WOHIN −
Wohin kanst du mich noch führen,
dem längst die Sterne entfacht,
die Weiten atmen und spüren
die ganze Tiefe der Nacht?
Wovon kannst du mich noch lösen,
dem alles gleitet und rinnt,
die Stimmen, die guten, die bösen,
ihre Schilfe rauschen im Wind?
Wovon gibst du noch Kunde,
wozu, von wem erwählt,
dem in Fäden der Spinne die Stunde,
nur sie, die fallende, zählt?
Die Stuttgarter Ausgabe der Sämtlichen Werke Gottfried Benns enthält die vom Dichter veröffentlichten und hinterlassenen Texte in der jeweiligen Fassung letzter Hand. Der Editionsplan sieht vor:
Band I: Gedichte 1 (Gesammelte Gedichte von 1956)
Band II: Gedichte 2 (1901–1956)
Band III: Prosa 1 (1910–1932)
Band IV: Prosa 2 (1933–1956)
Band V: Dialogische Formen (1910–1955) Gesamtregister
Der erste Band respektiert die von Benn getroffene Auswahl und Anordnung seiner Gesammelten Gedichte aus dem Todesjahr 1956. Der zweite Band trägt die zu Lebzeiten zwar einzeln veröffentlichten, aber von dieser Sammlung letzter Hand ausgeschlossenen Stücke nach, bietet unter den „Gedichten aus dem Nachlaß“ eine Anzahl bisher noch unbekannter hinterlassungsfähiger Gebilde und als „Poetische Fragmente“ jene lyrischen Notizen, die sich nicht der Textgenese vollendeter Gedichte zuordnen ließen. Beide Bände sind aufeinander bezogen; sie beschreiben im Anhang die wechselnden Gruppierungen der Zyklen und stellen so auch die bibliographische Chronologie des Gedichtwerks wieder her.
(…)
Die Edition fußt auf dem Nachlaß Gottfried Benns im Besitz von Frau Dr. Ilse Benn, den die Deutsche Schillergesellschaft im Hinblick auf eine künftige kritische Gesamtausgabe bereits 1968 durch Harald Steinhagen katalogisieren ließ. Neben regelmäßigen Einzelerwerbungen von Benn-Autographen gelang dem Deutschen Literaturarchiv 1980 auch die Übernahme der Sammlung F.W. Oelze. Hinzu kam 1984 als Depositum der Verlagsgemeinschaft Klett-Cotta das Limes-Archiv mit den seit 1948 dort verwahrten Satzvorlagen der Benn-Drucke und den für die Textgeschichte unentbehrlichen Korrespondenzen.
Der Anhang eines jeden Bandes berichtet über die ENTSTEHUNG eines Textes mit Daten und Phasen seiner Niederschrift. Die ÜBERLIEFERUNG verzeichnet die ermittelten handschriftlichen, typoskribierten und gedruckten Textzeugen (ausgenommen bloße Abschriften, Nach- und Doppeldrucke) von der ersten Notiz bis zur letzten vom Autor kontrollierten Publikation. Vorstufen eines Textes werden innerhalb der LESARTEN in der Regel vollständig geboten. Die formale Wiedergabe der einzelnen Handschrift hatte dabei von der Wort für Wort abwägenden Arbeitsweise Benns auszugehen. Sie ordnet die verworfenen oder als Alternativlesart erkennbaren Stufen in der vermuteten zeitlichen Reihenfolge ihrer Fixierung synoptisch untereinander. Mit Gründen verzichtet wurde auf eine detaillierte Beschreibung des graphischen Befundes (der Papiersorten und -formate, des Erhaltungszustands etc.); da sich die Originale oder Fotokopien der benutzten Vorlagen in Marbach befinden, genügt zur Identifizierung ein unverwechselbares Kennzeichen wie Benns Schreibweise von Daten und seine Signatur. Der lemmatisierte Apparat verzeichnet die punktuellen Abweichungen der Überlieferungsträger voneinander: Interpunktion, Orthographie, Streichungen und Einschübe. Zwischen den Handschriften, Typoskripten und Drucken schwankende Schreibung von ss statt ß und u./u statt und blieb dabei unberücksichtigt. Grundsätzlich korrigiert, weil sie den Vers zerbricht, wurde die vom Limes-Verlag seit 1954 durchgeführte Großschreibung nach einem Doppelpunkt. Die zahlreichen Korruptelen, wie sie insbesondere die Erstdrucke der Texte Benns entstellen, werden nachgewiesen und emendiert. Um nicht wichtige Varianten zu begraben, lassen sich bei den Prosabänden redaktionelle Bearbeitungsschichten des jeweiligen Überlieferungsträgers berichtend vorausnehmen. Die HINWEISE bieten, dem Forschungsstand und der Erläuterungsbedürftigkeit eines Textes entsprechend, Verständnishilfen als Grundlagen der Interpretation. Auf die Erklärung von lexikalisch leicht Findbarem (Eigennamen, historische und mythologische Bezüge, Begriffe aus Fachsprachen) durfte verzichtet werden. Nachgewiesen sind wichtige Selbstzeugnisse, Stoffquellen, Zitate und der publizistische Zusammenhang.
In seinem Marburger Vortrag „Probleme der Lyrik“ erinnerte sich Gottfried Benn 1951, wie er als achtzehnjähriger Philologiestudent eigene Gedichte an die Redaktion einer Berliner Zeitschrift gesandt und dann zitternd einige Wochen auf das Urteil gewartet habe. Ihre Einschätzung durch Otto von Leixner, den Herausgeber der Deutschen Romanzeitung, wurde dort innerhalb der Rubrik „Briefkasten“ am Schluß von Nr. 33 vom 14. Mai 1904 veröffentlicht; sie lautet: „Stud. G.B. in M. Warmes Gefühl, unzureichender Ausdruck. Vermeiden Sie auch die Elisionen: ,woll’n‘, ,soll’n‘, ,spiel’n‘. Das macht die Sprache sehr hart“. Ob diese Gedichte schon wesentlich von jenen Frühen Versen der Jahre 1901/02 verschieden waren, die hier der Vollständigkeit halber aus dem Nachlaß mitgeteilt werden, ist nicht zu entscheiden. Benns erste Veröffentlichung überhaupt, die Gedichte „Rauhreif“ und „Gefilde der Unseligen“, erfolgte erst im Februarheft 1910 der Grenzboten. Daß ein Dreivierteljahr nach dem Skandal der Morgue in einer Sonntagsbeilage der Königsberger Hartungschen Zeitung noch „Herbst“ zutage kam, wird wohl auf Dispositionen des Feuilletonchefs zurückzuführen sein. Das Gedicht gehört vielleicht in den Umkreis jenes „wirren Manuskripts“, das der mit Benn befreundete Adolf Petrenz an Alfred Richard Meyer empfohlen hatte und dessen Lektüre, wie der Verleger in seinen Erinnerungen überliefert,
mich mißmutig machte und schon zu hastigerem Weiterblättern und Zuklappen veranlassen wollte, bis ich dann zu einem angehängten Zyklus, der mit den bisherigen Versen schier unvereinbar schien, gelangte und – aufschrie. Der das geschrieben hatte, kam nicht von der Theorie, sondern aus den Erlebnissen des ärztlichen Berufs. Morgue hieß der Zyklus. Das Flugblatt war in acht Tagen abgesetzt und gedruckt, es trägt das Datum: März 1912.
Von der Druckvorlage blieb nur ein Blatt, „Mann und Frau gehn durch die Krebsbaracke“, in Meyers Nachlaß erhalten. Auch andere Handschriften aus Benns expressionistischem Jahrzehnt – wenn überhaupt, dann Reinschriften und keine Entwurfsblätter – tauchten nur vereinzelt und zufällig auf. Bei Neuausgaben stellte Benn die Satzvorlage aus bisherigen Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zusammen oder legte die Reihenfolge durch Nennung der Überschriften fest. Wie ein Blick in die jeweiligen Lesarten zeigt, wurde der Wortlaut nur selten überarbeitet, eher etwas ausgeschieden, und die Normierung des Lektors von Benn nur sorgfältig kontrolliert (Vgl. den Editorischen Bericht in SW I).
Auch in die digestiven Prozesse, die heuristischen Kongestionen, die transitorisch monistischen Hypertonien des lyrischen Ichs während der zwanziger Jahre sind durch Verlust fast aller Manuskripte keine Einblicke mehr möglich. Eine Datierung der rhythmustrunkenen achtzeiligen Reimstrophen muß sich sogar mit dem terminus ante quem begnügen. Erst um 1930 setzt eine handschriftliche Überlieferung ein. Die in Arbeitsheften flüchtig notierten Selbstentzündungen konnten in vielen Fällen einem später vollendeten Gedicht als Vorstufen zugeordnet werden: Bilder, Motivreihen, Reime mit noch ausgespartem Versinnern, ein Werkstattmaterial gemäß dem Diktum, Gedichte entstünden nur sehr selten, meistens würden sie gemacht. So sichtbar sich der Weg vom abgeschlossenen lyrischen Gebilde rückwärts über Varianten, Vorfassungen, der ersten, noch schwankenden metrischen Sequenz, zum Keimwort oder einer Prosaversion finden läßt, man wird umgekehrt die noch unausgedachte, unausgeführte Endgestalt dieser zerbrochenen Strophen kaum vorausnehmen können. Immerhin hat Gottfried Benn, für den der Begriff des Fragments zunehmend an poetologischer Tragkraft gewann, sorgfältig insgesamt sechsundzwanzig Arbeitshefte aus dem Zeitraum 1930 bis 1956 wie zur Selbstdokumentation seiner Verfahrensweisen aufbewahrt. Der Autorisationsgrad dieser lyrischen Einsprengsel zwischen Lektüreexzerpten, Prosanotizen oder Briefentwürfen ist freilich ein bedingter. Anhaltspunkte für die chronologische Ordnung ergeben sich aus gelegentlichen Datierungen vorausgehender oder nachfolgender Aufzeichnungen, wiewohl nicht ausgeschlossen werden soll, daß Benn (ganz unphilologisch) das Heft in der Eile des Einfalls irgendwo aufschlug, um eine gefundene Sprachfigur rasch festzuhalten und dann nach monatelanger Pause auf demselben Blatt weiterschrieb. Auf den Nachweis der Erstveröffentlichung solcher Fragmente – etwa in der Auswahl „Primäre Tage“ – wurde mit Rücksicht auf ihre editorische Qualität verzichtet. Die einzelnen Aufzeichnungen sind durch drei Leerzeilen voneinander getrennt. Im vierten Band der Sämtlichen Werke soll diese Abteilung mit „Prosaischen Fragmenten“ ihre Entsprechung finden.
„Lieber Herr Oelze,“ teilt Benn dem Freund am 15. Oktober 1936 mit, „um ein grosser Schriftsteller zu werden, muss man vor Allem seine eigene Handschrift lesen können. Daran hat es bei mir von je gemangelt. Alle Notizen, Zettel, Diarien nützen zu nichts, wenn man nach 2 Tagen schon garnicht mehr weiss, was sie bedeuten sollen.“ Bei seiner Schrift sei alles möglich, hat Benn gern und mit jener irreführenden Koketterie behauptet, die die höchste Sorgfalt dem vollendeten Produkt und nicht schon seinen gleitenden Zwischenstufen vorbehält. Daß die in Notizen hingeworfene Materie in die Textgenese dieser Ausgabe einbezogen werden konnte, dankt der Herausgeber drei Begleitumständen seiner Arbeit: dem Asyl, das das Deutsche Literaturarchiv und seine Direktoren Bernhard Zeller und Ulrich Ott der Stuttgarter Ausgabe gewährten und erhalten; bereitwilliger Unterstützung durch Marguerite Schlüter, deren jahrzehntelange Erfahrung als Kustodin des Bennschen Gesamtwerks nun auch der abschließenden Edition gutgebracht werden konnte; vor allem der kundigen Teilnahme von Hubert Arbogast, der die wissenschaftliche Notwendigkeit dieser Neuausgabe verfocht und ihre editorische Anlage mitberiet.
Gerhard Schuster, Nachwort, November 1985
enthält die zu Lebzeiten Benns zwar veröffentlichten, aber von der Sammlung letzter Hand 1956 ausgeschlossenen Texte; er bietet die Poetischen Fragmente und aus dem Nachlass eine Anzahl bisher noch unbekannter Gedichte.
Der Apparat weist alle erhaltenen Vorstufen und Varianten der gedruckten und ungedruckten Überlieferung nach, und ein Kommentar erläutert wichtige Selbstzeugnisse zur Entstehung.
Klett-Cotta, Ankündigung
Bernhard J. Dotzler: Nihilistischer positiv sein
Merkur, Heft 518, Mai 1992
Heinrich Detering: „Es kann nicht kalt genug sein“
Merkur, Heft 663, Juli 2004
Dieser Stunde von vornherein den Charakter der kulturellen Veranstaltung zu nehmen, das heißt ihr die Arbeitsnüchternheit zu sichern, die ihrem Gegenstand angemessen ist, möchte ich an den Anfang drei der Sätze Benns stellen, die er selber, sei es durch Sperrdruck oder nachträglichen Kommentar, als für ihn axiomatisch hervorgehoben hat; der erste dieser Sätze heißt:
Gott ist ein schlechtes Stilprinzip.
Der zweite:
Das Leben währet vierundzwanzig Stunden, und wenn es hochkommt, war es eine Kongestion.
Der dritte:
Weltbild! Es sind doch alles nur Märchen. Augenblick an Augenblick – das ist die Welt. Hier ein Schluck Kaffee und dort eine rote Weste…
Die Liste ist damit nicht erschöpft, aber für unsere Zwecke genügt’s. Samt und sonders Sätze, für den Wandkalender so ungeeignet wie nur möglich. Von „Sich regen bringt Segen“ oder „Morgenstunde hat Gold im Munde“ jedenfalls ebensoweit entfernt wie von „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.“ Deklarierte Maximen des Vergnügens, zu mißfallen: zur Hälfte Abwehr und zur Hälfte Provokation. Übrigens sehe ich in diesem Zug, der für Benn von der ersten bis zur letzten Zeile bestimmend ist, so etwas wie einen sicheren Schutz.
Er wird ihn davor bewahren, allzu bald deutscher Klassiker in grünem oder braunem Leinen und auf Dünndruckpapier zu werden. Er wird ihn ebenfalls davor bewahren, allzu bald einer Unter- oder Oberprima das Aufsatzthema zu liefern. Er wird sich überhaupt als selektives Prinzip auswirken, das die Zahl seiner Leser begrenzt; der Leser zum Beispiel, der Kunst als Bildung oder gar Erbauung zu konsumieren gewohnt ist, wird sich von ihm abgestoßen fühlen, und das ist gut.
Nebenbei, ein konstituierender Zug der Moderne: Während der Schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts noch regelrecht flirtete mit seinem Publikum – denken Sie nur an den „geneigten Leser“ −, tut er seit Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé so ziemlich alles, den Leser vor den Kopf zu stoßen, zumindest aber zu entmutigen. Nicht so sehr der Leser prüft den Text, als der Text seinerseits den Leser. Wer diese Prüfung nicht besteht, das heißt sich bluffen läßt und etwa bei Baudelaires Gedicht „La Charogne“ „Widerlich!“ murmelt, scheidet als Leser aus; womit zusammenhängt, daß der Ruhm sowohl Baudelaires wie Rimbauds wie Mallarmés auch heute noch in erster Linie Atelierruhm ist.
Dasselbe trifft für Gottfried Benn zu – mit dem möglichen Zweifel nur, ob der Begriff des Atelierruhms nicht etwas durchaus Disparates zusammenfasse. Denn es ist doch so: Ruhm im gewöhnlichen Sinn ist nichts als die bequeme Methode, mit dem fertig zu werden, womit man nicht fertig wird. Der Ruhm, mit dem die Öffentlichkeit auf etwas reagiert, ist allemal das sichere Indiz dafür, daß hier etwas Unverdauliches vorliegt: Was man versteht, bewundert man nicht (et vi ce versa): Bewunderung ist ein Modus der Verwunderung.
Man bewundert, was einem fremd ist. So gesehen, stellt sich Ruhm geradezu als die Maske des äußersten Mißerfolgs dar. Was Erfolg hat, das heißt von der Gesellschaft resorbiert wird, geht eben damit in die Blutbahn über und unter. Kennen Sie den Verfasser von „Sich regen bringt Segen“? Tatsächlich also ein Begriff, der durchaus Disparates vereinigt! Während Ruhm im gewöhnlichen Verstand desto größer zu sein pflegt, je weniger sich über seine Titel Rechenschaft geben läßt – das Vage gehört zum Ruhm! −, beruht Atelierruhm genau umgekehrt auf präzisem Über-einander-Bescheid-Wissen.
Nichts jedenfalls von Distanz und Kotau, vielmehr jene Camaraderie über Schulen und Zeiten hinweg, die in gewissem Sinn die Geschichte der Kunst selbst ist. Man befindet sich unter Pairs, und ein Graf redet einen Grafen nicht mit Graf an. Das heißt, man geht so miteinander um, wie erst vor kurzem noch Picasso mit Lukas Cranach umgegangen ist: man verhält sich produktiv – und das meint: abwehrend – gegen den andern; man fängt etwas mit ihm an; im schlimmsten Fall plündert man ihn aus: nebenbei, die höchste Form der Aktualität, die einem Künstler erreichbar ist.
Natürlich Überlegungen, durchaus geeignet, das eine oder andere in die Luft gehen zu lassen. Der Begriff des Publikums zum Beispiel – mutet er danach nicht fast schon wie eine Contradictio in adiecto an? Nicht, als ob ich für Kunst den Charakter eines esoterischen Klüngels in Anspruch nehmen wollte: im Gegenteil sogar! jeder kann ran; ob es allerdings so etwas wie ein arbeitsloses, vom bloßen Geschmack bestrittenes, sich in passivem Konsum erschöpfendes Herankommen gibt, möchte ich bezweifeln. Überdies: Hatten die Pyramiden Publikum? Die Ausflüge, die das Büro der Brüder Cook veranstaltet, gibt es doch erst seit einem halben Jahrhundert! – Nahezu im selben Augenblick, in dem Kunst gegenüber ein Publikum möglich wird, wird es auch schon wieder unmöglich. Die Literatur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts hatte Briefcharakter; die Literatur des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts ist – wo sie Rang hat zumindest – reiner Monolog. Jeder kann ran, aber sie wendet sich an niemand; ihr Ort ist nicht mehr der Salon, sondern das Labor.
Was im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert den Zugang erleichterte – die klassische Bildung nämlich −, pflegt ihn deshalb heute eher zu versperren. An Benn zu exemplifizieren: Wie verhält sich der Gebildete ihm gegenüber? Aus den rund 300 Gedichten, die es von Benn gibt, hat er sich das halbe Dutzend herausgesucht, das sich am bequemsten noch als „schönes Gedicht“ verschleißen läßt. Was die übrigen angeht, scheint er sich nach wie vor zu sagen:
Mal abwarten! Wer weiß? Vielleicht, daß sich die Sache eines Tages doch noch als Schwindel herausstellt! Vielleicht, daß ich doch recht hatte, in Benns Gedichten nur so wenig Gedichtähnliches zu entdecken.
Ich räume ein, daß Benn seinem Leser bis zuletzt einiges zumutet in dieser Hinsicht. Ich rede dabei gar nicht erst von den Schwierigkeiten philologischer Art, die gewisse seiner Texte bieten. Dafür gibt es Lexika. Übrigens präsentiert sich das moderne Gedicht durchweg in einer alexandrinisch mit allem möglichen und unmöglichen Bildungsgut befrachteten Form. Den fünfzehn spatiös gedruckten Seiten von T.S. Eliots Waste Land korrespondieren sieben enggedruckte mit Erläuterungen und Quellenangaben; in den Gedichten Ezra Pounds begegnen Sie nicht nur griechischen, lateinischen, provenzalischen, italienischen, sondern sogar chinesischen Zitaten. Ich beschränke mich auf die Schwierigkeit, das Gedicht rein als solches zu erkennen; nehmen Sie zum Beispiel das folgende Stück aus Gottfried Benns „Fragmente“:
Wenn alles abgeblättert daliegt
Gedanken, Stimmungen, Duette
abgeschilfert – hautlos daliegt,
kein Stanniol – und das Abgehäutete
− alle Felle fortgeschwonmmen −
blutiger Bindehaut ins Stumme äugt −:
was ist das?
Die Frage der Fragen! Aber kein Besinnlicher
fragt sie mehr −
Renaissancereminiszenzen,
Barocküberladungen,
Schloßmuseen −
Nur keine weiteren Bohrungen,
doch kein Grundwasser,
die Brunnen dunkel,
die Stile erschöpft −
Die Zeit hat etwas Stilles bekommen,
die Stunde atmet
über einem Krug,
es ist spät, die Schläge verteilt,
noch ein wenig Clinch und Halten
Gong – ich verschenke die Welt
wem sie genügt, soll sich erfreun:
Der Spieler soll nicht ernst werden
der Trinker nicht in die Gobi gehn,
auch eine Dame mit Augenglas
erhebt Anspruch auf ihr Glück:
Sie soll es haben −
Still ruht der See,
vergißmeinnichtumsäumt,
und die Ottern lachen.
Ein Stück, das sich auf den ersten Blick verzweifelt wie Prosa ausnimmt; dazu ein Stück, das sich nicht nur lässig, sondern geradezu clownesk gibt. Lyrik gewissermaßen mit den Händen in den Taschen; eine Art Secco-Rezitativ: die einzelnen Zeilen nicht quantitativ – nach Silben −, sondern qualitativ – nach Sprechbögen – gegliedert. Hauptmittel: die Persiflage. Kunststück also, wenn der erwähnte Gebildete fragt, ob denn das überhaupt noch ein Gedicht sei; nur, daß seine Frage naiv ist, nämlich voraussetzt, daß Gedichte wie Gedichte aussehen, und genau das tun sie, wenn es nicht Gedichte von Epigonen sind, im allgemeinen immer erst nach dreißig bis fünfzig Jahren.
Vorher wirken sie eher wie ein Körper, den man geschunden hat: also abstoßend; damit aus der Haut, die einer zu Markt getragen, der duftende Pelzmantel wird, braucht es eben Zeit. Eine Verwandlung im übrigen, die nur wenig Beneidenswertes hat! Denken Sie einen Augenblick an die van Goghs in den Auslagen der Möbelhändler: der im Irrsinn endende Versuch, Wirklichkeit noch einmal panisch zu erleben – Ich-Sonnenblume, Ich-Getreidefeld, Ich-Zypresse −, als geschmackvoll arrangierte Dekoration. Demnach verständlich, wenn einer, diese Entwicklung nach Möglichkeit zu verzögern – ganz aufhalten läßt sie sich wohl nie −, Glasscherben und Handgranaten, ja selbst Stinktöpfe in sein Werk einbaut; nehmen Sie zum Beispiel folgende Verse:
Prometheus, los, den Wudki an die Schnauze,
für diese Blase Leber und Ragout?
Syndetikon! Und schmier’s dir auf die Plauze
und dann im Cutaway zum Rendez-vous –
Die Zeuse Kitsch, wo du die Fackeln klautest,
und sonst die Viechheit über Stall und Haus
wird schrein, als ob du auf die Pauke hautest,
Herr Branddirektor, Mensch, so siehst du aus.
Die angeführten Verse bilden die beiden Schlußstrophen des „Prologs 1920“, mit dem Benn seinerzeit die bei Erich Reiß in Berlin erschienenen Gesammelten Schriften einleitete. Mythologie auf keß und Kurfürstendamm stilisiert; ein anthropologisches Krisenmoment als zynisch-flotter Marsch. Das Ganze halb gespielt und halb gelitten; halb tödlicher Ernst und halb sich selbst genießender Bluff. Analog in: der folgenden Strophe, die etwa sechs bis acht Jahre früher anzusetzen ist als der „Prolog“:
O Seele, futsch die Apanage
Baal-Bethlehem, der letzte Ship,
hau ab zur Augiasgarage,
friß Saures, hoch der Drogenflip −
Wiederum ein anthropologisches Krisenmoment, und wiederum das Abstellen der Mittel auf Choc und Provokation. Die Tatsache, daß ein Dichter früherer Zeit auch nicht eine einzige der von Benn gebrauchten Wendungen für gedichtfähig gehalten hätte, als triftiger Grund, sie zu gebrauchen. Wie sonst freilich auch sollte man in der gegebenen Situation verfahren? Wenn einer „Poesie“ hörte, assoziierte er „Album“, und wenn ihm das Wort „Lyrik“ unterkam, „Goldschnitt“. „Man müßte mit Spulwürmern und Koprolalien schreiben“, sagte Benn im Nachwort der Gesammelten Schriften.
Womit ich meine, daß das, was man als Lust am Makabren und Monströsen verdächtigt hat, primär etwas ganz anderes ist: nämlich ein Stilproblem. Hat langer Gebrauch ein Kunstmittel verkrustet, kann der Versuch, es zu regenerieren, nur über das so oder so Rohe gelingen. Die Folge aber wird notwendigerweise etwas sein, das – zunächst wenigstens – makaber und monströs anmutet. Erinnern Sie sich der in Swifts Gulliver vorkommenden Insel Laputa?
Soll einer der Bewohner dieser Insel etwas sehen oder hören, berührt ein eigens dazu bestellter Diener seine Augen beziehungsweise Ohren sanft mit einer luftgefüllten Schweinsblase. Eine analoge Funktion – nämlich: Organe zu schaffen – erfüllen aber auch Gedichte und Bilder. Ob sie sie sanft oder mit Faustschlägen erfüllen, ist eine Frage, deren Entscheidung dem Künstler nicht freigestellt ist, sondern ihm von der jeweiligen historischen Situation vorgeschrieben wird. Die Situation 1912 jedenfalls optierte für Faustschläge. Hatte nicht schon Nietzsche nach den neuen Barbaren gerufen?
Sie kamen – etwas anders wohl, als er es sich vorgestellt hatte – in Gestalt von Kubisten, Expressionisten, Futuristen. Das erste, was sie sich auferlegten, war strikte Askese gegenüber allem, was den Ruhm der Jahrhunderte seit der Renaissance ausgemacht hatte. In deren Sinn schrieben sie geradezu Anti-Poesie, wenn sie schrieben; was der Sache selbst im übrigen nicht schlecht bekommen ist: Madame La Poésie ist robuster, als man gemeinhin annimmt; sie pflegt auch gelegentlich umzuziehen, und falls sie überhaupt je bei Gräsern und Käfern gewohnt hat: heute wohnt sie woanders.
Sie äußert sich zum Beispiel folgendermaßen:
Banane, yes, Banane:
vie méditerranée,
Bartwichse, Lappentrane:
vie Pol, Sargassosee:
Dreck, Hündinnen, Schakale
Geschlechtstrieb im Gesicht
und aasblau das Finale −
der Bagno läßt uns nicht.
Eine Strophe, die das Wort eindeutig als Schleuder, als Trommel, als Fetisch, also primitiv gebraucht; nicht weniger eindeutig freilich Zivilisationsprodukt: siehe die bezeichnende Anspielung auf den letzten Schlager. Die nicht nur für Benn, sondern für alles Moderne charakteristische Doppelgesichtigkeit mithin: sowohl früh wie spät; fünfzig Prozent Sphinx und fünfzig Prozent Snob; mit dem einen Fuß im Ur und mit dem andern in der Bar.
Hören Sie bitte eine weitere Strophe, ebenfalls einem Gedicht aus Benns mittlerer Periode entnommen, also wie das Stück eben zwischen 1922 und 1936 zu datieren; die Überschrift heißt „Betäubung“:
Kosmogonien – Wesen
im Rauch des Hyoscyd,
Zerstäubungen, Synthesen
des Wechsels – Heraklit:
Es sind die selben Flüsse,
doch nicht die Potamoi −
Betäubung, Regengüsse
dem Fluß, dem Ich vorbei.
Annähernd die gleiche Lage wie eben: aus Fremdwörtern Musik. Begriffe sogar der Gelehrsamkeit, aber im rhythmischen Sog zurück geschmolzen in reines Magma. Der Ort des Gedichts: ein modernes Gehirn, in dem sich das Strandgut aller Kulturen sowohl sammelt wie wieder zerstreut. Beinah so etwas wie Shiva, der die Welt zertanzt jedenfalls die Welt als Wirbel oder Sansaras Rad.
Für uns füllen sich Busch und Tal eben nicht mehr still mit Nebelglanz; unsere Natur, wenn es nicht die Kulisse des Fremdenverkehrs ist, sind Bibliotheken, Museen, die Zeitung, der Rundfunk. – Komische Idee, wie die beiden Jüngers nach Sardinien zu fahren, um dort noch Unberührtes zu entdecken: als ob es nicht schon deshalb auf Sardinien nichts Unberührtes mehr gäbe, weil sie hingefahren sind! Benn fuhr nicht hin. Er versuchte auch nicht, darüber hinwegzutäuschen, daß der beschriebenen neuen Lage das absolute psychologische Diskontinuum entspricht – ich meine: das Ich als eine einzige Kette von Sprüngen; das Ich, das sich nicht mehr kausal-syntaktisch −, sondern a-kausal – in Form assoziativer Substantivstöße – ausdrückt, zum Beispiel so: „Frei-Auge. Algier-Auge. Süße Unerinnerlichkeitsbraue —“ oder so wie in dem Gedicht, das die Überschrift „Cap“ (für George Grosz) trägt:
„Ick bekomme eine Brüh’, Herr Ober!“
Saldo-crack mit Mensch ist gut von Frank −
Hoch die Herren Seelenausbaldower
Breakfast-dämon, Tratten-Überschwang.
„Laß dir mal von Hedwig das erzählen“ −
Reise-Hedwig! Aufbau, Sitte, Stand −
Wurm, Gomorrha, cyanüres Schwälen
Über das verfluchte Abendland.
Eine zweiteilige lyrische Suite, aufgehängt jeweils an einem banalen Gesprächsfetzen; Collagentechnik wie in den Merzbildern Kurt Schwitters’: Poesie aus Kinobilletts, Straßenbahnfahrscheinen und Kofferzetteln. Warum ja auch nicht? Die Sprachlage, die erlaubte, die Augen aufzuheben zu den Bergen des Herrn, ist vorbei. Der moderne Psalm sieht so aus wie eben. Im übrigen: Wenn man nur mit bestimmten und nicht mit allen Wortep – schlimmstenfalls sogar Worten wie „mänadisch-analys“ und „Hundekuchen“ – Poesie machen kann, kann man’s überhaupt nicht.
Man kann’s aber, und die Schönheit eines Gedichtes wird nicht zuletzt davon abhängen, mit wie sprödem Material ihm zu arbeiten gelingt. Was sich ihm heute dazu anbietet, umfaßt sowohl den Jargon des Sports wie den der Wissenschaft. Ihn zu verwenden, muß man mit dem von ihm gelieferten Wort freilich so etwas wie eine Kernspaltung vornehmen, aber muß man das nicht mit jedem anderen Wort auch? – „Wenn der Mann danach ist, dann kann der erste Vers aus dem Kursbuch sein und der zweite eine Gesangbuchstrophe und der dritte ein Mikoschwitz und das Ganze ist doch ein Gedicht“, schrieb Benn einmal; der Mann danach aber ist nichts als die spezifische Sensibilität für die Chiffre: das auch noch im Slang enthaltene Wort, das am Anfang war; nicht das Wort, mit dessen Hilfe man Zigaretten kauft und Bier bestellt, sondern das Wort, das regnen ließ und das Felsen aufschloß.
Das Wort als sublimste Form des Faustkeils, auch heute noch näher bei Göttern und Steinen zuhaus als bei uns. Zusammen mit einer Handvoll anderer an der Befreiung dieses Wortes mitgearbeitet zu haben, wäre der Titel des genaueren Ruhms Gottfried Benns. – „Für den Dichter ist das Wort real“, schreibt er an einer Stelle: ein Satz, aus dem noch einmal die für jeden Modernen charakteristische Doppelgesichtigkeit erhellt; denn real sind Worte doch wohl für Primitive, nicht für Zivilisierte: was an Benn als Zerstörung aller Tradition erscheint, nimmt in Wahrheit eine Tradition wieder auf, die weiter zurückreicht als die zerstörte.
− Schön und gut, werden Sie jetzt vielleicht sagen: in artistischer Hinsicht mag das alles ja ganz anregend sein; aber wie steht es mit Anregendem anderer, allgemeinerer Art? – Ich fürchte: schlecht! Benn ist keins der
freundlichen Talente,
die Anna in den Mittelpunkt des Geschehens rücken,
sie läutern und einen Ausweg wissen;
soweit überhaupt aus seinem Werk eine Lehre resultiert, hat sie ausgesprochen dämpfenden Charakter.
Hier ist kein Ausweg:
Da sein – fallen −
apostrophiert er zum Beispiel die Strophe mit den „freundlichen Talenten“. Markante andere Sätze von ihm lauten so: „Schluckt doch endlich euer Inneres und haltet die Schnauze über eure Kaldaunen.“ Oder so: „Wasser werden, den niedrigsten Ort aufsuchen, den alle meiden – – -“ Auch so: „Schweige und gehe dahin.“
Nichts „Positives und Konstruktives“ also, wie es der auf Steuer- und Zeugungsfreudigkeit erpichte Jargon sonntäglicher Ministerreden zu reklamieren pflegt. Die Welt nicht ingenieurhaft-rosig, sondern antik-tragisch: „Die Formel von der olympischen Disharmonie des All“, wie es einmal in den Drei alten Männern heißt. Aber hat Kunst überhaupt je in dem eben bezeichneten Sinn Anregendes geliefert? Zugegeben, daß sie noch nie so ausschließlich sie selber gewesen ist wie in den letzten hundert Jahren. Früher erschien sie durchweg in Verkleidungen, die das Mißverständnis, sie für etwas anderes zu nehmen, eher begünstigten als verhinderten; aber auch da sind immer Effekte statischer, nie dynamischer Natur von ihr ausgegangen.
Sie hat nie zu etwas hingeschickt, sie hat immer nur zu sich versammelt. – A propos, wenn es die Aufgabe der Kunst wäre, dem Leben zu dienen: würde diese Aufgabe nicht vortrefflich von der Pornographie erfüllt? – Benns Abwinken in bezug auf alles Tätige und Tüchtige demnach weniger eine Un- oder Eigenart Benns als eine Un- oder Eigenart der Kunst selbst. Dahinter nämlich steht die von ihr bereits als solcher in ganz bestimmter Weise beantwortete Frage, als was der Mensch wirklich groß sei: als Handelnder à la Cäsar und Alexander, oder als Gedicht, Statue, Säule… Vom Chef einer Chikagoer Gangsterbande ja doch ohnehin höchstens quantitativ verschieden, die genannten Herren!
Das Problem Nummer eins – ich meine die mit dem Auftreten des Menschen der Schöpfung geschlagene Wunde: nämlich die durch ihn in die Welt hineingetragene Antinomik – wird von den Alexanderzügen jedenfalls weder berührt noch gelöst. Es löst sich, wenn überhaupt, in den Gebilden der Kunst. Im Gedicht zum Beispiel schweigt die Spannung zwischen Innen und Außen; das heißt aber: Im Gegensatz zu den Alexanderzügen, die sich mit dem Verrücken der Grenzsteine zufriedengeben, zielt eben die Beschränkung der Anteilnahme an der Welt auf das jeweils zur Bearbeitung anstehende Blatt, auf die Verwandlung ihrer Substanz.
Nicht Benn also, sondern die Kunst, wenn es im Schlußstück der Statischen Gedichte heißt:
Richtungen vertreten,
Handeln,
Zu- und Abreisen
ist das Zeichen einer Welt,
die nicht klar sieht.
Benn sah klar: „Wer den Reigen kennt, geht ins Labor“, heißt es in einem Aphorismus der Ausdruckswelt. Das Pendant dazu bildet die Maxime des Ptolemäers: „Vollende nicht deine Persönlichkeit, sondern die einzelnen deiner Werke“, beziehungsweise „Wabere nicht ins Allgemeine, schreite deinen Kreis ab, suche deine Worte, zeichne deine Morphologie.“
Natürlich Formalismus, wenn man will sogar Nihilismus, aber Formalismus ist nun einmal die Methode der Kunst und Nihilismus deren selbstverständliche Voraussetzung. Entweder nämlich, es gibt schon Inhalte – wozu dann noch der ganze Aufwand? −, oder was man so nennt, wird durch Kunst allererst hervorgebracht und gewonnen. Soll aber das letztere der Fall sein – und nur dann hat Kunst Sinn! −, darf der Künstler außer seinen Materialien notwendigerweise nichts voraussetzen. – Die Kondition des Nullpunkts, die Braque einmal so formuliert hat: „Was man entstehen lassen will, davon darf man nicht ausgehen.“ Auch in einem Aufsatzentwurf Hölderlins kommt sie vor: es sei vorzüglich wichtig, daß der Dichter nichts als gegeben annehme, bevor nicht das Wort dafür da sei, heißt die betreffende Stelle.
Wiederum also nicht Benn, sondern die Kunst, wenn bei ihm von der „einzig rechtmäßigen Wirklichkeit aus Hirnrinde“ die Rede ist oder davon, daß es nur „das Bewußtsein und das Nichts“ gebe. Die Resultate der Kunst mögen harmonisch im Rock and Roll eines universalen Tat twam asi schwingen: ihre Voraussetzung ist deshalb nicht weniger die bis zur Zerreißprobe angespannte Ungleichung. – „Je est un autre“ – „Ich ist ein anderer“, klagte zum Beispiel Rimbaud. Wenn ich schon ich wäre, brauchte es ja auch nichts mehr. Womit zusammenhängt, daß in der Kunst wie in der Mystik die Gewinnung von Wirklichkeit immer nur auf dem Weg der Wirklichkeitsdurchstoßung erfolgt; nehmen Sie zum Beispiel folgenden Satz Mallarmés:
Ich sage: eine Blume! und aus dem Vergessen, in das meine Stimme, bis auf die gewußten Kelche, jede Kontur verbannt, erhebt sich – Musik der reinen Idee – die in allen Sträußen Abwesende.
– Die Position mit Hilfe der Negation: eine Tendenz übrigens, die bereits im Wort als solchem angelegt ist. Im Wort atmet sich die Welt aus; das Wort vernichtet den Gegenstand. Von diesem Wort aber, das die Auslöschung der Dinge betreibt, Anregendes im Sinn von „Wenn ich abends müde nach Hause komme“ verlangen – – –
Keine Schlösser wie bei Rilke; auch nicht die auf Weihe stilisierte Haltung Stefan Georges. Ein Berliner Hinterzimmer, das auf einen schachtartigen Hof hinausgeht; zwar Pathos, aber immer kontrapunktiert durch Understatement. – „Da hat man was geschrieben: Papier mit Schreibmaschine“, heißt es zum Beispiel einmal. Können Sie sich George oder Rilke an der Schreibmaschine vorstellen? Geschweige denn, wie Benn, mit Speculum und Ichthyoltampons hantierend. Auch für das Wort „Hundekuchen“ hätte wohl keiner der beiden eine Verwendung gehabt.
Albrecht Fabri, 1956, aus Albrecht Fabri: Variationen. Essays, Limes Verlag, 1959
− Rundfunkgespräch Hermann Kunisch mit Gottfried Benn am 17.8.1954. −
Hermann Kunisch: Wir sollten uns also unterhalten, Herr Dr. Benn, über die Frage: „Wozu Dichter in dürftiger Zeit?“, das heißt also über ein Zitat, das von Hölderlin stammt aus einem seiner berühmtesten Gedichte. Vielleicht könnten wir aber, da doch dieses Zitat offenbar Schwierigkeiten bietet, die Frage auf etwas anderes zuschneiden, nämlich auf Ihre Frage: „Warum drücken wir eigentlich etwas aus?“ Oder würden Sie meinen, daß das nicht dasselbe sei wie das, was Hölderlin gemeint hat?
Gottfried Benn: Herr Professor, es ist wohl nicht dasselbe. Gegen den Vers von Hölderlin hätte ich einzuwenden, daß er also von seiner Zeit als von einer dürftigen Zeit spricht. Und heute spricht man auch von einer dürftigen Zeit, was die Literatur und die Kunst und die Dichtung angeht. Ich würde sagen dies „dürftige“ würde für heute kaum zutreffen, wo wir jeden Tag in der Zeitung lesen von Kernspaltungen und Raumforschung und künstlichen Satelliten um die Erde. Die Zeit ist ja eigentlich nicht dürftig. Aber da Sie dieses Thema nun heute für unsere Unterhaltung anschlagen, müssen Sie doch diesem Thema und diesem Vers eine aktuelle Verbindlichkeit anerkennen, sonst würde ich nicht verstehen, daß Sie diese Frage aufwerfen.
Kunisch: Wenn wir nicht nur bei Hölderlin stehenbleiben wollen, müssen wir dieses Wort etwas umwandeIn und müssen die Frage dahin ändern, daß wir fragen: „Wozu Dichter überhaupt in der Zeit?“ und nicht „in dürftiger Zeit“.
Benn: Wissen Sie, ich glaube, ein Dichter kümmert sich zunächst doch überhaupt nicht darum, wie die Zeiten sind, ob sie dürftig oder fruchtbar sind. Entweder er muß aus sich heraus, er muß irgend etwas produzieren, oder er muß es nicht. Die Zeit ist ihm doch zunächst wahrscheinlich vollkommen gleichgültig.
Kunisch: Dann müßten wir aber jetzt fragen: Wie kommt es denn dazu? Sie haben eben gesagt, es liegt allein daran, ob der Dichter dichten muß. Was ist denn dieses merkwürdige „muß“, das einen Dichter dazu zwingen kann, irgend etwas zu sagen? Die Zeit ist es also nach Ihrer Meinung nicht.
Benn: Nein. Herr Professor, warum ein Dichter dichten muß, ist natürlich gar nicht zu beantworten. Ich habe in letzter Zeit immer mehr das Institutionelle der Kunst bedacht und in meine Betrachtungen gezogen. Es gibt Journale, es gibt Zeitungen, es gibt Honorare, es gibt Ruhm. Wenn dieses ganze Konventionelle der Kunst nicht da wäre heute, würde zweifellos weniger gedichtet. Aber daß im Grunde etwas in dem Mann sein muß, der nun anfängt zu dichten, ganz unabhängig von dem Konventionellen, das ist doch auch gar kein Zweifel. Was es nun ist, nennen Sie es das Produktive, nennen Sie es das Genie oder nennen Sie es irgend eine Qual, eine innere Qual, die er in sich empfindet und abreagieren muß mit Worten, das ist wohl gar nicht zu erklären.
Kunsch: Also es gibt sozusagen irgendeine Art von Betrieb, die doch daraufhin wirkt, daß gelegentlich jemand sich bewogen fühlt zu schreiben, das können wir auf sich beruhen lassen. Das Wichtige wird sein, daß ein Antrieb da ist, auch wenn wir nicht wissen, woher der Antrieb kommt, der den Dichter veranlaßt, irgend etwas zu sagen. Haben Sie nicht einmal in Ihrem Gedicht vom „Satzbau“ über diese Dinge etwas gesagt? Da haben Sie, wenn ich mich recht erinnere, davon gesprochen, daß wir bestimmte Dinge nun durchgearbeitet haben, die seien für den Kulturkreis besprochen, der Himmel zum Beispiel, die Liebe, das Grab, um das es sich nicht mehr lohne, sich damit zu befassen, daß aber etwas neu ist. Vermutlich wollen Sie doch sagen: immer noch neu ist, nämlich die Frage nach dem Satzbau. Diese Frage haben Sie als die eigentlich dringende hingestellt. Und diese Frage nach dem Satzbau, die heißt anders ausgedrückt, nach Ihrem Gedicht: Warum drücken wir überhaupt etwas aus?
Benn: Gewiß, aber diese Frage nach dem Satzbau ist eine Spezialfrage meiner Generation. Uns ist eben die Frage des formalen Aufbaus, zum Beispiel eines Gedichts, besonders ins Bewußtsein getreten. In früheren Epochen war das anders. Es würde Mörike oder es würde auch der von uns beide so sehr verehrte Platen wahrscheinlich niemals über Theorien des Gedichts nachgedacht haben. Aber uns heute hat die Frage des formalen Aufbaus eines Gedichts, des Satzbaus sehr stark beschäftigt. Natürlich ist das eine Sache der Zeit, und es werden Generationen kommen, denen das gleichgültig ist, diese Frage, aber wir haben einen ganz ausgesprochenen Drang, etwas zu formulieren, mitbekommen, anders zu formulieren als die Generationen vor uns. Das meine ich mit der Sache mit dem Satzbau.
Kunisch: Ich würde Ihnen zugeben, daß Mörike freilich kaum den Anlaß gespürt hat, über die Art, wie er sich ausdrückte oder was er ausdrückte, darüber nachzudenken und sich theoretisch darüber zu äußern. Daß es für ihn aber die Frage, diese gleiche Frage, die auch Sie bewegt, nicht gegeben habe, das würde ich allerdings verneinen, denn gerade seine letzten Gedichte, die aus dem Satzbau, aus der Frage der Form heraus, leben, zeigen das. Aber das sind Dinge, die hier vielleicht zu weit abführen. Wenn ich Sie recht verstanden habe, würde das dann Ihre Grundhaltung sein, und die scheint mir eine zu sein, mit der wir weit übereinkommen miteinander, daß also zunächst bei der Frage der Dichtung nur die Tatsache wichtig ist, daß etwas ausgedrückt werde; nicht die Frage so sehr, was ausgedrückt wird, sondern überhaupt, daß etwas gesagt wird, und zwar in einer bestimmten Weise, und daß diese bestimmte Weise, da gebe ich Ihnen auch wieder recht, Ihrer Generation der Dichter ein besonderes inneres Anliegen ist, nämlich die Sache anders zu sagen, als sie bisher gesagt ist. Damit wären wir nun auf die Frage des Ausdrucks gekommen – warum drücken wir etwas aus? – wie Sie es einmal gesagt haben.
Benn: Ja, wissen Sie, wenn Sie sagen, der Dichter will etwas anders ausdrücken heute, so könnte man auch sagen oder es auslegen. Sie halten das für eine Marotte. Das ist es bestimmt nicht. Ich habe schon so oft geschildert, daß jede Generation eben ihre eigene neue Realität und ihre eigenen neuen Neurosen mitbekommt und ihren eigenen neuen Zwang, diese zur Sprache zu bringen. Und bei unserer Generation war es eben, daß ungeheuer viele Dinge, die früher lyrisch, metaphysisch, romantisch in uns lagen, ins Bewußtsein gehoben wurden und ins Intellektuelle sich übertrugen. Der Ausgangspunkt ist ja sehr bekannt: Nietzsche, darüber brauchen wir gar nicht zu sprechen. Die Welt nach Nietzsche sieht anders aus wie die Welt Mörikes und wie die Welt Platens. Ich möchte mal sagen, bis zu Stefan George und Hofmannsthal von Goethe an war die Sprache eine einheitliche, eine einheitliche Stimmung, eine einheitliche Färbung, ein einheitlicher Stil. Und dann plötzlich kam der Aufstand, der so in meiner Generation begann. Wie Sie ihn nennen ist gleich: Surrealismus oder Futurismus oder Expressionismus. Es war ein Aufstand gegen die Sprache, aber damit gegen das Leben. Es war die Zerstörung des alten Sprachstils und damit die Zerstörung des alten inneren Menschen. Daraus ergab sich dann alles, was man Ausdruck und Form nennen kann. Wenn Sie nun also fragen, wozu ist ein Werk da, ist es geschichtlich oder ist es ungeschichtlich, kann man doch nur darauf antworten vom Standpunkt des Dichters aus: Es ist völlig ungeschichtlich. Natürlich hat er in seinem Innern die Ergebnisse der vorangegangenen Jahrhunderte seiner Nation, anderer Nationen, die Traditionen seit der Antike, aber er geht natürlich doch nur von seinen eigenen, ihm mitgegebenen neuen Strömungen, Störungen und Mitteln aus. Historisch wird doch oder geschichtlich wird doch eine Angelegenheit erst, wenn er tot ist oder wenn seine Generation tot ist, und die Literaturgeschichte und die Soziologie befaßt sich mit ihm. Dann ist es natürlich anders, wenn der Vogel der Minerva seinen Flug beginnt. Dann wird der Dichter historisch, aber er, seinem Wesen und seinem Ziel nach, ist gänzlich unhistorisch und ungeschichtlich.
Kunisch: In der Form, wie Sie es jetzt ausdrücken, würde ich Ihnen ohne Zweifel zustimmen. Aber wir sind ja immer wieder in diesem Zusammenhang, daß Sie sagen, die Tatsache, daß ausgedrückt wird, ist das Wichtige. Und dabei ist ganz gleichgültig, was ausgedrückt wird an inneren Zuständen. Vielleicht darf ich darauf hinweisen, was mir zufällig im Gedächtnis ist, daß Stifter einmal, als man ihm vorwarf, sein „Nachsommer“ habe sich völlig von der Zeit gelöst, gesagt hat, das sei ihm gar nicht neu, daß er sich von der Zeit löse, er habe auch gar nicht vorgehabt, von der Zeit zu sprechen, er habe nicht etwa gedacht, daß er vom Zollverein sprechen sollte, wie das einige Dichter oder angebliche Dichter seiner Zeit meinten. Und im Grunde hat er ja recht gehabt. Der Dichter, Bauernfeld etwa, der damals von dem österreichischen Hofe den Adelstitel bekam, während Stifter selbst nur Hofrat wurde, der in seinen Komödien angeblich die Wiener Gesellschaft darstellt, sagt heute über die Wiener Gesellschaft im Grunde gar nichts mehr aus. Wenn wir darüber etwas wissen, müssen wir zu dem Dichter gehen, der angeblich gar nicht von der Wiener Gesellschaft gesprochen hat, aber dennoch jene Zeit besser getroffen hat. Also das würde ja doch übereinkommen mit Dingen, die wir ohne weiteres anerkennen können, daß es also nicht möglich ist, den Dichter in Anspruch zu nehmen für irgendwelche Dinge, die im Augenblick von ihm vielleicht besser oder wirksamer oder sonstwie gesagt werden könnten, die aber ihren eigentlichen Platz an ganz anderen Stellen haben, nur nicht in der Dichtung, vor allem – darüber sind wir uns völlig einig −, wenn wir Dichtung als Kunst begreifen.
Benn: Aber, Herr Professor, Sie wissen ja, daß Goethe von seinen Gegnern das Zeitablehnungsgenie genannt wurde. Ein bitterer Vorwurf, ich glaube von Börne oder von Heine.
Kunisch: Das würde genau in die gleiche Richtung zielen.
Benn: Das geht in die gleiche Richtung. Und nun muß ich etwas sagen, was Sie vielleicht nicht ganz anerkennen können. Sie müssen nach meiner Meinung überhaupt sich sagen, daß, wer sich mit Dichtung beschäftigt, in eine Welt tritt, in der alles Historische, Wissenschaftliche, Literarhistorische völlig abwegig ist. Alle Dinge, alle Begriffe und Kategorien verändern ihren Charakter in dem Augenblick, wo sie unter Dichtung betrachtet werden, wo sie sie stellt, wo sie sich ihr stellen. Dichtung ist eine neue Haltung, eine neue Affektation, es ist eine Welt, die sie nicht in Beziehung bringen können zu den wissenschaftlichen und soziologischen Welten. Dies mit aller Entschiedenheit muß immer wieder gesagt werden. Es ist in Deutschland nicht gern gehört. In Frankreich weiß man es vielleicht ein bißchen mehr. Aber die Kunst ist eine Sache, in der man sich eigentlich nur nähern kann, wenn man eben, ich möchte sagen, berufen ist. Das ist kein Hochmut. Denn die Kunst selber beansprucht ja gar nicht, daß sie irgendeine Bedeutung besitzt außer für die wenigen, die sich ihr näher können. Nicht im geringsten sind die Prinzipien, die ich immer entwickelt habe, über die Kunst, über die Ästhetik und über die Dichtung übertragbar auf Geschichte, auf Politik, auf Soziologie, auf Wissenschaft: niemals; die Kunst ist in sich, das ist ihr Fluch und das ist natürlich auch ihr ganz großes Prä für die Öffentlichkeit, daß sie eine Welt zeigt, die außerhalb der geschichtlichen steht.
Kunisch: Ja, wenn Sie damit meinen, daß Kunst unübersetzbar ist, dann stimme ich Ihnen völlig zu. Also unübersetzbar nicht nur in dem Sinne, daß man zum Beispiel Lyrik schwer von einer Sprache in eine andere übersetzen kann, wenn nicht das Wesentliche verloren gehen soll, oder ein Dichter ist tatsächlich als Übersetzer am Werk und macht nun ein völlig neues Werk daraus, sondern unübersetzbar auch in dieser Hinsicht, daß man das, was in der Dichtung gesagt ist, nicht übersetzen kann, nicht übertragen kann in irgendwelche anderen Zusammenhänge, auch in wissenschaftliche Zusammenhänge. Was mich aber jetzt an Ihrer Position interessiert, ist die Frage, ob das, was wir jetzt so ausgedrückt haben, daß also Dichtung – sagen wir es mit Ihren Worten – zunächst ungeschichtlich ist. Ist das gleichbedeutend mit dem, was Sie gelegentlich als monologische Art der Kunst bezeichnet haben?
Benn: Ganz zweifellos. Es gibt überhaupt nur eine – was die Dichtung angeht – monologische Kunst. Eine dialogische Kunst gibt es für das Gedicht überhaupt nicht.
Kunisch: Nun, was verstehen Sie darunter monologische Kunst? Es läßt sich ja nicht leugnen, daß Sie mit Worten sprechen, daß Sie Worte gebrauchen, die wir auch gebrauchen, so daß also doch irgend etwas ausgesagt ist. Selbst wenn ich Ihnen zugebe, daß es Ihre Wahrheit das heißt die Wahrheit des Dichters – nur innerhalb der Bezirke der Kunst gibt, also anders ausgedrückt: als Ausdruck gibt, so ist doch dieser Ausdruck oder die Form Ihre Wahrheit, die vernommen werden will. Was würden Sie denn dazu sagen, daß immer wieder Dichter, und zwar wirkliche Dichter, geglaubt haben, daß irgend etwas von ihnen zu irgend jemandem herübergeht, daß also zum Beispiel Goethe oder Gotthelf, daß Rilke in unserer Zeit oder Hofmannsthal immerhin doch geglaubt haben, daß es Möglichkeiten geben müsse, zu einem anderen herüberzusprechen. Sollte das nur Täuschung gewesen sein, oder wie würden Sie das erklären?
Benn: Ich würde zunächst sagen, daß Hofmannsthal auch ganz gegenteilige Äußerungen getan hat, daß er zum Beispiel vom Gedicht gesagt hat, daß es überhaupt keinen Übergang vom Gedicht in das Leben gibt. Aber das werden Sie besser wissen wie ich.
Kunisch: Ich könnte Ihnen auch aus Goethe gegenteilige Äußerungen sagen, und vor allem – das werden Sie genauso gut wissen wie ich – könnte ich aus Rilke gegenteilige Nachrichten Ihnen geben. Ich frage mich nur immer gerade in solchen Fällen: Ist das nicht die mir sehr verständliche Abwehr eines Dichters, auch an den Stellen in Anspruch genommen zu werden, wo man schlechterdings einen Dichter oder einen Künstler überhaupt nicht in Anspruch nehmen darf, so daß sie dann auch jede Verbindung mit irgend einem Aufnehmenden geleugnet haben, obschon sie an anderen Stellen ebenso deutlich wieder gesagt haben, daß sie doch darauf gewartet haben, daß sie in irgendeiner Form vernommen werden. Rilke hat ja geradezu geglaubt, daß, wenn es ihm 1914 in den ersten Aufbruchstagen des Krieges gelungen sei, die „Elegien“ zu vollenden, daß das wirken würde wie „das Aufheben einer Monstranz über einer Menge, die ins Knie bricht“. Das widerspricht solchen Äußerungen, die sicherlich auch bei ihm vorhanden sind. Aber hat Goethe, oder Gotthelf vielleicht am deutlichsten, Stifter könnte ich übrigens hier auch wieder nennen, die haben doch recht deutlich gesagt, daß das, was sie durchgemacht haben, nicht umsonst gewesen sei. „Wozu sucht ich den Weg so sehnsuchtsvoll, wenn ich ihn nicht den Brüdern zeigen soll?“ Wie soll man einen solchen Vers eigentlich verstehen bei Goethe?
Benn: Herr Professor, wir wollen mal Goethe weglassen. Da ist er zu umfangreich und zu gigantisch. Aber sonst erzählen Sie von lauter idealistischen Dichtern aus einer Zeit, die mit unserer gar nicht verglichen werden kann. Das Wort, daß die Kunst trösten soll – man hört es ja heute auch aus gewissen Kreisen −, da ist es doch eine ganz überholte, abwegige, ganz unmögliche Angelegenheit. Der Künstler kann sich doch nicht mit den andern Leuten beschäftigen. Dann würde er nicht dichten. Dann würde er was anderes treiben, Sozialfürsorge betreiben oder sonst was werden. Aber wenn einer dichtet, ist er ein Monologist. Und es interessiert Sie vielleicht, wenn ich Ihnen erzähle: In Amerika geht man ja der Lyrik auch mit Fragebogen näher. Und eine ihrer Fragen heißt: An wen ist ein Gedicht gerichtet? Und da antwortet ein Amerikaner, der Wilbur heißt: Ein Gedicht ist an die Muse gerichtet, und diese ist unter anderem dazu da, die Tatsache zu verschleiern, daß Gedichte an niemanden gerichtet sind. Das ist USA. Sie haben also dieselben Probleme wie wir. Es ist kein Zweifel, daß die Dichtung heute monologischen Charakter hat. Wen soll sie denn eigentlich andichten? Oder an wen soll sie sich denn wenden? Die Lyrik ist so kompliziert heute, daß sie ja kaum jemand verstehen kann. Man rechnet ja auch gar nicht damit, daß es jemand versteht. Mallarmé wurde nie verstanden, übrigens Hölderlin ja auch nicht, nicht wahr.
Kunisch: Gewiß, es ist aber doch etwas anderes, ob im Augenblick des Dichtens jemand daran gedacht hat, daß er für jemanden irgend etwas sagen will, damit jemandem geholfen werde. So hatte ich das mit dem Trost selbstverständlich nicht gemeint. Es fragt sich, ob Dichtung von Wesen nicht dennoch – wenn sie da ist – die Möglichkeit hat, jemanden anzurühren. Selbst, würde ich sagen, wenn sie nicht vernommen wird, die Temperatur eines Zeitalters um ein Weniges zu erhöhen, so wie Carossa das einmal gesagt hat, als er über die „Wirkungen Goethes in der Gegenwart“ 1932 gesprochen hat. Ich glaube, so ähnlich hieß damals der Satz, den er sprach, daß durch die Tatsache, daß die Wandeljahre da sind, oder die Wahlverwandtschaften da sind, das Klima Europas sich um ein wenig erhöht habe. Ganz unabhängig davon, ob jemand da ist, der im Augenblick im Stande ist, das zu fühlen oder nicht zu fühlen. Auf diese Tatsache kommt es mir an.
Benn: Da bin ich ganz Ihrer Meinung allerdings. Aber – auf einem großen Umweg. Der Weg ist nicht so primitiv. Die Kunst reicht in Schichten, in die eigentlichen Schichten, die den Menschen umbauen, aber nicht in die Bildungsschicht und nicht in die soziologische Schicht. Sie wird immer nur wirklich wirken können auf Menschen, in denen selber irgend etwas Tragisches oder etwas Produktives ist, und insofern ist sie natürlich soziologisch enorm wichtig und auch enorm bedeutungsvoll. Sie verändert ja eigentlich den Menschen, sie ganz allein, aber nicht auf dem Wege, daß alle Welt das aufnimmt und schön findet und sich getröstet findet und sonstwas, sondern im Gegenteil dadurch, daß sie sagt: Hier ist eine Welt außerhalb der soziologischen, eine abgründige, tiefe Welt, zu der du in irgendeiner Form auch gehörst. Also: sei ruhig, sei getröstet, aber nicht durch den Inhalt einer tröstlichen Zusprache im Kirchengedicht oder sonstwas.
Kunisch: Nein, das glaube ich Ihnen auch. Aber vielleicht müssen wir doch von dem Ausdruck „Trost“ wegkommen. Der hat uns ein klein wenig auf ein Gebiet gebracht, das ich selbstverständlich so auch nicht gemeint habe. Daß es um diese Dinge nicht gehen kann, also um irgendeine Zweckbestimmung in dieser Art, das ist selbstverständlich, daß das nicht geht. Es fragt sich überhaupt nur, ob die Begegnung mit einem Werk möglich ist, das heißt, ob ein Zusammentreffen in jener Tiefenschicht möglich ist, von der Sie eben gesprochen haben. Und das wäre doch das Entscheidende, was wir zu sagen hätten. Und wenn ich Sie eben recht verstanden haben, haben Sie diese Möglichkeit einer inneren Berührung zugegeben. Und dann kann – ja für ganz wenige Augenblicke – irgendwo jenes große – nun erlauben Sie mir doch einmal das Wort Wunder sich dort begeben, daß in einem dichterischen Wort einer anderer zu sich kommen kann.
Benn: Bestimmt. Das ist doch überhaupt kein Zweifel. Was gedichtet wird, wenn es Dichtung ist, bezieht sich auf die Menschheit im allgemeinen oder wenigstens auf die menschliche Lage, auf alles, was sie erleiden muß. Aber sie denkt natürlich doch nicht an einen Partner, der es liest. Wissen Sie, was ich vertrete, wird immer Formalismus genannt und Nihilismus und Intellektualismus, aber wer hinter den Begriffen von Faszination und Wort und Form nichts anderes sieht als immer nur wieder Nihilismus und Laszivität, dem ist eben nicht zu helfen. In jeder Form, die fasziniert, liegen genügend Substanzen von Leidenschaft, Natur und tragischer Erfahrung. Es ist kein Intellektualismus, wenn man für die Form eintritt. Aber was das Monologische angeht, so bleibe ich bei meinem Standpunkt: Die Dichtung ist monologisch. Denken Sie doch mal über die Menschheitsgeschichte nach, die ganze Menschheit zehrt doch von einigen Selbstbegegnungen, aber wer begegnet sich selbst? Nur wenige und diese dann allein.
Kunisch: Gewiß. Das alles gebe ich Ihnen zu. Ich hätte hier jetzt nur noch eine Frage zu stellen: Wir sind uns einig darüber, daß es den Ausdruck gibt als ein Eigengesetzliches, das, sagen wir zunächst mit Ihren Worten wieder, monologisch ist. Nun läßt sich aber andererseits nicht leugnen, daß das Material Ihrer Kunst im Gegensatz etwa zu den bildenden Künsten oder zur Musik das Wort ist, das heißt ein Irgend-Etwas, das auch sonst gebraucht wird. Wir sprachen vorhin schon einmal davon. Wie ist es denn nun: Können Sie als Dichter, wenn Sie sprechen, davon absehen, daß das Wort, das Sie benutzen – auch wenn es jetzt bei Ihnen in einen anderen Zusammenhang gerückt wird – doch etwas mitbringt; sind Sie nicht doch gezwungen, diesen vordichterischen Inhalt irgendwo wieder mit aufzunehmen?
Benn: Aber natürlich. Aber sehen Sie mal, der Dichter braucht ja auch nicht alle Worte. Er braucht meistens ja nicht die Worte, mit denen Sie Bier bestellen oder mit denen Sie Radi kaufen. Es gibt ja eine bestimmte Selektion der Worte, die in der Lyrik eine Rolle spielen. Und natürlich haben die, und sollen sie haben, einen Anklang an den Gebrauchscharakter, den sie sonst haben, aber der Dichter nimmt diesen Gebrauchscharakter sofort heraus und führt dieses Wort in eine ganz andere Welt. In dem Augenblick, wo das Wort in ein Gedicht tritt, hat es eine andere Atmosphäre. Wir kommen nicht darum herum zuzugeben, daß Worte eine latente Existenz besitzen, die auf entsprechend Eingestellte als Zauber wirkt und sie befähigt, diesen Zauber weiterzugeben. Dies scheint mir das letzte Mysterium zu sein, vor dem unser immer waches, durchanalysiertes, nur von gelegentlichen Trancen durchbrochenes Bewußtsein seine Grenze fühlt. Das Wort ist nicht zu erklären, das Wort ist mystisch, und im Anfang war das Wort, und es war in der Mitte, und es wird am Ende sein. Aber nicht im soziologischen Sinne, sondern, Sie mögen sagen, im religiösen oder im metaphysischen oder im dichterischen Sinne.
Kunisch: Da würde ich auch wieder fragen: Ist das nicht sehr von unserer heutigen Situation aus gesehen, wenn Sie sagen, daß der Dichter nur bestimmte Wörter auswählt? Mir fällt eben gerade beim Sprechen der Vers aus dem Faust ein, aus dem „Gretchenlied“: „Nach ihm nur seh ich zum Fenster hinaus“, wo die Gebärde der Wartenden einfach anwesend geworden ist, aber doch nun in Wörtern, die jeder andere genauso gebrauchen kann, wo eigentlich keine dichterische Auswahl stattgefunden hat, sondern ein – entschuldigen Sie den Ausdruck – Wortmaterial verwandt wird, das jedem anderen in einer verwandten Situation zur Verfügung stände. Und dennoch ist hier etwas so Unsägliches geschehen, daß dieser an sich banale Vorgang, der sich täglich zu Tausenden wiederholt und immer wiederholen wird, herausgenommen ist aus dem Zufall und anders geworden ist. Was ist da geschehen? Das ist doch das, was Sie mit der Form eigentlich meinen.
Benn: Herr Professor, Sie haben vollkommen recht. Aber sehn Sie mal, ein Dichter ist ja nicht ein Pastor oder auch kein Theologe. Er ist ja ein ganz raffinierter Mixer. Es ist ja völlig verkehrt, den Dichter so sentimental und romantisch zu sehn, der so von Gott besessen ist. Er ist ja ein kritischer Geist. Er nimmt natürlich aus jedem Wort die Nuance, die er brauchen kann, die ihn interessiert. Darum sind ja auch in den modernen Gedichten so viel Slang-Ausdrücke, Rotwelsch ist da drin, weil sie ihn in einer ganz bestimmten Richtung, ihn oder den Leser, den Hörer beeinflussen. Er ist ja kein Idealist des Wortes. Natürlich hat jedes Wort einen Sachinhalt. Zum Teil gebraucht er ihn. Es ist ihm angenehm. Aber immer schafft er eine Atmosphäre, in der das Wort auch noch irgendwie anders wirkt, sei es nur durch den Reim oder sonstwie. Er verwendet die Gebrauchssprache, aber doch immer unter dem Gesichtspunkt eines raffinierten Gedichts.
Kunisch: Würden Sie denn das, was ich eben versucht habe zu beschreiben mit jenem Goetheschen Vers, von dem ich sagte –
Benn: Diesen Goetheschen Vers würde ich gar nicht gut finden. Der ist ja eigentlich so eine journalistische Bemerkung. Da finde ich kein Gefühl drin, da finde ich keine Faszination drin, das ist ja eigentlich eine Feststellung.
Kunisch: Ich weiß es nicht. Ich meine, jetzt, wenn ich ihn herausnehme aus dem Ganzen, aber wenn man das Gedicht als Ganzes mithört, dann meine ich, daß doch gerade dieser Vers, so sehr er – darum habe ich ihn angeführt – sich ja gar nicht so sehr unterscheidet von so irgend einer anderen Mitteilung, eine Banalität in einen Augenblick verwandelt, der von nun an gelten kann, weil er stellvertretend für alle möglichen Vorgänge dieser Art stehen kann.
Benn: Also stellvertretend. Aber er braucht ja gar nicht stellvertretend sein, so ein Vers. In diesem Vers gerade finde ich nicht so viel drin. Aber ich will noch mal auf das Wort zu sprechen kommen. Ich glaube, man kann nicht da rum, einfach zu sagen, das Wort ist und bleibt ein Mysterium. Wir kommen an seine letzten Probleme nicht heran. Es ist irgendwie eine Sache im Menschen, die auf Worte reagiert, in bestimmten Menschen, ein Geheimnis, und warum soll man jedes Geheimnis aufklären und lüften. Es ist nicht möglich und es ist auch gar nicht nötig. Das ist die Wissenschaft. Das sind die Geisteswissenschaften, die alle diese Probleme aufgreifen wollen, aber der Dichter selbst ist eigentlich ganz ohne Interesse daran.
Kunisch: Das gebe ich Ihnen zu, daß der Dichter ohne Interesse daran ist. Wie sollte er auch anders sein? Es ist aber immerhin das Merkwürdige doch – dem werden Sie auch nicht ausweichen können −, daß gerade heutige Dichter ein Interesse gehabt haben, diesen Vorgang dennoch außerhalb ihrer Dichtung wieder theoretisch darzustellen. Sie wiesen eben gerade darauf hin, daß es in moderner Dichtung also Slang-Ausdrücke gäbe, vielleicht haben Sie an eigene Dinge gedacht, bei Ihnen könnte man durchaus Beispiele finden. Sie können aber auch bei T.S. Eliot Dinge nehmen, aber gerade Sie und T.S. Eliot sind ja wiederum Dichter, denen immer wieder daran gelegen ist, über diese Fragen dennoch auch nachdenkend sich zu äußern. Das heißt also praktisch, das gleiche zu tun, was wissenschaftliche Forschung tut, die nun freilich das eine nicht für sich in Anspruch nehmen kann, daß sie die dichterische Erfahrung in gleicher Weise besitzt. Sie können, wenn Sie über Verse reden, immerhin sagen: Nun, ich habe immerhin einige Verse gemacht, die vielleicht als Verse gelten können. Das kann ich natürlich nicht, und alle diejenigen −
Benn: Wir wollen nicht übertreiben, Herr Professor, das wollen wir gar nicht behaupten. Aber nun will ich sagen: Wenn ich ein so einflußreicher und mächtiger Ordinarius für Germanistik wäre wie Sie, würde ich wirklich mal einen Doktoranden darüber arbeiten lassen: Wann haben eigentlich die Lyriker angefangen, Theorien zu entwickeln? Es ist höchst interessant, denn es bezeichnet ja den Übergang des Dichterischen und des Dichtens zum Intellektualismus. Man wird auch wahrscheinlich hier darauf kommen, daß Nietzsche wieder ein großer Mittelpunkt dieser ganzen Sache gewesen ist. Erkenntnis als Affekt. Also es würde ja doch darauf hinauslaufen, daß unser Inneres, was man früher geistig nannte, seelisch, innerlich nannte, überhaupt nicht mehr da ist und ersetzt ist durch ein ungemein kritisches Bewußtsein eben vieler Dinge, die man früher als gegeben und innerlich ansah.
Kunisch: Ich nehme diese Anregung selbstverständlich gerne auf, nur müßten wir zunächst einmal fragen – das ist, was mir im Augenblick einfällt −, ob Sie etwa Auseinandersetzungen über die Verfahrensweise zu dichten, wie wir sie ja doch schon seit der Renaissance kennen, seit den Renaissancepoetiken, die ja nun auch wiederum nicht ursprünglich sind, sondern bereits auf spätantike Dinge zurückgehen, ob wir die ausschalten wollen. Alle neueren Versuche haben ja bereits einen Untergrund – denn diese Dichter haben davon gewußt – in den Bemühungen, die vorher ja mehr auf das Handwerkliche beschränkt gewesen sind, wie in Deutschland etwa der alte Opitz oder wie es Gottsched auf noch vielleicht nicht immer richtig beurteilte Weise gemacht hat.
Benn: Ich will ihnen folgendes erzählen: Ein Amerikaner, der jetzt in Deutschland ist und der viel über mich geschrieben hat, hat jetzt einen Rundfunkvortrag angebracht, der lautete bei ihm: „Eliot und Benn“. Eine Gegenüberstellung der Eliotschen Theorien über Lyrik und meiner Theorien: „Probleme der Lyrik“. Ein interessanter Aufsatz, bei dem Eliot nach meiner Ansicht zu kurz kam. Den hat nun der NWDR in Köln umbenannt in: „Lyriker dichten nach Theorien“. Das ist natürlich ganz verkehrt. Das Umgekehrte ist der Fall. Man dichtet, und dann entwickelt man natürlich Theorien, um sich zu begründen und zu entschuldigen und zu sagen: So muß es sein heutzutage, nicht wahr.
Kunisch: Gewiß, das erste ist eben der Fall in der Barock- und in der Renaissancepoetik. Da hatte man Theorien und dichtete nach Theorien, so daß also Opitz und Gottsched, und zum Teil ja sogar noch Lessing, glauben konnten, wenn man bestimmte theoretische Dinge weiß, kann man halbwegs richtig dichten. Ja, aber selbst diese – von Lessing ist das ja gar keine Frage, daß er mehr und tiefer gewußt hat – hatten im Unterbewußtsein ihrer falschen Theorie doch das Gefühl, daß der eigentliche, wirkliche Vorgang der umgekehrte ist, daß wenn man gar keine Verse machen kann, man auch keine Theorien aufstellen kann, nach denen man sich angeblich richtet. Und wenn wir noch einmal auf Eliot zurückkommen: Ich habe gerade neulich in seinem Buch gelesen, das er nach Vorlesungen herausgegeben hat, die er in Amerika gehalten hat, über den Nutzen der Kritik für die Poesie, wo er, wenn ich mich recht erinnere, doch bei dieser Wechselbeziehung zwischen Theorie und Dichtung auch bereits, wenigstens für England, in die Renaissance zurückgegangen ist, jedenfalls also in die Shakespeare-Zeit und gerade dort auch schon solche Dinge nachgewiesen hat, daß man sich nicht etwa Theorien gemacht hat, nach denen man dichtet, sondern daß man sich nach dem Dichten sozusagen Rechenschaft gegeben hat über die Dinge, Rechtfertigungen aufgestellt hat über die Art, warum man überhaupt diese Dinge gemacht hat. Also etwas weiter zurück als heute liegen die Dinge schon, wenn ich Ihnen auch ohne Zweifel zugebe, daß es in dieser Weise, wie es etwa bei Eliot und Ihnen ist, bisher nicht der Fall gewesen ist.
Ja darf ich noch zum Schluß, Herr Dr. Benn, noch eines das liegt mir sehr am Herzen – fragen: Was ist das Eigentliche bei der Dichtung, die Tatsache, daß etwas ausgedrückt wird und wie etwas ausgedrückt wird, oder liegt das Schwergewicht darauf, was gesagt wird, also auf einem Inhalt? Daß es dann sogar möglich sein kann – so möchte ich es einmal ausdrücken −, daß ein Gedicht gegen sich selbst zeugt. Das heißt also, daß ein Gedicht in der Art, wie es auf jemanden wirkt oder wie ihm jemand begegnen kann, wie einer davon – nun werden Sie wahrscheinlich wieder den Ausdruck für zu gefühlvoll halten – getroffen werden kann, genau entgegengesetzt ist dem eigentlichen Inhalt dieses Gedichtes. Ich denke da zum Beispiel an Platens berühmtes „Ghasel“, das ich für eines der vollkommenen Gedichte unserer Zunge halte, von dem Nichts, das der Mensch ist, daß alle seine Leiden und das, was er glaubt, erlebt zu haben, daß das alles nichts ist, daß es auch nicht so sei, daß er von irgendwem oder von irgendwo ernst genommen werde, daß jeder immer meint, er sei etwas, und im Grunde – so endet das Gedicht – ist er im Grunde nichts, und er zürnt sich ins Grab hinein, in dieses Nichts. Dieses Ghasel hat also als Reimwort das Wort „Nichts“. Und wenn man diesem Gedicht einmal ganz unvermutet begegnet, dann kann es einem geschehen, daß das, was man erfährt – wenn Sie diesen Ausdruck einmal gelten lassen −, genau das Gegenteil von dem ist, was das Gedicht eigentlich mit seinen Worten, dem begrifflichen Inhalt seiner Worte, sagt, daß man im Grunde nämlich erfährt: es ist doch etwas. Daß also, wo nein gesagt wird, man erfährt: ja.
Benn: Aber Herr Professor, es kann einer persönlich und körperlich, möchte ich sagen, den tiefsten Pessimismus vertreten, eine Melancholie ohnegleichen – in dem Augenblick, wo er etwas arbeitet, ein Werk, ein Gedicht, ist er es ja nicht. Da tritt er ja einfach als Positiver und Produktiver hervor. Es ist ja ein Irrtum, wenn man den inhaltlichen Nihilismus eines Gedichtes auf den Dichter rückwendet und sagt: Der Mann ist ja ein tragischer Nihilist. – Das mag er privat sein, aber das Gedicht als solches ist ja dann eine Tatsache, die sich einreiht in die Reihe der Realitäten. Denn ein Gedicht ist ja auch eine reale Sache, genauso wie ein Dreadnought oder wie ein Hubschrauber – wenn es vorhanden ist. Denn sehn Sie einmal, ein Gedicht von Mörike lebt ja auch hundert Jahre, es ist auch zur Dauer bestimmt von irgendeinem Schicksal, also es ist keineswegs nur eine Sache der Ästhetik, will ich mal sagen. Aber Sie haben hier einmal was gesagt – ob der Ausdruck, die lebendige Form, sich von der Inhaltsschwere befreit. Ich würde da sagen: Im Gegenteil, die Form, der Ausdruck befreit sich nicht von der Inhaltsschwere, er füllt sich vielmehr mit dieser Inhaltsschwere, er erträgt sie und gibt ihr durch seine Arbeit zum lyrischen Ausdruck, er hebt sie in eine Sphäre geistiger Art, oder man kann lieber einfacher sagen: in eine andere Sphäre, eine Sphäre, in der es Inhaltsschwere gar nicht mehr gibt, in der es nur noch die Leichtigkeit der Formen gibt, ich will nicht sagen Spiel, aber immerhin die Überwundenheit des Inhaltlichen und des Sachlichen.
Kunisch: Würde das denn dem widersprechen, was ich vorhin mit dem Platenschen oder an dem Platenschen Gedicht zu sagen versuchte? Das würde vielleicht anders und besser gesagt sein.
Benn: Nein, im Gegenteil: Er ist Nihilist in seinem Herzen, in dem Augenblick, in dieser Stimmung, aber nachdem das Gedicht fertig ist, hat er eine positive Arbeit geleistet und ein Produkt geschaffen, das bleibt.
Kunisch: Sie haben eben es sogar noch anders gesagt: Nicht nur in dem Augenblick, wo das Gedicht fertig ist, sondern in dem Augenblick, wo er schafft, während er produziert, ist er ja bereits in dem Positiven darin, auch wenn er aus einem negativen Erlebnis herauskäme. Das würde die Sache doch noch deutlicher machen. Aber darf ich nun noch sagen, wenn das wirklich so ist, dann würden wir das eine immerhin gefunden haben: nämlich den Ausdruck als ein Wert für sich genommen gegen seinen Inhalt. Aber darf ich nun noch weiter folgern? Bedeutet das nicht auch, daß dann dieser Ausdruck, der das Gesagte aufhebt, vom Dichter her Aufhebung von etwas ist, von einem Inhalt, also in dem Falle des Platenschen Gedichtes, daß ein Nein aufgehoben wird, in dem Augenblick, wo es in den dichterischen Ausdruck gelangt; aber nun weiter: daß dieses Aufheben des Nein in ein Ja hinein trotz des entgegenstehenden Wortlautes doch Aufhebung für jemanden ist. Und wenn jemand dieses Gedicht aufnimmt, dann ist es doch Aufhebung für jemanden, denn im Gedicht bleibt das Nein stehen. Er erfährt dieses Nein durch die Faszination des aufhebenden Ausdrucks als ein Ja. Und dann hätten wir doch wenigstens – entschuldigen Sie, wenn ich das sage, es soll jetzt nicht eine Harmonisierung unserer Ansichten bedeuten – irgend eine Art von Antwort immerhin erreicht, daß nämlich das Gedicht dazu da ist, daß jemand das in der Form, im Ausdruck, zur Faszination oder – entschuldigen Sie den Ausdruck – zum Glück verwandelte Wort des Dichters vernehme. Und dann gäbe es doch so etwas wie ein „wozu“.
Benn: Ja. Aber glauben Sie, daß das den Dichter beglückt noch? Der Prozeß ist noch ein ganz anderer, und ich möchte damit schließen: Ich glaube, es ist ein Begriff, der von Hegel stammt. Woher eigentlich diese Tatsache kommt, weiß ich nicht. Es ist der Begriff: die formenfordernde Gewalt des Nichts. Je stärker das Nichts in einem Menschen ist, der an sich produktiv ist, um so mehr reißt es ihn, zwingt es ihn, Formen zu machen, Gedichte zu machen, um dieses Nichts in sich zu überwinden, das ja an sich völlig unerträglich ist natürlich. Und damit, glaube ich, schließen wir diese Diskussion, denn die Dinge sind nicht auf logische Formeln und nicht auf Erkenntnisbegriffe zu bringen.
Aus: Gottfried Benn: Sämtliche Werke. Band VII/1, Klett-Cotta, 2003
Im Rundfunk war es ganz nett, 2 Flaschen Boxbeutel auf dem Tisch u. Prof K[unisch] u ich unterhielten sich mit einem gewissen Amüsement u gegenseitigen Ironien. Es dauerte fast 3 Stunden, das Ganze.
Benn an Ursula Ziebarth am 20. August 1954
Das Gespräch wurde unter dem Titel „Der Lehrende und der Dichter“ im SFB 1954 ausgestrahlt.
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt, Merkur, Heft 18, August 1949
Max Rychner: Gottfried Benn. Züge seiner dichterischen Welt (II), Merkur, Heft 19, September 1949
Hans Egon Holthusen: Das Schöne und das Wahre in der Poesie. Zur Theorie des Dichterischen bei Eliot und Benn, Merkur, Heft 110, April 1957
L.L. Matthias: Erinnerungen an Gottfried Benn, Merkur, Heft 171, Mai 1962
Nico Rost: Begegnungen mit Gottfried Benn, Merkur, Heft 218, Mai 1966
Nino Franks Bericht über seinen Besuch bei Benn, Merkur, Heft 398, Juli 1981
Walter Aue: „Das ist Bahia, am Meer“. Wege zu Gottfried Benn
Norbert Hummelt: Auf einen Sprung zu Gottfried Benn
Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Gottfried Benn
HUND UND ZURÜCK
Nach Gottfried Benn
1912
Einem toten Hund,
der drei Tage in der Kanalisation gelegen hatte,
schnitt ich mit einer Rasierklinge
die schleimigen Hoden heraus.
Der Krankenschwester, die kurzsichtig war,
sagte ich, daß sie von einem Neger stammten.
Ach, wie verzückt sie starrte
als sie die Eier löffelte!
1932
Eine Epoche geschwommen
in Eiter, in Strömen von Blut.
Der Mensch: auf den Hund gekommen.
Ebbe im Hirn. Und Flut –:
Wie er das Bein hob, das rechte
und pißte aus schlaffem Darm.
Dann Neubeginn. Aufstieg. Das Echte:
erhoben der rechte Arm.
1952
Das Schweigen dann. Das erste Wort. Das Stammeln.
Dem Hund, der in mir steckt, befahl ich: such!
Und siehe da, das Sichten und das Sammeln,
es lohnte sich –: griechisches Wörterbuch.
Ein bißchen Mythos, ein paar Chromosomen
summieren sich zum Inhalt des Gedichts –
ein Substantiv, ein Adjektiv, Pronomen
et cetera, Big Benn. Nach mir kommt nichts.
Kurt Bartsch
Helmut Böttiger: Gottfried Benn – Kleine Aster und andere Gedichte
Gottfried Benn: Kleine Aster – Gedichte und Prosa. Ulrike Draesner und John von Düffel im Gespräch mit Anja Brockert am 21.01.2019 im Literaturhaus Stuttgart.
Lesung: Holger Hof
Moderation: Jörg Magenau
Im Literarischen Colloquium Berlin am 13.12.2011
Tondokument: Peter Rühmkorf und Adolf Muschg über Benn und Brecht am 16.9.2006 in der literaturwerkstatt berlin.
Carl Werckshagen: Gottfried Benn 60 Jahre
Schleswig-Holsteinische Volks-Zeitung, 27.4.1946
Max Rychner: Gottfried Benn
Die Tat, Nr. 120, 3.5.1956
Adolf Muschg, Jürgen P. Wallmann, Edgar Lohner: Abschied von Gottfried Benn?
Die Tat, 29.4.1966
Jürgen P. Wallmann: Kunst als metaphysische Tätigkeit
Die Tat, 2.7.1966
Bruno Hillebrand: Gottfried Benn – zehn Jahre nach seinem Tod
Neue Deutsche Hefte, Heft 110, 1966
Peter Rühmkorf: „Und aller Fluch der ganzen Kreatur“
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.6.1976
Jürgen P. Wallmann: „Der Ruhm hat keine weissen Flügel“
Die Tat, 30.4.1976
Gert Westphal: Gottfried Benn – nach zwanzig Jahren
Neue Zürcher Zeitung, 23.7.1976
Heinz Friedrich: Plädoyer für die schwarzen Kutten
Merkur, Heft 30, 1976
Albrecht Schöne: Gottfried Benn?
Die Zeit, 2.5.1986
Peter Rühmkorf: Gottfried Benn oder „teils-teils das Ganze“
Deutsches Sonntagsblatt, 6.7.1986
Wolfram Malte Fues: Nur zwei Dinge
manuskripte, Heft 174, 2006
Jörg Drews: Das Gegenteil von ,gut gemeint‘
Tages-Anzeiger, 4.7.2006
Cornelius Hell: Persönlich, poetisch, politisch
Die Furche, 29.6.2006
Gottfried Benn – das letzte und einzige Fernseh-Interview mit Gottfried Benn am 3. Mai 1956 zum 70. Geburtstag.
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