DER SCHLEIER
Wer im Labyrinth geht,
aaaaawill nicht Wahrheit;
aaaaaaaaaawill seine Ariadne.
Wahrheit ist nicht Entblößung
aaaaaZerstörung des Geheimen;
aaaaaaaaaaist Öffnung, die das bewahrt.
Unsere Erfahrung ist gefangen im Wissen
aaaaadas nicht mehr unsere Erfahrung ist;
unser Wissen, erniedrigt von der Erfahrung,
aaaaadie nie Wissen geworden ist.
Wir werden neue Muster der Dichtung weben
aaaaaaaaaafür die möglichen Orte von Wahrheit,
aaaaaweder wahr noch falsch,
einer Wahrheit, die kommt wie
aaaaaaaaaaSchein: unwahr
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaunbegriffen
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaunfaßlich,
die den Fehler übersetzt (die Leidenschaft)
aaaaain den einen Lebensfaden.
Charis Vlavianos
Übersetzung:Gregor Laschen
Die Leuchttürme tun was sie können
… das Gedicht ist mein Körper, Gedichtgedicht – babylonischer
Körper, Verwandlung, Rede vom Ich, vom Gesicht, vom
Austausch der Zeichen: auf der rot bemalten Haut des
toten Stiers die Nackte, Schemen und Schatten des Tierkopfs
in die weitgespreizten Beine gelegt, auf den hoch-
gestülpten Eingang in der Mitte, aber inzwischen,
mittenrein aus immer wieder blauem Himmel, fallen
und fallen die Reiche alle, aus heitrem Grund die alten
Deiche zusammen, die nicht, schon lang nicht auf den Weg
der Erde hörten wie du, der das sagt: ich bins, der König
aus Rauch, aber jetzt in der Jacke aus Sand, Austausch
der Zeichen, Freiheit der Bilder mit gebundenen Augen, der
nackte Kopf in der Leere zwischen den Hörnern, der hört
die Hände am Ohr, die Farbe Blau durch die Mühlen
des Schlafs gehn, ach Europa, trauriges Wunder
in Blau, im Rauch alter Geschichten, wo
alles, nicht jedes den Kopfstand einübt, der Finger
Hölderlins aufs Erste Paradies zeigt, nervös, und
Tausendschönchen im schwarzen Glück, das
über die Bogenform der Erinnerung geht, den
eingemauerten Schatten in Orpheus’ Lied zum Reden
bringt: „ich will nicht zurück in den lebenden
Tod, also dreh dich nicht um!“ – Und plötzlich, im
Nachmittag der Musik eine Schrift: der am Turm ankernde
Adler geht auf hohem Ton den Abgrund ausfliegen:
Blauton, den die Wolken so mögen als Spiegel,
Nomade im wie Schnee gefärbten Schnee.
Das Denken, das Mut hat, geht mittendurch. – So die
Schrift für Ende und Beginn der Körper, blaues
Wunder aus Trauer und Glanz, aus
dem ewiglangen Verrat des Fremden, nicht
minder des Eignen gerollt in die noch leeren
Taschen des neuen Jahrhunderts, Schrift für
die Freiheit der Kartoffelkeime: ich ist immer, ich
ist ein andrer ist bang vor der neuen Heimkehr
in den Kristall, ausgeschliffne Ewigkeit hier und
woanders, besonders hier, wo
die Frösche den Trockenboden liebkosen, das
Schwarz wie Weiß aus dem Schnee tritt und der grün-
beschuhte Frauenfuß ins gehörnte Bild: ins
Zweimaleins des Steins, wo das Gedicht wie selbst-
vergessen atemlos die Erinnerung an den sehr alten Namen
buchstabiert: Europa ach, ach
du Europa und dein Atmen lang von Babel her. Rings-
um, an seinen Trauerrändern brennt das Leben.
Die Leuchttürme tun was sie können .
***
Das Gedicht spielt mit den Titeln der bislang fünfzehn Bücher aus dem Übersetzungsprojekt POESIE DER NACHBARN – Dichter übersetzen Dichter, das ich 1988 begann. Das Gedicht spielt an auf den Raum – und ihn bestimmende Mythen –, aus dem die Gedichte in diesen Büchern stammen.
Das Projekt ging – und geht – aus von zwei Vorstellungen. Beider Wurzel war – und ist – meine Neugier. Zum einen hatte ich die Vorstellung, mit diesem Projekt und seiner Arbeitsweise, mit der Hilfe vieler Kollegen dem Reichtum der Kunst des Übersetzens von Poesie bei uns etwas hinzufügen zu können, nicht zuletzt die Erweiterung der deutschen Sprachmöglichkeiten durch die Aufnahme des Fremden. (Ich habe detaillierter auf diesen Spielraum in den Vorsätzen zu den vierzehn vorangegangenen Bänden hingewiesen.) Zum anderen ging es um die Knüpfung eines poetischen Beziehungsnetzes in Europa, das neben der Nachbarschaft auch die „Freundschaft der Dichter“ (Joachim Sartorius) stiften und einen länger anhaltenden Austausch untereinander begründen sollte.
Bleibt mir zu danken, für das Vorrecht der Begegnungen und der Zusammenarbeit: vor allem allen meinen europäischen, meinen deutschen Kollegen, ohne deren engagierte Mitwirkung wir diesen Korpus aus bislang fünfzehn Sprachräumen nicht in Händen hätten; Ulrike Thelen und besonders Ingo Wilhelm für ihre außerordentliche Gastfreundschaft, in ihren Händen lag die Organisation der Begegnungen; Johann P. Tammen und der edition die horen für die sorgliche editorische Betreuung.
Nicht zuletzt danke ich den Interlinear-Übersetzern, deren oft selbstlose und gründliche Vorarbeit eine tragende Säule der in diesem Projekt angewandten Arbeitsweise darstellt.
Zugleich mit diesem Buch erscheint der Zusatz-Band: Königs Schiffe vor Eden, der Fotos, Gedichte und Reflexionen zum Übersetzen von Poesie – von am Projekt beteiligten Autoren – aus fünfzehn Jahren versammelt.
Ich habe jetzt die künstlerische Leitung des Projekts in die Hände von Hans Thill gegeben. Ab dem sechzehnten Band – mit Gedichten aus Rußland – erscheinen die Bücher im Verlag Das Wunderhorn.
Gregor Laschen, Utrecht, im Sommer 2003, Vorwort
I
1
Es gibt griechische Gegenwartslyrik.
2
Aber es gibt natürlich nicht die griechische Gegenwartslyrik.
3
Charakteristisch für die aktuelle Situation ist vielmehr die Gleichzeitigkeit einer Vielzahl künstlerischer Orientierungen und individueller Poetiken, die untereinander nur bedingt Berührungspunkte aufweisen.
4
Eine vergleichbare Aussage wäre noch vor wenigen Jahrzehnten kaum möglich gewesen.
5
Doch dem Versuch die neugriechische Identität in ihrem Oszillieren zwischen antikem und byzantinischem Erbe, zwischen Orient und Okzident, zwischen ökumenischem Anspruch und zur kulturellen Tugend erhobener Selbstgenügsamkeit mit den Mitteln der Poesie auszumessen, kommt im Werk der meisten zeitgenössischen Lyrikerinnen und Lyriker nur noch untergeordnete Bedeutung zu.
6
Man mag den Verlust dieses Leitmotivs, das sich seit dem Nationaldichter Dionysios Solomos (1798–1857) durch rund einhundertfünfzig Jahre neugriechischer Lyrik zog, als weiteren Schritt hin zu kultureller Nivellierung bedauern – oder als Befreiung der Kunst von ideologischem Ballast begrüßen.
7
In jedem Fall markiert er in der Geschichte der neugriechischen Literatur, einen Umbruch, der an Prägnanz nur noch mit dem Siegeszug der Moderne in den 1920-er/1930-er Jahren vergleichbar ist.
II
1
Die Verschiebung der thematischen Schwerpunktsetzung machte sich nicht als scharfer Einschnitt bemerkbar, sondern vollzog sich in einem langwierigen Prozeß, dessen erste Anfänge bis in die Nachkriegszeit zurückverfolgt werden können.
2
Auch unter den im vorliegenden Band vertretenen Autoren befindet sich niemand, der diese jemals in programmatischer Form gefordert hätte.
3
Ihr Werk läßt jedoch erkennen, daß jene Entwicklung mittlerweile zu einem gewissen Abschluß gekommen ist.
4
Ein vollständiger Abbruch innergriechischer literarischer Traditionslinien erfolgte dabei selbstverständlich nicht.
5
So gibt es in der häufig erst auf den zweiten Blick erkennbaren Doppelbödigkeit vieler Gedichte von Mimis Souliotis zweifellos Anklänge an das Ironische in der Sprache von Konstantinos Kavafis; einige offensichtlich einer Konzeption der reinen Dichtung verpflichtete Partien im Werk von Maria Kyrtzaki lassen an verwandte Passagen in der späten Lyrik von Angeles Sikelianos (1884–1951) denken, und die Differenz zwischen der stärker rational ausgerichteten beziehungsweise eher transzendenten Poetik von Charis Vlavianos und Stratis Paschalis scheint einen bereits zwischen den Werken von Giorgos Sepheris (Nobelpreis 1963) und Odysseas Elytis (Nobelpreis 1979) angelegten Gegensatz fortzuschreiben.
6
Es zeigt sich jedoch, daß das Interesse der Jüngeren an den Älteren, das in diesen künstlerischen Wahlverwandtschaften zum Ausdruck kommt, sich in erster Linie auf die stilistischen Merkmale von deren Werk bezieht, die in der Regel mit vergleichbaren Phänomenen in anderen europäischen oder amerikanischen Literaturen korrespondieren.
7
Kein Leserwunsch muß von der zeitgenössischen griechischen Lyrik nachhaltiger enttäuscht werden als jener nach Exotik.
III
1
Ungeachtet der übergreifenden Bedeutung der beiden skizzierten Paradigmenwechsel – stilistisch der Übergang von traditionellen Formen der Lyrik zur Moderne, inhaltlich das Abrücken von einseitig „gräkozentrischen“ künstlerischen Präferenzen – arbeitet die Kritik bei der Einteilung der neueren griechischen Dichtung in der Regel mit vergleichsweise detaillierten Untergliederungen.
2
Dieses Verfahren ergab sich nicht zuletzt aus der Erkenntnis, daß angesichts der erheblichen Zahl von Lyrikerinnen und Lyrikern, die regelmäßig neue Arbeiten vorlegten und vorlegen, beim Austausch über deren Werk mit einem gewissen Pragmatismus vorgegangen werden muß.
3
Als zweckdienliche, der Verständigung eine zunächst wertungsfreie Grundlage bietende Kriterien wurden dabei bevorzugt das Geburtsdatum sowie insbesondere der ungefähre Zeitpunkt des jeweiligen literarischen Debüts herangezogen.
4
In diesem Sinne setzte es sich durch – ausgehend von der berühmten Generation von 1930, der neben den bereits erwähnten Elytis und Sepheris mit Jannis Ritsos noch ein weiterer auch im Ausland bekannter Vertreter der Klassischen Moderne Griechenlands angehörte – von einer Ersten beziehungsweise Zweiten Nachkriegsgeneration, einer Generation von 1970 sowie einer Generation von 1980 zu sprechen.
5
Auf eine zumindest versuchsweise inhaltliche Abgrenzung der einzelnen Gruppen zielten die parallel beziehungsweise ergänzend vorgeschlagenen Begriffe Dichtung der Niederlage (für einige Autoren der Ersten Nachkriegsgeneration), Generation des Widerhalls (für die Zweite Nachkriegsgeneration), Generation des Zweifels (für die Generation von 1970) sowie Generation der privaten Vision (für die Generation von 1980) ab.
6
Als Dichtung der Niederlage sind in diesem Zusammenhang Texte zu verstehen, die das Scheitern der Linken im griechischen Bürgerkrieg von 1944–1949 reflektieren; als Literatur des Widerhalls werden Gedichte gekennzeichnet, die das Siegel der bleiernen Zeit tragen, die auf diesen Bürgerkrieg folgte, und die Begriffe Generation des Zweifels beziehungsweise Generation der privaten Vision spielen auf die den jeweiligen Dichtern zugeschriebene Infragestellung kultureller und ideologischer Stereotype oder auf ihren vorgeblichen Rückzug ins ausschließlich Individuelle an.
7
Die hier vorgestellten Autorinnen und Autoren sind in diesem Rahmen der Zweiten Nachkriegsgeneration (Katerina Angelaki-Rooke), der Generation von 1970 (Maria Kyrtzaki, Mimis Souliotis) beziehungsweise der Generation von 1980 (Stratis Paschalis, Charis Vlavianos, wohl auch noch die etwas jüngere Maria Topali) zuzurechnen.
IV
1
Zentrale Motive der Lyrik von Katerina Angelaki-Rooke sind Liebe, Eros und Körper, wobei in den jeweiligen Gedichten, auf deren Grund fast immer eine Erfahrung elementarer Einsamkeit erkennbar wird, sowohl auf konkrete Personen, als auch in pantheistischer Weise auf die belebte und unbelebte Natur Bezug genommen werden kann; in den letzten Jahren entstehen vermehrt kurze, narrative Texte, in denen die Auseinandersetzung mit dem Tod – dem eigenen wie dem anderer – an Gewicht gewinnt.
2
Die innere Spannung, die von vielen Gedichten von Maria Kyrtzaki ausgeht, scheint darauf zurückzuführen sein, daß diese häufig das Ringen zwischen zwei Kraftfeldern thematisieren, unter denen sich die Gegensatzpaare Tag/Nacht, schwarz/weiß, nah/fern sowie männlich/weiblich mehrfach wiederholen; nach vergleichsweise konventionellem Beginn sind ihre jüngeren Arbeiten auch zunehmend von sprachexperimentellen Zügen geprägt, was die Einflechtung volksliedhafter Elemente ebenso einschließt wie die Verwendung einer gelegentlich mehrdeutigen Syntax.
3
In Bezug auf die Lyrik von Stratis Paschalis könnte man vielleicht insofern von religiöser Dichtung sprechen, als in dieser häufig der Dialog mit einem als stets unsichtbar anwesend empfundenen, aber niemals ausdrücklich benannten Du gesucht wird beziehungsweise Dinge und Situationen aus der sinnlich erfahrbaren Welt vor allem die Funktion erhalten, auf eine zweite Bedeutungsebene hinzuleiten, die sich unmittelbarer sprachlicher Zugänglichkeit entzieht; betont intertextuelle Ansätze, wie in der hier vorgestellten Komposition „Komödie“, die mit Dantes Divina Commedia korrespondiert, bilden im Gesamtwerk von Paschalis dabei eher die Ausnahme.
4
Eine große Zahl der Gedichte von Mimis Souliotis ist von den oberflächlich betrachtet beschaulichen Zuständen in der nordgriechischen Region inspiriert, in der er lebt; neben Liebeslyrik und literarischen Porträts flüchtiger Bekannter stehen dabei Texte, deren subversive Kraft sich ebenso gegen die Selbstaufgabe in einem zur Routine gewordenen Alltag oder den Literaturbetrieb richten kann, wie sie es vermag, das verdeckte Weiterwirken traumatischer Erfahrungen der jüngeren griechischen Vergangenheit, etwa aus den Jahren der deutschen Besatzung, zu verdeutlichen.
5
Ein auffälliges Merkmal des Werks von Maria Topali ist das Alternieren zweier lyrischer Prinzipien, von denen die Bevorzugung einer suggestiven Poetik, wie sie durch die inhaltliche Verankerung der Texte an der Grenzlinie zwischen tatsächlicher und imaginierter Realität bewirkt wird, in ihren früheren, bis etwa 2000 entstandenen Gedichten überwiegt, während neuere Arbeiten zumeist – aber ebenfalls nicht ausschließlich – einen sachlichen Duktus aufweisen oder sich auf die Perspektive eines Beobachters festlegen; eine weitere Besonderheit ihres Schaffens sind die uns in diesem Band mehrfach begegnenden dialogischen Partien.
6
Wiederkehrende Themen der Gedichte von Charis Vlavianos sind die Geschichte (als Begriff und als Folge von Ereignissen), die Wechselfälle im Leben der Familie des Autors, die Liebe, die seltener in ihrer Ambivalenz und häufiger als Quelle von Glück erscheint, die Dichtung selbst sowie die Gestaltung verschiedener Stoffe in einer Form, die mit einiger Vorsicht vielleicht als rein philosophische Reflexion oder einfach Abstraktion bezeichnet werden könnte; überhaupt ist Vlavianos’ Lyrik von einem auch unmittelbar intellektuellen Ansatz gekennzeichnet: noch in von emotionalen Ausnahmesituationen inspirierten Gedichten werden die dargestellten Empfindungen zumeist gleichzeitig betont kritisch hinterfragt.
7
Gemeinsam ist allen Dichterinnen und Dichtern dieser Auswahl allenfalls die nahezu ausnahmslose Verwendung des freien Verses.
V
1
Aus dem gegebenen Überblick sollte deutlich geworden sein, daß von engen literarischen Verwandtschaften unter den in diesem Band vertretenen Autorinnen und Autoren auch dann nicht die Rede sein kann, wenn diese benachbarten Geburtsjahrgängen angehören.
2
Von dem Generationen – Modell, das zweifellos dazu tendiert, das Bestehen künstlerisch geschlossener und sich gegebenenfalls gegeneinander abgrenzender Gruppen zu suggerieren, sollte man bei der Beschreibung ihres Werkes daher doch besser mit äußerster Zurückhaltung Gebrauch machen.
3
Aber auch bei der Betrachtung der anderen Abschnitte der neugriechischen Lyrik, auf die dieses gern angewendet wird, erweist sich die Bindung an ein summarisches, mit der Unterordnung der individuellen dichterischen Stimmen unter einen Sammelbegriff einhergehendes Verfahren als eher problematisch. Die sogenannte Erste Nachkriegsgeneration etwa, deren Bild nicht nur in der breiteren Öffentlichkeit bis heute von ihrem politisch engagierten Flügel bestimmt wird, umfaßte darüber hinaus mindestens ebenso starke neosurrealistische und existenzialistische Strömungen.
4
Gleichermaßen spricht es für sich, daß das Bemühen der Verfechter des Generationen-Modells, das gemeinsame literarische Charakteristikum der Zweiten Nachkriegsgeneration zu benennen, zur stillschweigenden Einigung auf Leerformeln gleichkommende Wendungen wie „emotionale Aufladung“ führte.
5
Tatsächlich wurde gelegentlich ausdrücklich auf die Verwirrung hingewiesen, zu der diese Form der Periodisierung zwangsläufig dann führen muß, wenn sie als etwas anderes aufgefaßt wird, denn als behelfsmäßige Sprachregelung mit rein chronologischer Bedeutung.
6
Um so ärgerlicher ist es, daß sie auch in den wenigen relevanten deutsch- und englischsprachigen Veröffentlichungen immer wieder unkommentiert verwendet wird.
VI
1
In den letzten Jahren ist in Griechenland eine deutliche Veränderung in der öffentlichen Wahrnehmung von Literatur zu beobachten. Stand bisher zumeist die Poesie im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, richtet sich diese nun nachhaltiger auf die Prosa. Auf eine qualitative Krise der griechischen Lyrik ist dieses Phänomen aber gewiß nicht zurückzuführen.
2
Erheblich größere Wahrscheinlichkeit kann dagegen die Annahme beanspruchen, daß einige seit den 1990-er Jahren veröffentlichte und von den Verlagen teils extensiv beworbene Romane keineswegs solche Beachtung gefunden hätten, wenn ihrem Erscheinen nicht eine äußerst lange, nur von wenigen noch aus heutiger Perspektive lesenswerten Werken unterbrochene Durststrecke der Prosa vorangegangen wäre.
3
Darüber hinaus hat die Aufgabe thematisch stark an die Nationalgeschichte gebundener Konzeptionen in der Lyrik offenbar einen Rückgang des Interesses vor allem jener Teile der Leserschaft nach sich gezogen, die – nach der These von Nasos Vagenas – in einer Epoche fragmentarisierter Alltagserfahrung in der Literatur ohnehin vorzugsweise den Trost der Großen Erzählung suchen.
4
Dennoch lassen eine ganze Reihe von Indizien erkennen, daß die griechische Dichtung nach wie vor ihr Publikum findet, auch wenn dieses sich gewiß strukturell verändert hat.
5
Zu nennen sind in diesem Zusammenhang etwa die nach wie vor vergleichsweise hohe und keineswegs nur der anhaltenden Kreativität bereits etablierter Autoren geschuldete Zahl neu erscheinender Lyrik-Bände, die bereits zu vorsichtigen Andeutungen über das Bestehen einer Generation von 1990 führte, die Konkurrenz gleich mehrerer Zeitschriften – darunter der außerordentlich anspruchsvollen, von Charis Vlavianos herausgegebenen Poiisi (Dichtung) – die zu großen Teilen oder sogar exklusiv der Lyrik gewidmet sind, sowie die periodisch wiederkehrende und gelegentlich auch noch im Feuilleton großer Zeitungen erfolgende, öffentliche Austragung poetologischer Grundsatzdebatten, in jüngster Zeit beispielsweise über die Zukunft des freien Verses.
VII
1
Wenn die griechische Lyrik auch keinen Anspruch auf Exotik erheben kann, so weist sie doch einige Besonderheiten auf.
2
Aus der Kombination dieser Besonderheiten mag sich die Möglichkeit ergeben, sie zumindest graduell gegenüber anderen europäischen Literaturen abzugrenzen.
3
Von einem charakteristischen „griechischen Ton“ wird man auf dieser Grundlage aber nicht sprechen wollen.
4
Schon die Nennung griechischer Orts- und Landschaftsnamen allein evoziert aber selbstverständlich eine andere Atmosphäre, als es bei der Erwähnung entsprechender Bezeichnungen aus anderen geographischen Regionen der Fall wäre.
5
Auffällig ist auch, daß im Werk offenbar ausnahmslos jeder Autorin und jedes Autors zumindest an einer oder zwei Stellen antike Motive zitiert werden.
6
Zudem klingt mit dem jambischen Fünfzehnsilber in manchen Gedichten ein speziell griechisches Versmaß an – wenngleich in so beiläufiger Form, daß man dabei nicht immer an Vorsatz glauben möchte.
7
Schließlich findet die griechische „Zweisprachigkeit“ bis heute einen gewissen Nachhall in der Dichtung: einige Autoren greifen zuweilen gern auf einzelne Vokabeln oder Wendungen der am Altgriechischen orientierten Gelehrtensprache Katharevousa zurück, die – gleichsam in Konkurrenz zu dem organisch gewachsenen Neugriechisch, das seit etwa 1900 auch die Standardsprache der Literatur bildete – bis in die 1980-er Jahre im offiziellen Schriftverkehr des Staates, in wissenschaftlichen Abhandlungen sowie in Gesetzestexten verwendet wurde.
Torsten Israel, Athen, im Sommer 2003, Nachwort
Informationsseite für Poesie der Nachbarn
Schreibe einen Kommentar