel an Größe. „Welle der Nacht“ ist ein gutes Gedicht, aber gegenüber Benns früherer Lyrik nichts Neues, sie geht im Grund nicht über Verlaine hinaus. Ein Witzbold ist Benn sicher mitunter gewesen, namentlich unfreiwillig. Seine Empfehlung der Rauschgifte ist ernst gemeint. Seine ganze Theorie des „Doppellebens“ ist ja ein Witz, da eine ganze kompromittierte Generation sich auf sie beruft.
Saloppe Journalistik sind meines Erachtens in den Statischen Gedichten, um nur diese herauszugreifen: „Chopin“, „Orpheus’ Tod“, „Am Saum des nordischen Meers“, „Gärten und Nächte“, „Verlorenes Ich“, „St. Petersburg“, „O gib“, „Statische Gedichte“.
Die Feststellung der zunehmenden Sprachverluderung ist kein Widerspruch zu meinen lobenden Worten über die Essays, die sich auf Benns frühe Prosa beziehen. Die Sprachverluderung können Siez. B. in dem Band Ausdruckswelt beinahe auf jeder Seite finden, was ich gern Ihnen überlasse.
Muffig nenne ich Benns Existentialismus im Vergleich zu anderen modernen Autoren, die das Grauen des Nichts echter erfahren haben als er, z.B. zu Kafka, Barlach, Loerke, selbst Sartre. Muffig finde ich ihn auch deshalb, weil er sich immer noch im Ästhetischen bewegt und im Grund eine letzte Form der Romantik ist. Ihre Ansicht, es sei für den „Kunstverbraucher“ unerheblich, aus welcher Situation heraus ein Gedicht entstanden sei, und der „Vorrat an moralischen Energien“ sei vielleicht für die Zukunft der Völker, aber nicht für die Zukunft der Kunst von Bedeutung, steht im Gegensatz zur Entwicklung der ganzen modernen Kunst. Ich habe diesen Satz nicht erfunden, sondern aus der Betrachtung der heutigen literarischen Situation abgeleitet. Alle großen modernen Autoren sind Moralisten. Das gilt auch für die großen modernen deutschen Autoren, die 1933 geächtet wurden und seither in der Versenkung geblieben sind. Es ist ein bürgerliches Vorurteil aus dem 19. Jahrhundert, daß Kunst und Moral nichts miteinander zu tun hätten. Darauf beruft sich auch Gottfried Benn, und mein Haupteinwand gegen ihn ist, daß er nicht zeitgemäß ist. Meine Kritik will dazu beitragen, daß er zugunsten der Größeren abdanken muß, denen er im Wege steht und auf deren Vermächtnis Sie ein Anrecht haben.
Mit bestem Gruß
W. Muschg (1958), in Akropolis. Schulzeitung des Burggymnasiums in Essen, Pfingsten 1958
Und nun beginnt der Prozeß der Aufweichung, der langsamen, aber unausweichlichen Korruption – ein Grund unter anderem, weshalb ich auswandern muß, so bald als möglich, aus diesem Österreich des Ständestaates, aus Furcht vor meiner eigenen Veränderung. Peter hat nach dem Krieg, in einem Rundfunkgespräch mit Gottfried Benn, die Notwendigkeit der Emigration aus einem totalitär gewordenen Land daraus erklärt, daß sie einem „den Rückzug auf einen faulen Kompromiss“ unmöglich macht. Wenn ein Mensch sich selbst einen Weg versperrt, „von dem er weiß, daß er äußerlich bequem ist, ihn aber innerlich in die Hölle bringen wird, dann kann das nicht vergeblich sein.“ Und er fügte hinzu: „Wir alle sind außerordentlich schwache Menschen, drinnen wie draußen, sind alle den unseligen Versuchungen, preisgegeben, jeden Tag, Versuchungen politischer, geistiger, moralischer Art, ganz gleich. Es geht darum, sich den Rückzug auf diese Versuchungen abzuschneiden.“ So und nicht anders, empfand ich damals auch.
Hilde Spiel (in erster Ehe mit Peter de Mendelssohn verheiratet)
Es hat nur Wert in der geistigen Welt, was man wirklich erlebt hat, was man innerlich erlitten und durchdacht hat, nur das gewinnt Gestalt, daher vertrete ich ja auch rückhaltlos den Standpunkt, daß die Emigranten nicht mit der Klarheit wie wir Hiergebliebenen die deutsche Geschichte beurteilen können, daß sie allein aus Ressentiment und Haß ihre jetzigen Elaborate nähren. Ich würde auch heute wieder hierbleiben und die Dinge erleben wollen, und ich spreche den Emigranten das Recht ab, sich als die alleinigen Repräsentanten des geistigen Deutschland zu gerieren.
Benn an Max Niedermayer am 6. April 1949
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt, Merkur, Heft 18, August 1949
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt (II), Merkur, Heft 19, September 1949
Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957
L.L. Matthias: Erinnerungen an Gottfried Benn, Merkur, Heft 171, Mai 1962
Nico Rost: Begegnungen mit Gottfried Benn, Merkur, Heft 218, Mai 1966
Nino Franks Bericht über seinen Besuch bei Benn, Merkur, Heft 398, Juli 1981
Walter Aue: „Das ist Bahia, am Meer“. Wege zu Gottfried Benn
Norbert Hummelt: Auf einen Sprung zu Gottfried Benn
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Gottfried Benn
VERLUST
nach Gottfried Benn
Romulus und Remus –
nachtdurchschluchzte Mythe,
am Baum des Nicodemus
nur eine taube Blüte.
Ach, so springen die Hunde
über den Opferstein –
ewig kreißende Wunde:
Pawlow und Magenschleim.
Götter, längst vergessen,
leer die Akropolis,
Südseevision und Fressen:
tragische Synthesis.
Im Nacken gesträubt die Haare,
dicht unterm Cerebrum:
lerne, leiste, spare –
dumm!
Höher kannst du nicht springen,
Köter, carpe diem!
Wenn die Buicks singen,
spürst du: La Bohème.
Deine Knochen zerfallen
tief im Schöpfungsschoß.
Charon bindet uns allen
einmal den Nachen los.
Im Maul gonorrhoische Schwarte
stirbst du den Thalatta-Tod.
Knurr nicht, das Ende erwarte,
das Zeugungsabendrot.
Weit in die blutige Breite
dehnt sich dein dreckiges Vließ:
morgen an deiner Seite
bin ich im Paradies.
Manfred Bieler
Helmut Böttiger: Gottfried Benn – Kleine Aster und andere Gedichte
Gottfried Benn: Kleine Aster – Gedichte und Prosa. Ulrike Draesner und John von Düffel im Gespräch mit Anja Brockert am 21.01.2019 im Literaturhaus Stuttgart.
Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011
Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.
Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946
Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956
Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966
Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966
Bruno Hillebrand: Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod
Neue Deutsche Hefte, Heft 110, 1966
Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976
Jürgen P. Wallmann: „Der Ruhm hat keine weissen Flügel“
Die Tat, 30.4.1976
Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976
Heinz Friedrich: Plädoyer für die schwarzen Kutten
Merkur, Heft 30, 1976
Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986
Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986
Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006
Jörg Drews: Das Gegenteil von ,gut gemeint‘
Tages-Anzeiger, 4.7.2006
Cornelius Hell: Persönlich, poetisch, politisch
Die Furche, 29.6.2006
Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.
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