FORMLOSE UND GELÄUFIGE ODE AN DIE KOPIE DES URMETERS AUS DER RUE DE VAUGIRARD
Unter den Arkaden, rue de Vaugirard, zwischen der rue Garancière und der rue Férou, liest man
Urmeter
Der Nationalkonvent ließ, um dem Gebrauch des metrischen Systems allgemeine Geltung zu verschaffen, sechzehn marmorne Urmeter an den belebtesten Orten von Paris setzen.
Die Meter wurden zwischen Februar 1796 und Dezember 1797 angebracht. Dieser hier ist eines von den 2 letzten Exemplaren, die in Paris erhalten geblieben sind, und das einzige, das sich noch an seiner ursprünglichen Stelle befindet.
die Zeit ist vergangen, mein alter Freund
als wir uns kannten
war ich zwölf Jahre alt und du
hundertachtundvierzig
es war der Winter
neunzehnhundertvierundvierzig
es war kalt
die Springbrunnen im Luxembourg waren zugefroren
das kleine Volk der Statuen
fröstelte
die Hinterbacken der Statuendamen
waren ganz weiß vom Rauhreif
weiß auf dem Marmor
weiß auch er (dort wo er nicht grün war)
und so kalt
ich legte mich auf den Boden
parallel zu dir
um mich zu messen
nach einem exakten Maß
das viel sicherer war als das der Zollstöcke
oder der Meßstäbe
oder das des Bandmaßes
dessen sich mein Vater bediente
um uns zu schätzen
meine Brüder und Schwester und mich
die wuchsen
wenn nicht mit dem Auge zu sehen
dann doch zumindest an den Bleistiftmarken
von Monat zu Monat
auf der senkrechten Fuge der Küchentür
ich hatte Vertrauen in dich
ich hatte Vertrauen in den Konvent
der euch gesetzt hatte
dich und deine fünfzehn Brüder
an verschiedene Orte in Paris
um die Mitbürger daran zu gewöhnen
den zehnmillionsten Teil
des Viertels des Meridians
zu betrachten
ich habe nie geglaubt an die Platin-Iridium-Legierung
im Pavillon de Breteuil
noch weniger an
diese absurde Geschichte
mit der Wellenlänge
aber an dich habe ich geglaubt
heute bin ich alt geworden
ich bin gewachsen habe aufgehört zu wachsen begonnen zurückzuwachsen
und das ist nur der Anfang bevor es ein Ende nimmt
in einem merklichen Mangel an Maß
aber du
man könnte meinen daß du dich nicht geändert hast
daß du dich nicht um einen Fußbreit
bewegt hast
wenn ich mich so ausdrücken darf
gerade mal einige Kontraktionen im Gefolge einiger Ausdehnungen
wegen der unvermeidlichen Hitze-und-Kälte-Perioden
wegen der Nächte der Tage und der Jahreszeiten
du bist für mich derselbe geblieben
würdig, dünn, gespannt, gerade, in Dezimeter eingeteilt, zwischen deinen beiden Prellsteinen,
überragt von deinem Familiennamen, METER, deinem Hut eines Konventsmitglieds, unbeirrbar,
horizontal
es ist der Frühling
neunzehnhundertvierundneunzig
ich bin gekommen um dich zu besuchen
wie ich es von Zeit zu Zeit tue
wenn ich hier vorbeikomme
du bist mir nicht böse wenn
ich mich nicht wie damals auf den Boden lege
zu deinen Füßen die keine sind
die Passanten könnten das komisch finden
bei einem Herrn in meinem Alter
noch dazu vor dem Palais du Luxembourg
wo die Senatoren schlummern
der fünften Republik
und das hieße wahrscheinlich
eine gewisse Maßlosigkeit an den Tag legen
Jacques Roubaud
Nachdichtung: Joachim Sartorius
ODE DER INFORMELLEN UND FAMILIÄREN ART AN DIE KOPIE DES URMETERS AUS DER RUE DE VAUGIRARD
Unter den Arkaden der Rue de Vaugirard, zwischen der Rue Garancière und der Rue Férou, steht geschrieben
Urmeter
Um den Gebrauch des metrischen Systems zu verbreiten, ließ die Nationalversammlung sechzehn Urmeter aus Marmor an den belebtesten Plätzen von Paris anbringen.
Diese Meter wurden in der Zeit zwischen Februar 1796 und Dezember 1797 angebracht. Der, von dem hier die Rede ist, ist einer der beiden letzten Exemplare, die in Paris erhalten blieben, und der einzige, der sich noch an seiner ursprünglichen Stelle befindet.
die Zeit verging, mein alter Freund
wir machten uns bekannt
als ich Zwölf war warst du
Hundertachtundvierzig
im Winter
Neunzehnhundertvierundvierzig
war es kalt
die Springbrunnen im Luxembourg froren zu
das Völklein der Statuen
fröstelte
die Hinterbacken der Statuendamen
waren weiß vom Rauhreif
weiß
auf weißem Marmor (dort war er nicht grün)
und so kalt
ich legte mich auf die Erde
um dir parallel zu sein
um mich zu messen
an einem exakten Maß
das genauer war als das der Zollstöcke
der Meßstäbe
oder des Bandmaßes
das mein Vater nahm
und maß
die Brüder und Schwester und mich
wir wuchsen
was nicht mit den Augen abzuschätzen war
wurde sichtbar an der senkrechten Fuge der Küchentür
als Bleistiftmarkierung
von Monat zu Monat
ich vertraute dir
vertraute der Nationalversammlung
die dich und deine fünfzehn Brüder
an verschiedene Stellen in Paris verteilt hatte
die Bürger sollten sich gewöhnen
den zehnmillionsten Teil
des Viertels des Erdumfangs
zu betrachten
an die Platin-Iridium-Legierung
im Pavillon de Breteuil
glaubte ich nie
und erst recht nicht an diese absurde Geschichte
mit der Wellenlänge
aber an dich glaubte ich
ich wuchs also, hörte damit auf, begann zu schrumpfen
und das ist nur der Anfang vom Ende
das eine merkliche Abwesenheit von Maß vorweist
nun bin ich alt
aber du
der du dich nicht geändert hast
nicht gewichen bist
nichtmal um daumesbreite
wenn ich das so sagen darf
abgesehen von den seltenen Ausdehnungen und spärlichen Kontraktionen
wegen der unumgänglichen Hitze- und Kältewellen
der Nächte und Tage der Jahreszeiten
bist du für mich derselbe geblieben
würdig, dünn, straff, aufrecht, in Dezimeter eingeteilt, zwischen zwei Prellsteinen,
über dir der Familienname, METER, mit dem Hut eines Konventionellen, unempfindlich,
horizontal
es ist Frühling
Neunzehnhundertvierundneunzig
ich besuche dich wie stets
wenn ich hier vorbeikomme
von Zeit zu Zeit
du nimmst es nicht krumm
wenn ich mich nicht hinlege
wie damals dir zu Füßen
wobei du gar keine hast
und die Passanten fänden es seltsam
bei einem Herrn meines Alters
sogar hier vor dem Palais du Luxembourg
wo die Senatoren der fünften Republik dösen
legte ich mich legte ich wahrscheinlich
eine gewisses Unmaß an den Tag.
Jacques Roubaud
Nachdichtung: Róža Domašcyna
Der Gesang macht weit
Und dicht
Den Raum, dem er sich gibt.
Er sagt, was fehlt,
gäb es ihn nicht.
*
Der Gesang ist.
Gänzlich seinen Weg gehend,
Bleibt er.
Er sagt, unser Leben
Könne mehr, könne
Besseres Leben sein.
Eugène Guillevic. Aus: „Der Gesang“
In einem Gespräch (1989) mit seinem englischen Übersetzer John Naughton fragte dieser Yves Bonnefoy:
Kann ein poetisches Werk übersetzt werden, ohne daß der Übersetzer es verrät?
Darauf Bonnefoy, der sich verschiedentlich zum Problem von Übersetzung geäußert hat:
Ein dichterisches Werk übersetzen ist ein paradoxes Tun, enttäuschend, berauschend, ebenso schwierig wie notwendig… Wir sind nicht imstande, auf den Tasten des Klaviers die Klänge, die Modulationen der Geige oder der Flöte nachzuahmen. Doch die Musiker verstehen sich darauf, ein Musikstück für ein Instrument zu transponieren, das für ein anderes oder für das ganze Orchester komponiert wurde, und ob nun Geige, oder Flöte, oder Klavier, jedes Instrument bringt Musik hervor, deren Seele aus Akkorden besteht, die das Stoffliche des Klanges fast von sich abgestreift haben. Trifft Ähnliches nicht für das zu, was wir Übersetzer tun?… Manchmal denke ich, daß, was an einem französischen Gedicht am schwierigsten zu vernehmen ist, eben das ist, was das Ohr unverzüglich wahrnehmen sollte, nämlich seine Prosodie. Unsere langen, unsere kurzen Silben, unsere leichten schwebenden Betonungen, die auf der Oberfläche der Wörter sich verschieben je nach der Bedeutung, der Form und noch anderen Impulsen, die hindurchwehen, dies alles entgeht schon in Frankreich den Lesern, die ihr Leben nicht ganz der Poesie verschrieben haben, nicht durch sie der Sprache auf das innigste verbunden sind, – die selber dichterisch atmen.
Bonnefoy rührt an die uralte Voraussetzung, ohne die Übersetzung, Nachdichtung von Poesie nicht gut möglich ist, das Wissen von der prinzipiellen Unübersetzbarkeit – und zeigt doch in die Richtung, aus der die Übersetzung, Nachdichtung möglicher erscheint, dahin wo der „dichterische Atem“ bläst.
Wie bei den vorangegangenen Bänden dieser Reihe, den Begegnungen mit Dichtern aus Dänemark, Ungarn, Spanien, Island, den Niederlanden, Bulgarien und Italien hat der Edenkobener Spiel-Raum „DICHTER ÜBERSETZEN DICHTER“ auch diesmal, den schönen Riß zwischen Nachdichtung und mehr wortgetreuer Übertragung voll ausmessend, in eine deutsche Mehrsprachigkeit, oft desselben Original-Gedichts geführt, es vom deutschen Versfuß her begrüßend: genau, und eigen.
Hölderlin ist der wohl meistgelesene deutsche Dichter unter den Dichtern anderer Sprachen, in diesem Jahrhundert. Der Titel dieses Bandes, er stammt aus dem Zyklus „Die 99 Stationen von Yale“ von Meddeb, ist auch als Danksagung an unsere französischen Nachbarn zu lesen, die uns mit ganz wesentlichen, neuen Lesarten der Hölderlinschen Texte beschenkt haben, in der Hölderlin-Forschung wie in Gedichten zu Hölderlin: Namen wie Robert Minder und Pierre Bertaux einerseits, René Char, Jean Tardieu, Eugène Guillevic oder André du Bouchet andererseits seien hier stellvertretend erinnert.
Allen, die beitrugen zu unserer Begegnung mit den französischen Kollegen, insbesondere Ingo Wilhelm, danke ich herzlich. Ohne den uneigenützigen Einsatz aller gäbe es diesen Band nicht.
POESIE DER NACHBARN: Der nächste Band in dieser Reihe ist Dichtern aus Norwegen gewidmet.
Gregor Laschen, Utrecht/Rolandseck, Vorwort
Wer sich einen Überblick über das verschaffen will, was es in der zeitgenössischen Poesie Frankreichs an Stimmen und Sprechweisen gibt, sieht sich einer vielfältigen Struktur kleinerer Verlage mit teilweise klangvollen Namen (Le Castor Astral, Fata Morgana) konfrontiert, die ihren Sitz nicht immer in Paris haben. Der ansonsten unter heftiger Mitwirkung des Fernsehens aufs große Publikum abzielende Literaturbetrieb, der jede Herbsternte mit dem Spektakel der Preisverleihungen nach dem Prinzip der Klassenbesten vertikal durchgliedert, scheint hier seine Antithese gefunden zu haben.
Es ist, als hätte sich die französische Poesie die poststrukturalistischen Erkenntnisse und Systemtheorien der Meisterdenker vom linken Seine-Ufer zueigen gemacht und unter Auflösung aller Hierarchien eine weitverzweigte, horizontal gegliederte, „rhizomatisch“ miteinander vernetzte Szene gebildet, die sich dem Überfliegerblick durch eine Strategie der Unübersichtlichkeit verweigert, sich beim näheren Hinsehen jedoch als ungeheuer lebendig und produktiv herausstellt.
Wenn es in Frankreich noch eine Öffentlichkeit für Poesie gibt, ist das auch den zahlreichen Zeitschriften zu danken, deren wichtigste Gründungen aus den 60er (Action Poétique / Revue de Poésie, später: Po&sie) und 70er Jahren (Orange Export Ltd. / TXT) stammen, als die verschiedenen Poetologien antithetisch aufeinanderprallten und sich in durchaus auch weltanschaulich voneinander abgrenzenden „Kapellen“ organisierten. Diese Grenzen sind durchlässiger geworden, wie man aus der Tatsache ersehen kann, daß in den Redaktionskomitees zahlreiche persönliche Überschneidungen zu finden sind. Die Konturen der verschiedenen Auffassungen von Poesie sind weiterhin deutlich sichtbar.
*
Während die Ansätze der französischen Philosophie, die Moderne nach ihrer klassischen Zeit neu zu denken, in Deutschland von der Generation nach der Revolte begierig aufgenommen wurden und sogar in der jungen Lyrik der DDR in der Gruppe des „Prenzlauer Berg“ ihre Spuren hinterlassen haben, ist die französische Poesie hier in Westdeutschland weitgehend unbeachtet geblieben.
Von den prägenden Lyrikern der unmittelbaren Nachkriegszeit, Michaux, Ponge, Char oder Jaccottet liegt immerhin dieser oder jener Gedichtband in Deutschland vor, aus den unsere Zeitgenossenschaft begründenden 60er Jahren wurde jedoch bisher kaum etwas übersetzt. Eine Ausnahme bildet hier Jean Daive, dessen richtungweisender Band Décimale blanche schon kurz nach seinem Erscheinen (1967) von Paul Celan übersetzt, freilich erst zehn Jahre später als bibliophile Ausgabe veröffentlicht wurde.
Eine zweite für die Entwicklung der französischen Poesie folgenreiche Neuerscheinung desselben Jahres, der Band E von Jacques Roubaud, wurde bei uns nicht zur Kenntnis genommen. Daive als der Lyriker der „weißen Flecken“ auf dem Atlas der Sprache und Roubaud als experimentierender Autor, der seinen ersten Band nach den Gesetzen des Go-Spiels strukturierte – solche Ansätze waren ja nicht soweit entfernt von dem, was zur gleichen Zeit in Deutschland die poetischen Gemüter beschäftigte.
Noch verblüffender, daß nicht einmal Lyriker des politischen Engagements, wie etwa der damalige Henri Deluy, in Westdeutschland zur Kenntnis genommen wurden, wo doch das politische Gedicht unmittelbar auf der Tagesordnung zu stehen schien, und in der DDR erst mit großer Verspätung: im Jahr 1979, als eine Anthologie erschien, die einen Schwerpunkt auf das politische Gedicht legte.
Nach Gründen für dieses eigenartige Nebeneinander im kulturellen Leben von Franzosen und Deutschen zu suchen, wäre vielleicht lohnend, ich möchte lediglich feststellen, daß es seit der Jahrhundertwende in den Literaturen der beiden Länder immer wieder parallele Entwicklungen gab, die aber in der Ausprägung des Anderen kaum zur Kenntnis genommen wurden, trotz der Bemühungen einiger Dichter, die ihre Kollegen aus dem Nachbarland auch bei sich bekannt machen wollten.
Paul Celan fällt hier eine ganz besondere Bedeutung zu. Im heutigen Frankreich gehört neben Alain Lance auch Henri Deluy zu den Vermittlern deutscher Poesie. Vielleicht kann diese Anthologie etwas dazu beitragen, ein wenig Licht in dieses Paradox der Nachbarschaft zu bringen.
*
Eine Gemeinsamkeit der hier vorgestellten Lyriker scheint mir darin zu liegen, daß in ihren Texten die Sprache einer Reflexion unterzogen wird. Ob das lyrische Ich ganz aus der Nähe seiner sinnlichen Erfahrungen berichtet, wie bei Deluy oder Meddeb, oder in einer rätselhaften Distanz zu sich selber, wie bei Daive, Tellermann oder de Seynes, oder ob wir es mit spielerischen Textmaschinen zu tun haben wie bei Roubaud, immer sind die Gedichte in einer für den deutschen Leser vielleicht erstaunlichen Weise ganz bewußt aus Sprache gemacht. Jean Daive und Esther Tellermann sind Lyriker, die sich in ihren Texten einem Verstehen entziehen, sobald es sich eingestellt zu haben scheint, und auch die poetischen „Studien“ von Jean-Baptiste de Seynes machen den Raum zwischen Ausdruck und Sinn produktiv für eine andere Form der Wahrnehmung. Für französische Ohren ist die etymologische Verwandtschaft von „Text“ und „Gewebe“ ganz naheliegend, die Beobachtung, daß nicht alle Fäden der Textur an der Oberfläche sichtbar sind, beinahe schon ein Gemeinplatz.
Wie aber rückt man der Sprache auf den Leib, wie kommt man an das „heiße Fleisch der Wörter“? Das Zitat stammt nicht, wie man vielleicht glauben könnte, von einem Dichter der Wortmagie, sondern von Raymond Queneau, der zusammen mit Francois de Lyonnais die Gruppe oulipo gegründet hat, die Abkürzung steht für „Werkstatt für potentielle Literatur“, die bereits in ihrem Namen den Hinweis darauf trägt, daß man Literatur anzufertigen gedenkt.
Wie Queneau diesen Prozeß versteht, schildert er in einem 1965 veröffentlichten programmatischen Gedicht, das den irritierenden Titel „La Chair chaude des mots“ trägt. Man soll die Wörter anfassen, ihre flinken Beine spüren und „sehen wie sie gemacht sind“, wie es am Schluß heißt. Die Beschäftigung mit der Oberfläche, dem Bauplan des Gedichts, kann uns hautnah an die Wörter heranführen, und erst im Befühlen des sprachlichen Materials kommt man auch dahinter, wie die Wörter beschaffen sind.
Wenn Jacques Roubaud den musikalisch-mathematischen Aspekt des Gedichts in den Vordergrund rückt, so folgt er dieser Poetologie, die die Strenge der geregelten Vorgehensweise mit einer erotischen Neugier an der Sprache begründet. Im Spiel der Kombinatorik löst er das seit altersher spannungsreiche Verhältnis zwischen Wort und Zahl. Bei ihm sind traditionelle Formen wie der Alexandriner ebenso zu finden wie der freie Vers und seriell gebaute Gedichte, die die Gesetze der Mathematik auf unsere unlogische Sprache anwenden. Seine Studien über die Verskunst der Troubadoure weisen ihn nicht nur als fest in seiner südlichen Region verwurzelten Franzosen aus, sondern auch als Neuerer, der es versteht, rückblickend unser Verhältnis zur Tradition zu verändern.
Der rhythmisch organisierte Text tendiert zur gesprochenen Dichtung, er benötigt den Klang, um sich zu entfalten. Dem gebürtigen Tunesier Abdelwahab Meddeb dient der Rhythmus als musikalische Unterströmung, auf der er sich gleichsam in den Text hineinsteigert, eine Anleihe bei den islamischen Mystikern, die seit dem Mittelalter Techniken entwickelt haben, sich durch ständige Wiederholung etwa von Koran-Zitaten oder den Tanz in Ekstase zu versetzen. So wird bei ihm die Sprache zu einem Transportmittel ganz eigener Art, nämlich als Möglichkeit des Sprechenden, sich auf dem eigenen Text fortzutragen und in den Zustand der Erkenntnis zu versetzen.
Meddebs Gedichte vermitteln die Erfahrungen eines Wanderers zwischen den Kulturen, sie sind selbst Produkte einer Existenz an ihrer Schnittstelle, von einem, der in beiden Welten zuhause ist, der orientalischen wie der abendländischen. Während wir bei Meddeb auf den emphatischen Entwurf des lyrischen Ich stoßen, das sich zum Schauplatz einer kulturellen Verschmelzung macht und durch den fortschreitenden Text in die Welt stellt, haben wir es bei Jean Daive mit einem gleichsam prekären Ich zu tun, dessen skeptische Konzeption sich in der Aussparung offenbart. Betrachten wir die Funktion der Zahl in seinen Texten, so fällt auf, daß ihr nicht die Stellung eines rhythmisierenden Elements zukommt, sondern sie zu einer grundlegenden Metapher seines Werks wird.
Von der „weißen Dezimale“ bis zur „Erzählung des Gleichgewichts“ bewegt sich dieser Lyriker des Notats entlang der Zahl als poetischer Chiffre. Und wenn er seine Texte mitunter seriell organisiert, so doch ganz anders als Roubaud, ihm ist nicht an der Verwirklichung mathematischer Gesetze gelegen. Vielmehr scheint für Daive die Zahl ein Mittel, dem Text auf die Sprünge zu helfen, zu einer Aussage zu gelangen, vielleicht zur „Entzifferung“ des Ich.
In Daives Texten ist die Frage „wer bin ich?“ allgegenwärtig, dagegen erscheinen die Notate von Esther Tellermann in ihrer alltäglichen Lakonie als Dokumente von Gewißheit. Einer ihrer Gedichtbände trägt den Titel Fluchtdistanz, in vielen ihrer Gedichte könnte man aus der fragmentarischen Ausblendung des Zusammenhangs, die sie mit Daive gemeinsam hat, einen zentrifugalen Affekt herauslesen, das Abrücken von einem Interesse an Selbsterkenntnis, das bei Daive durchaus vorhanden scheint. Letztlich ist es das Wesen dieser Texte, daß sie jeder Spekulation den Boden entziehen, was denn die Folie eines Ich ausmachen könnte, das hinter diesen sparsam über die Seite geworfenen Zeilen stehen mag.
Bei Jean-Baptiste de Seynes ist die Distanz zwischen Ich und Welt noch größer, zwischen Wahrnehmung und Aussage verläuft ein Riß, der durch Sprache nicht mehr zu überbrücken scheint. An die Stelle des „persönlichen“ Notats tritt eine autonome Außenwelt, evoziert mit einer metaphorischen, nach innen gekehrten Sprache. De Seynes knüpft bei André du Bouchet an, für ihn wird die Welt zur Schrift. Das in seiner Verschriftlichung erstarrte Wort projiziert sich auf die Dinge und infiziert sie mit seiner Zeichenhaftigkeit. Gleichzeitig gerät es in ihren Sog und kann auf diesem Umweg wieder Fleisch werden, ein Vorgang der Transsubstantiation, Metaphysik mit umgekehrtem Vorzeichen.
Henri Deluy dagegen ist ein Lyriker des Konkreten, der aufgefächerten Wahrnehmung der Welt. Seinen Gedichten ist eine Tendenz zum Narrativen zu eigen, ein ganz diesseitiger biographischer Grundton, der hinter dem lakonisch Mitgeteilten aufscheint. Diesem scheint Deluy durch abstrahierende Techniken entgegenzuarbeiten, Wiederholungen, Reihungen sprengen den Zusammenhang der Erzählung auf, mit skeptischen Fragen legt sich das Gedicht quer zum scheinbar zwingenden Lauf des Geschehenen.
Während Meddebs Texte in der Spannung von Entgrenzung des Ich und Ich-Verlust stehen, gleichsam in der Überfülle von Welt, die auf das Subjekt einströmt, teilt Deluy uns Einzelheiten mit, Fragmente gelebten Lebens etwa der „Fleischlichen Liebe“, Mosaiksteine einer sich im poetischen Augenblick erfüllenden Vita.
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Wir haben es mit poetischen Positionen zu tun, die gegensätzlicher kaum denkbar sind, ausgetragen in einer Literatur und derselben Sprache stehen sie mit beiden Beinen fest in der Tradition der Moderne. Daß der Text, wenn er einmal in der Welt steht, ein Eigenleben zu führen beginnt, abgerückt oder sich absetzend von dem, der ihn geschrieben hat und schließlich als autonomes Gebilde den Leser ebenso abzuweisen scheint wie er ihn als ästhetisches Gebilde anzieht, ist das Ergebnis eines langen Prozesses. All die Verzerrungs- und Verfremdungstechniken der avantgardistischen Einzelnen und Kampfgemeinschaften der ersten Jahrhunderthälfte, all die scheinbar willkürlich vollzogenen Gewaltakte am Kunstwerk und Strapazierungen der Sprache, all die Skandalinszenierungen, Bürgerverblüffungsaktionen, die es in der Geschichte der modernen Poesie gab, und die in keinem Land so heftig und in so bewußter Zeitgenossenschaft ausgetragen wurden wie in Frankreich, münden in diese Autonomie des Textes, als hätten die in Konkurrenz zueinanderstehenden Ismen an ein- und demselben Projekt gearbeitet.
Hans Thill, Nachwort
Informationsseite für Poesie der Nachbarn
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