WEG IN DIE WÜSTE
Aufwirbeln die Verse jetzt den Staub, irgendwo dort.
Gesagt wird, daß nur Beduinen die Endlosigkeit
der Grenze aushalten, wenn der Sand tönt
über dem glatten Schattenrand der Dünen, auf dem
sie langziehn, schwankend auf ihren Kamelen.
Gehst übern Teppich, läßt darin zurück
den Abdruck deiner Füße. Du betrittst die
Muster des Skorpions, seinen Tötungs-
Plan. Du paßt nicht ins Muster von
Damals und Jetzt. Mächtig tönt
ins Ohr die Stille, Bachs verlorene Partitur.
Deine Hand bewegt sich, die schnelle Eidechse
auf meinem Knie. Atem, Wind bläst
ins Gesicht, Sand, leicht, heiß.
Jouni Inkala
Nachdichtung: Gregor Laschen
WÜSTENEXPEDITION
Die Verse wirbeln jetzt feinen Staub auf.
Daß nur Beduinen unendliche
Grenzenlosigkeit ertrügen, während der Sand
unter den Dünenkämmen treibt, wo
sie mit ihren schwankenden Kamelen ziehen.
Du gehst über diesen Teppich und hinterläßt
die Spuren deiner Schritte. Du kommst am Muster
der Skorpione vorbei, die ihren Stich
planen. Du mußt auf nichts antworten, nicht auf
Vergangenes, nicht auf Gegenwärtiges. Die Stille
tönt gewaltig im Ohr, eine verlorene Komposition Bachs.
Deine Hand streicht, eine schnelle Eidechse
auf meinem Knie. Der Atem, der Wind bläst
fein und heiß aufs Gesicht, Sand.
Jouni Inkala
Nachdichtung: Hugo Dittberner
GLÜCKLICH, die wissen, daß hinter allen
Sprachen das Unsägliche steht;
daß, von dort her, ins Wohlgefallen
Größe zu uns übergeht!
Unabhängig von diesen Brücken
die wir mit Verschiedenem baun:
so daß wir immer, aus jedem Entzücken
in ein heiter Gemeinsames schaun.
Rainer Maria Rilke
*
Die Übersetzung ist wie die Kunst der Fuge,
… ist ein Verzicht, der gelingt.
Die Kunst des Übersetzens lehrt uns das Denken
in Ausweichbewegungen, die Praktik der Spur,
die uns im Gegensatz zum Denken in Systemen
auf das Ungewisse und Bedrohte hinweist,
… Ja, die Übersetzung, die Kunst des Annäherns
und Berührens, ist ein Aufsuchen der Spur.
Eine Spur in die Sprachen zu legen bedeutet,
das Unvorhersehbare der Welt zu sammeln…
Édouord Glissant: Traktat über die Welt
Rilkes Dankgedicht an seinen polnischen Übersetzer, den Dichter Witold Hulewicz, als Widmung an diesen im Februar 1924 in Muzot in ein Exemplar der Duineser Elegien eingetragen, betont einerseits den europäischen Brückenschlag, bei Bewahrung und Gebrauch der Verschiedenheiten einen alle tragenden Boden zu finden, andrerseits, gleichsam pro domo gesprochen: die fremde, die andere Dichtung in den eigenen Sprachbereich zu übertragen bedeutet stets eine Vergrößerung, Bereicherung der eigenen Sprechmöglichkeiten.
Der Gedanke, daß der Hervorbringung von Literatur, insbesondere Dichtung, daß dem dichterischen Entstehungsprozeß wie der Sprache selbst, überhaupt allen Sprachen, immer schon Übertragungsprozesse voraus- und zugrundeliegen und Übertragungssignale innewohnen, die – wahrgenommen – erneut Erstschriften auslösen, ist immer mal wieder angedacht worden, besonders ausgesprochen durch Paul Valéry:
Ich bin ein Schriftsteller, dessen Hervorbringungen sich ergeben aus einer Übertragung der besonderen Gegebenheiten und Eindrücke, die zu jedem Werk gehören – in ein bestimmtes System von allgemeinen Reflexionen und Definitionen, die für mich eigentümlich sind, und aus einer Rückübersetzung dieser Übertragung in die gewöhnliche Sprache. (1927/28)
Und schon 1917/18 schreibt er:
Die Suche, die endlose Suche gilt dem, wovon alles Gesprochene lediglich die Übersetzung ist.
1926:
Was immer mir gesagt wird – was immer ich lese, es scheint mir, als müsse es übersetzt werden.
Und 1956 heißt es bei Günter Eich, in seiner Rede „Der Schriftsteller vor der Realität“:
Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben.
Walter Benjamins Aufsatz, die Vorrede zu seinen Baudelaire-Übertragungen mit dem etwas streng geratenen Titel „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1921) ist seit den frühen 70er Jahren des 20. Jhts ein gern zitierter Text (etwa die darin formulierte Verwendung des Echo-Bildes), bei dessen (Begriffs- wie Bild-) Diskussion häufiger zwei Aspekte vernachlässigt wurden: einerseits entwickeln sich alle Begriffe, die Benjamin bei der Formulierung seiner sprachphilosophischen Überlegungen einsetzt, stets flüssig weiter, bleiben konkret bezogen auf den aktuellen Diskussionsgegenstand, andrerseits – so auch in der Vorrede – hängen sie konkret von eingangs gemachten Ausgangskonditionen ab, hier: daß es im Gedicht um die „reine Sprache“ gehe, hinter allen Sprachen, nicht um Mitteilung. Folglich:
jene reine Sprache, die in fremde gebannt ist, in der eigenen zu erlösen, die im Werk gefangene in der Umdichtung zu befreien, ist die Aufgabe des Übersetzers.
Benjamin stützt sich neben Hamann und Humboldt auf die Romantiker, v.a. aber auch auf Überlegungen von Rudolf Pannwitz, den er ausführlich zitiert.
… der grundsätzliche irrtum des übertragenden ist, daß er den zufälligen stand der eigenen sprache festhält, anstatt sie durch die fremde gewaltig bewegen zu lassen. er muß, zumal wenn er aus einer sehr fernen sprache überträgt, auf die letzten elemente der sprache selbst, wo wort, bild, ton in eins geht, zurückdringen; er muß seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen…
Diese Auffassung geht davon aus – wie Maurice Blanchot schon 1971 anmerkte – „daß jede Sprache alle anderen werden könnte…, daß der Übersetzer im zu übersetzenden Werk genügend Ressourcen und in sich selbst genügend Autorität finden wird, um eine solche krasse Veränderung anzuregen…“ (jetzt in: abrasch, Nr. 0. Wien/Lana 2002, hrsg. von Alma Valazza, die auch Blanchots Text ins Deutsche übertrug). Pannwitz beruft sich – das übernimmt Benjamin natürlich – auf Übersetzer wie Luther, Hölderlin oder George, „die in ihren Übersetzungen nirgends zögerten, die Fassungen der deutschen Sprache zu sprengen, ihre Grenzen zu verlegen.“
*
Ossip Mandelstam, der in seiner Kindheit häufig in Finnland war, winters in Wyborg, sommers in Terioki, hat in der „autobiographischen“ Prosa aus den 20er Jahren, „Das Rauschen der Zeit“, eine sehr anrührende Liebeserklärung an dies Land und seine Dichtung formuliert:
… Das vorrevolutionäre Petersburg, von Wladimir Solowjow bis Alexander Blok, war von der Luft Finnlands durchdrungen… Dunkel fühlte ich immer die besondere Bedeutung Finnlands für die Petersburger, fühlte, daß sie dorthin fuhren, um das zu Ende zu denken, was sie in Petersburg nicht geschafft hatten; hier dachten sie es zu Ende, zogen sich den tiefliegenden Schneehimmel bis an die Augenbrauen ins Gesicht und schlummerten in kleinen Gasthäusern ein, wo das Wasser in den Krügen eisigkalt war. Auch ich habe dieses Land geliebt, wo alle Frauen tadellose Wäscherinnen waren und wo die Kutscher wie Senatoren aussahen.
*
Ich danke allen, die dieses deutsch-finnische Dichtertreffen und dieses Buch durch ihre Mitarbeit ermöglichten, mit vier Zeilen aus Goethes Gedicht „Finnisches Lied“ (übrigens einer freien, überaus interessanten Übertragung eines Textes von A.F. Skjöldebrand):
Wind! O hättest du Verständnis,
Wort’ um Worte trügst du wechselnd,
Sollt auch einiges verhallen,
Zwischen zwei entfernten Liebchen.
Der 15. Band in der Reihe POESIE DER NACHBARN – Dichter übersetzen Dichter stellt sechs Dichter aus Griechenland vor.
Gregor Laschen Utrecht, August 2002, Vorwort
– Momente und Orte finnischer Dichtung. –
Deutsche Dichter übersetzen finnische Dichtung – das hat bislang keine Tradition, abgesehen von eher kuriosen Einzelfällen. So findet sich etwa in Goethes Werk ein Text mit dem Titel „Finnisches Lied“, welchen der Meister nicht selbst geschrieben, sondern übersetzt hat. Es handelt sich um ein Stück aus der finnischen Volksdichtung, das Goethe in französischer Übersetzung fand und zum Anlaß nahm, eine deutsche Version zu versuchen.
Bei einem anderen Fall aus derselben Epoche muß man leider von einer verhinderten Übersetzung sprechen. Nachdem Elias Lönnrot im 19. Jahrhundert aus seinen zusammengetragenen Beispielen finnischer Volksdichtung das Versepos Kalevala kompiliert hatte – seitdem das finnische Nationalepos –, schickte man einen Abgesandten nach Deutschland zu dem Dichter und Übersetzer Friedrich Rückert, mit der Bitte, er möge das umfangreiche Werk doch in deutsche Verse übertragen. Rückert war begeistert und sagte zu. In seinem Nachlaß finden sich drei Konvolute, die davon zeugen, daß er ernsthaft versucht hat, eigens für diese Übersetzung die finnische Sprache zu erlernen – allerdings wohl vergeblich, denn die versprochene Übersetzung kam nie zustande.
In der Folgezeit ist den finnischen Dichtern weitgehend versagt geblieben, wovon Lyriker aus anderen Ländern profitiert haben: engagierte Übertragungen durch deutsche Dichter. Bedeutenden Protagonisten des internationalen Prozesses der modernen Lyrik haben häufig deutschsprachige Kollegen ihre Stimme geliehen und sie somit hierzulande zugänglich und bekannt gemacht. Für einige finnische Lyriker hat sich seit den 60er Jahren des 20. Jh. in ähnlicher Weise nur der Lyriker Manfred Peter Hein eingesetzt, dem u.a. die ersten deutschen Auftritte von Paavo Haavikko in deutscher Sprache zu verdanken sind.
Allerdings sind immer wieder Anthologien und in überschaubarer Anzahl auch Einzelbände erschienen, so daß es deutschen Lesern immerhin möglich ist, sich einen Eindruck von der finnischen Lyrik zu verschaffen.
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Die am Projekt Poesie der Nachbarn beteiligten deutschen Dichter haben sich nicht – wie Rückert – verpflichtet, Finnisch zu lernen, dafür aber sind ihnen ausgezeichnete Nachdichtungen gelungen: das Ergebnis des wohlwollenden Ringens mit einer fremden Sprache und des neugierigen Austauschs mit den finnischen Kolleginnen und Kollegen, die aus einer ganz anderen poetischen Tradition heraus schreiben.
Das Verfahren des Nachdichtens bringt einige Besonderheiten mit sich. Eine davon ist sozialer Natur: man muß sich verständigen, die Nachdichter müssen sich mit den Gedichten auseinandersetzen – und mit den Dichtern. So fließt eine soziale Dimension, die konkrete Begegnung, in die Entstehung von literarischen Kunstwerken ein. Womöglich liegt hier einer der Gründe dafür, warum diese Nachdichtungen einen so ungemein vitalen Eindruck machen.
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Was finnische Gedichte auszeichnet, was sie etwa von deutschen unterscheidet, läßt sich so leicht nicht sagen. Wer mag schon entscheiden, ob ein Unterschied besteht zwischen finnischer und deutscher Sehnsucht, zwischen Einsamkeit und Gemeinsamkeit, Liebe und Abkehr, Reflexion und Erinnerung auf finnisch und deutsch. Und spricht Dichtung nicht immer eine Weltsprache, die Weltsprache der Poesie?
Andererseits verfügt die finnische Sprache über Eigenheiten, die unsere Sprache nicht kennt, sogar über eine völlig andere Struktur. Vielleicht verfügt sie dadurch doch über einen anderen Zugriff auf die Wirklichkeit. Auf jeden Fall hat sie einen anderen Klang – sollte sich das nicht auf die Gestalt und den Charakter ihrer Poesie auswirken?
Und was ist mit dem Gesichtsfeld der finnischen Dichter, was sehen sie um sich herum, was nehmen sie wahr? Es muß doch seinen Niederschlag finden, daß der Einfallswinkel des Sonnenlichts ein anderer ist, daß man allenthalben auf Wasser trifft, daß man aus dem Wald kaum herauskommt, daß man Urbanität in viel kleinerem Maßstab erlebt, oder auch daß man sein Leben lang wöchentlich die Sauna besucht hat.
Tatsächlich findet die von Wasser und Wald geprägte Natur Finnlands Eingang in viele Gedichte, und man kann hier und da spüren, daß der Sommer, von dem die Rede ist, heller ausfällt, als wir das kennen, und der Winter dunkler. In solchen Lesemomenten ist ein spezielles, leicht fremdartiges Aroma zu vernehmen.
Dann aber wieder rückt der Blick eines Gedichts nah an den Menschen heran, dicht vors Auge, dicht an die Haut, und die Fremdheit, der wir da begegnen, ist diejenige, die uns vertraut ist.
In der Begegnung mit finnischer Dichtung verspürt man immer wieder diese ständig changierende Spannung zwischen dem Fremden und dem Vertrauten.
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Die Lyrik Finnlands wird – läßt man die saamische Dichtung außer acht – in zwei Sprachen geschrieben: finnisch und schwedisch. Beide Sprachen sind in diesem Band vertreten, in annähernder Proportionalität zu ihrer literarischen Bedeutung in Finnland.
Da Finnland jahrhundertelang dem schwedischen Königreich angehörte, war seine Kultur bis weit ins 19. Jahrhundert hinein schwedischer Prägung. Nicht nur die Sprache der Administration, auch die Sprache der Literatur war schwedisch. Das Finnische war die Sprache des Volkes, es galt nicht als kulturfähig. Die finnischsprachige Literatur ist daher vergleichsweise jung. Der erste Roman in finnischer Sprache erschien erst 1870, und was es davor an finnischsprachiger Poesie gab, war vor allem Volksdichtung.
In der mündlich überlieferten, erst im 19. Jahrhundert schriftlich fixierten Volksdichtung kann man zwei Hauptlinien unterscheiden, in denen bereits die Entwicklung der finnischen Lyrik vorgezeichnet ist. Lönnrots Kalevala sammelt die epische Dichtung, die von den großen Zusammenhängen des Daseins berichtet und mythologische Muster entwirft. Unter dem Titel Kanteletar wiederum hat ebenfalls Lönnrot die lyrische Volksdichtung, die von Sängern und vor allem Sängerinnen überliefert wurde, zusammengefaßt und bearbeitet. Diese Dichtungen besingen die Erfahrungen des einzelnen Menschen, in besonderem Maße das Leben der Frauen.
Lange Zeit haben einzelne Persönlichkeiten fast allein die finnische Dichtung repräsentiert, oder zumindest dominiert. Da gab es im 19. Jahrhundert Johan Ludvig Runeberg, der schwedisch schrieb, und dessen Versepen Allgemeingut waren. Später wurde auf finnischsprachiger Seite Aleksis Kivi zur großen Figur, als Verfasser des ersten finnischen Romans, aber auch als Stückeschreiber und als Dichter. In seiner Lyrik bediente sich Kivi nicht des traditionellen Versmaßes der Volksdichtung. Seine Gedichte bewegen sich bereits auf die gesprochene Sprache zu, sie wollen zugänglich und volksnah sein, Erhabenheit ist ihnen fremd. Kivi ist damit stilbildend gewesen. Bis heute begegnet man in finnischer Lyrik nur selten einem elitären Gestus.
Nach dem verspäteten Anfang hat die finnische Literatur rasch und in verdichteter Form all die Stadien und Epochen durchlaufen, die es auch anderswo gegeben hat. Gerade die Poesie hat dabei viele Impulse aus anderen Literaturen aufgenommen, aus der schwedischen natürlich, aber auch aus der französischen, englischen und deutschen. Allerdings hat sich die Herausbildung einer echten modernen Lyrik verzögert.
Als sich anderswo in Europa experimentierfreudige Avantgardisten zu Wort meldeten, befand sich die junge finnische Literatur noch in einer Phase der Konsolidierung. Und in einem solchen Prozeß der Festigung einer Literatursprache kann nicht zugleich ihre experimentelle Aufsplitterung betrieben werden. Zwar kam es in den 20er Jahren, nicht zuletzt inspiriert vom deutschen Expressionismus, zu ersten Versuchen, die Konventionen von Reim und Metrum zu überwinden und die sprachlichen Möglichkeiten des Gedichts zu erweitern. Aber erst in den Jahren nach dem Krieg entstand Lyrik, die man als modern bezeichnen kann. Etabliert hat sich jenes Spektrum an Schreibweisen, das man heute als finnischen Modernismus bezeichnet, in den 50er Jahren, als Autoren wie Paavo Haavikko, Eeva-Liisa Manner, Tuomas Anhava und Mirkka Rekola auf den Plan traten und mit der Eigenwilligkeit ihrer Texte alle Fragen nach überkommenen Konventionen obsolet erscheinen ließen.
Charakteristisch für die Dichtung des Nachkriegsmodernismus ist ihr freier Umgang mit der Syntax, ohne diese jedoch energisch zu untergraben oder gar aufzuspalten. Es ist hier kaum eine Entwicklung zu erkennen, in der sukzessive dem Einzelwort das Primat gegenüber dem Satzzusammenhang zukommt. Die Autoren des Modernismus repräsentieren keine radikale Avantgarde. Ihre formalen Neuerungen sind von nachhaltiger Wirkung gewesen, als revolutionär kann man sie jedoch kaum bezeichnen. Sie richteten ihr Hauptaugenmerk auf die Erneuerung und Erweiterung der Bildsprache, sie insistierten auf der Autonomie und der Individualität des poetischen Bildes. Mit der finnlandschwedischen Lyrik verhält es sich anders. Das Schwedische mußte sich nicht erst im 19.Jh. als Literatursprache entfalten, es wurzelte damals schon in einer weit zurückreichenden nordischen Tradition und konnte mit der beginnenden Moderne von den Dichtern freier und innovativer in literarischen Werken gestaltet werden.
So entwickelte sich, parallel zu anderen europäischen Literaturen, in den zoer Jahren bereits eine avancierte moderne schwedischsprachige Lyrik in Finnland, die mit energischem Gestus die Dichtungskonventionen sprengte. Das Pathos der noch heute überaus beliebten Edith Södergran schuf kühne sprachliche Bilder, Elmer Diktonius kreierte eine Variante des vitalistischen Expressionismus, Gunnar Björling organisierte die Einzelwörter seiner Gedichte in weitgehender Unabhängigkeit von Satzzusammenhängen und Henry Parland registrierte im Duktus einer lakonischen neuen Sachlichkeit die motorisierte und kommerzialisierte moderne Wirklichkeit.
Die schwedischsprachige Lyrik konnte sich früh von jeglicher staatstragender Funktion befreien, weshalb sie experimenteller, kühner mit der Sprache als Material umgehen konnte. In der finnischsprachigen Dichtung hingegen wirkte lange die Forderung aus dem 19. Jh. nach, die Literatur müsse die originäre Kultur Finnlands stärken, ja nachgerade das Rückgrat der entstehenden Kulturnation bilden.
Die poetologischen Folgen sind bis heute zu erkennen und spiegeln sich auch in dieser Anthologie wider. Die hier vertretene finnlandschwedische Autorin schreibt den linguistisch freien Umgang mit der Materialität der Sprache am weitesten fort.
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Mit der formalen und sprachlichen Modernisierung in den 50er Jahren öffnet sich die finnischsprachige Dichtung auch neuen Sujets. Sie ist nun offen, historische, auch ökonomische Zusammenhänge aufzunehmen. Diese Lyrik beschränkt sich nicht darauf, subjektive Stimmungen zu erwägen, vielmehr gibt sie sich als Modus, in dem man über mehr als nur die eigene Befindlichkeit sprechen kann.
Auch diese Tendenz setzt sich in der aktuellen finnischen Dichtung fort. Viele Gedichte sind weit- und geschichtshaltig, ganz gleich, ob ihr Interesse eher philosophischer, psychologischer oder soziologischer Natur ist. Und selbst in die intimste Betrachtung können kulturgeschichtliche Elemente einfließen. Persönliche Erinnerung und kollektives Gedächtnis sind miteinander verschaltet.
Heute tut sich in der Dichtung Finnlands ein weites Spektrum lyrischer Sprechweisen auf, Vielfalt und Individualität drängen sich als naheliegende Stichworte auf, wie auch die in diesem Band versammelten Texte bestätigen. Will man eine Gemeinsamkeit nennen, dann vielleicht diese: Die finnischen Dichter nehmen die Poesie als gültiges Medium der Erkenntnis ernst. Sie liefern nicht einfach schöne Bilder ab, sondern wollen, daß nach dem Gedicht alles einen Hauch anders ist als zuvor.
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Gemessen an der Größe des Landes, an der Bevölkerungszahl, erscheinen in Finnland alljährlich erstaunlich viele Gedichtbände. Die Szene ist lebendig. Es gibt sogar einen landesweiten „Club der lebenden Dichter“, gegründet von jüngeren Poeten, die sich zum Ziel gesetzt haben, noch mehr für die Verbreitung von Gedichten zu tun.
Anders als in Deutschland sind in Finnland Lesungen mit Prosaschriftstellern sehr selten. Wenn es eine öffentliche Lesung gibt, dann werden Gedichte gelesen. Dem finnischen Publikum käme es nachgerade grotesk vor, sich in aller Öffentlichkeit aus einem Roman vorlesen zu lassen, aber sich Gedichte vorsprechen zu lassen, das hat man gern.
Im Finnischen Rundfunk gibt es eine beliebte Sendereihe mit dem Titel „Dieses Gedicht möchte ich hören“ – eine Art lyrisches Wunschkonzert, bei dem sich Hörer bestimmte Gedichte wünschen. Man könnte fast meinen, hier noch Spuren der langen mündlichen Dichtungstradition zu begegnen, oder der in der Kultur verankerten Neigung, vom gesprochenen, dichterischen Wort magische Kräfte zu erwarten. Immerhin ist der finnischen Kultur das Schamanistische nicht fremd, und im Schöpfungsmythos des Nationalepos Kalevala werden die Bestandteile der Welt ins Dasein gesungen.
Auf jeden Fall darf in Finnland vom Gedicht etwas erwartet werden, die Poesie wird als eine ständig im Wandel begriffene Landschaft aufgefaßt, in der sich zu bewegen man nicht müde wird.
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Die hier vertretenen finnischen Dichter verfolgen nicht die Absicht, einmal gewonnene Erkenntnis zu zementieren. Ihr Dichten ist eher ein Prozeß des Fragens, ein Befragen der Erinnerung, ein Abbilden von Gedankenbewegungen, ein Herzeigen von Assoziationen und Phantasien. Ihre Gedichte sind voller Bewegung, sie sprechen vom Werden und von der stets nahen Möglichkeit der Veränderung.
Mirkka Rekola dringt in ihren Gedichten bis hinter die scheinbar festgefügten Muster der Welt vor und zeigt, wie alles in Bewegung geraten kann, welche überraschenden Zusammenhänge entstehen können.
Annukka Peuras Texte geraten durch das Wechselspiel von starkem Empfinden und Intellektualität in Bewegung. Ein Gefühl kann eine Überlegung in Gang setzen, eine Erkenntnis ein Gefühl auslösen. Dabei greift die Dichterin oft weit in die Geschichte zurück, ihre Gedichte besitzen ein großes kulturelles Gedächtnis.
Jouni Inkala setzt an oft einfachen Ausgangspunkten Gedankenbewegungen in Gang, die über die Zeilen hinwegfließen und am Ende nicht selten in ein überraschendes Bild münden. Man folgt dem meditativen Rhythmus wie durch ein Labyrinth, das zu einem Aussichtspunkt führt.
Agneta Enckells klangvolle lyrische Partituren setzen oft abrupt und wie aus dem Nichts ein, sie folgen keiner einfachen Linearität, sondern nutzen die Grammatik der Fläche, um Wahrnehmungen und Zustände in der Vielfalt ihrer Brisanz aufzufächern.
Anni Sumari schreibt über die Bedingungen, unter denen wir leben. Ihre oft weiträumigen Gedichte sind voller Sprünge zwischen den Stilebenen, große Worte werden von alltäglichen Bemerkungen kommentiert und konterkariert.
Die Lyrik von Pentti Saaritsa schließlich erhält ihre Dynamik durch das nie abgeschlossene Bemühen, die Essenz des Daseins zu erfassen, durch das ständige Werden der Gedanken und Worte, die, kaum daß sie Gültigkeit erreicht haben, wieder überdacht werden wollen.
In all diesen Formen dichterischer Bewegung finden sich immer wieder Momente und Orte höchster Klarheit, helle Konstellationen, in denen sich das Licht vielfach bricht. Als wäre ein Anliegen all diesen Dichtern gemein, die Suche nach dem dauerhaften Wort, der Wunsch nach der „Heimkehr in den Kristall“.
Stefan Master, Nachwort
Informationsseite für Poesie der Nachbarn
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