TRÄGE EWIGKEIT
Hätte der Herr die Eintagsfliege mit menschlicher
aaaaaPhantasie
beschenkt (geschlagen?), hätte sie wohl plötzlich, im
aaaaaNu des
Erkennens eine auch für die Schildkröte lesbare
aaaaaFormel für
Leben gefunden: träge Ewigkeit, besonders schwer
aaaaazu tragen
in den späten Nachmittagen der Jahrhunderte.
Iwan Zanew
nachgedichtet von Gregor Laschen
Die Übersetzung eines dichterischen Werkes erinnert mich an ein Fenster, in dem die Bilder von der Straße sich mit der Spiegelung der Gegenstände im Zimmer vermengen. Sie ist ebensosehr ein Werk des Autors wie des Übersetzers.
Atanas Daltschew
Daltschew, im deutschsprachigen Raum zuerst durch die Nachdichtungen von Erich Arendt, Adolf Endler, Uwe Grüning und Norbert Randow – der auch die Prosa-Fragmente Daltschews übersetzte – bekannt geworden, hat sich angelegentlich, nicht systematisch, aber immer entschieden zum Problem der literarischen Übersetzung, naturgemäß vor allem zum Problem der Übertragung von Gedichten geäußert – und das auch im Sinne der Konzeption, die das Projekt POESIE DER NACHBARN – DICHTER ÜBERSETZEN DICHTER seit 1989 unternimmt, etwa wenn er notiert:
… das Signalement für den künstlerischen Wert einer Übertragung liegt in ihrer Selbständigkeit: sie stellt uns durch sich selbst zufrieden…
oder wenn er die interpretatorische, kommentierende Übertragung zurückweist:
… der Übersetzer darf in seine Übersetzung keinen Kommentar aufnehmen. Er muß dessen eingedenk sein, daß er (nach-)schafft, nicht aber erklärt.
(Im übrigen verweise ich den Leser dieses Vorsatzes auf die entsprechenden Notizen in den in dieser Reihe vorliegenden Bänden zur Poesie Dänemarks, Ungarns, Islands und der Niederlande, wo der Spiel-Raum des Konzepts zwischen mehr wortgetreu-gebundener Übertragung und Nach-Dichtung auf freierem Versfuß schon wiederholt verdeutlicht wurde.)
Iwan Zanew hat das Gedicht „Verwundetes Sonett“ geschrieben, das nicht nur eine eigene dichterische Arbeit und die seiner bulgarischen Kollegen in diesem Band meint, sondern Funktion und Befindlichkeit von Poesie überhaupt – und die in diesem Jahrhundert besonders:
VERWUNDETES SONETT
… und der jambische Versfuß ist häufig der Anfang vom Krieg…
Nikolai Sajakow
Wenn du nachhauskommst, zurück als Sieger,
hinter dir her wimmern die jambischen Krieger, du
aber, mit dem Kranz aus Verlusten, gehst über die Straße,
hast geschmeckt die Scham aus allen Niederlagen
Wohin denn bist du heute, was hast du denn gesucht,
ohne Waffe unter den MenschenTieren,
so trägt der zarte Igel des Schmerzes, o Dichter,
die Wolke aus Pfeilen auf seinem Rücken
hat so bewahrt eine Metapher vorm Sterben doch,
aber um welchen Preis, um welche Mühsal und wer
wird morgen deine eignen Narben schützen,
wird dich am Ende dann der Nacht Liebkosung finden
nach all den Antworten, dem Dunklen entwunden, wird
dir der Tag dann eine Unzahl Wunden schlagen, strahlende.
Ich danke allen, die die Begegnung mit den hier versammelten Stimmen aus der bulgarischen Poesie von heute ermöglicht haben: meinen bulgarischen und deutschen Dichter-Freunden; Norbert Randow, der die deutschen Interlinear-Versionen der Gedichte bereitstellte und den interpretatorischen Spiel-Raum für Nachdichtung so fachkundig während und auch nach der Begegnung mit den bulgarischen Kollegen „offen“ hielt; Franz Bernhard für seinen schönen „Bildtext“ zu diesem Buch – und erneut Johann P. Tammen für die redaktionelle Betreuung. Und besonderen Dank – wie immer – an Ingo Wilhelm und seine Mitarbeiter Ulrike Thelen, Stefanie Lohnes und Volker Beyer, die über die Jahre hin dieses Projekt mit nicht nachlassender Fachkundigkeit und Anteilnahme begleiten, auch allen anderen, die geholfen haben.
Beiseite gesprochen: Die Resonanz auf diese seit 1988 im Künstlerhaus Edenkoben arbeitende Poesie-Übersetzungswerkstatt bei deutschen und ausländischen Dichtern, in der Kritik und bei Verlagen (Fortführung der durch uns begonnenen Arbeit) wächst beharrlich und stets genauer. Diese Arbeit wird als eine besondere und eine dem Gegenstand, dem Gedicht, besonders angemessene erfahren und gewürdigt. Auch hat sie inzwischen dazu geführt, daß – gleichsam als Revanche – Ausgaben der beteiligten deutschen Dichter nach eben diesem Konzept zum Beispiel in Island und in Bulgarien erschienen sind.
POESIE DER NACHBARN: Der nächste Band in der Reihe stellt Dichter aus Italien vor.
Gregor Laschen, Vorwort
In den Rhodopen, dem schönsten, dichtbewaldeten Gebirgszug Bulgariens, hat nach klassischer Überlieferung die abendländische Lyrik ihren Ursprung genommen. Hier empfing Orpheus, ein thrakischer Königssohn, von Apollon als Geschenk eine siebenseitige Lyra. Von ihr – der Leier – ist unser Wort Lyrik abgeleitet. Zur Lyra wurde gesungen, was, im Gegensatz zur epischen, als lyrische Dichtung bezeichnet wurde. Orpheus fügte seiner Leier noch zwei Saiten hinzu und sang als erster Sterblicher zu ihr lyrische Lieder. Von seiner Stimme und seinem Spiel wurden Tiere und Bäume, wurden die Felsen bezaubert, und selbst Pluton und Persephone wurden davon so überwältigt, daß sie der abgeschiedenen Eurydike die Rückkehr aus der Unterwelt gestatteten. Seitdem ist, welche Völker auch immer diese Region besiedelten, die lyrische Dichtung hier heimisch geblieben. Die einstigen Vorbewohner gingen im Laufe der Zeit in den zugewanderten Völkern auf und vermittelten so den Zusammenhang mit der thrakisch-griechischen Kulturwelt. Die heutigen Bulgaren, eine ethnische Synthese aus drei heterogenen Völkerschaften – den gräzisierten Thrakern, den seit der Völkerwanderung hier ansässigen Slawen und den im siebenten Jahrhundert aus Asien gekommenen Protobulgaren – sind seit über tausend Jahren Herren dieses Landes, auch wenn sie fast die Hälfte der Zeit (von 1396 bis 1878) unter dem Joch der einstigen islamischen Supermacht, des Osmanischen Imperiums, leben mußten.
Die höchste dichterische Leistung, zu der die Bulgaren während des halben Jahrtausends der Fremdherrschaft und der Isolation gegen das übrige christliche Europa gelangten, waren ihre Volkslieder. Mit den tief innerlich verarbeiteten Elementarerlebnissen, wie sie darin von Sprache und Melodie gleichermaßen gestaltet wurden, steht ihr stark betonter rhythmischer Ausdruck in engstem Zusammenhang. Für die komplizierte Rhythmik der bulgarischen Volkslieder zeugt vor allem ihre asymmetrische Taktart, die von Bála Bartók ausdrücklich als „Bulgarische Taktart“ bezeichnet wurde. Sie tritt nicht nur in den Melodien, sondern auch im Sprachrhythmus der bulgarischen Volkslieder zutage.
Christo Botew, in dessen zwanzig leidenschaftlichen Gedichten die Seelenlandschaft der Bulgaren einen unverwechselbaren Ausdruck gefunden hat, darf vielleicht gerade deswegen als Vollender des bulgarischen Volksliedes betrachtet werden. In einer bemerkenswerten Untersuchung über „Botew und das Volkslied“ gelangte Atanas Daltschew, von dem noch die Rede sein wird, zu bedeutsamen poetologischen Erkenntnissen.
Daltschew spricht von dem gewissermaßen „sprachimmanenten Rhythmus“ des bulgarischen Volksliedes und sieht eine der Ursachen dafür in der Zäsur. Die teile den Vers in kürzere und beweglichere Teile, bereichere ihn um ein zusätzliches Element, die Pause, und bewirke so einerseits eine Folge von Wörtern und stummen Intervallen und andererseits eine Folge gleich langer sprachlicher Elemente. Die Zäsur sei die Schlagader, in der der Rhythmus des Volksliedes pulsiere, und diese Ader nähre auch Botews Vers. Für ihn sei die Zäsur das wesentlichste aller metrischen Elemente.
„Die Zäsur“, so Daltschew, „teilt den Vers in zwei gleiche oder ungleiche Teile. Botew geht noch weiter: Er kompliziert dieses Prinzip und setzt zwei, ja drei Zäsuren. Die von der Zäsur in einem zehn- oder achtsilbigen Vers gebildeten zwei Hälften unterteilt er jeweils noch einmal und gelangt schließlich zum Wort als Grundelement, das bei ihm auf diese Weise zu einer Art metrischem Atom wird.
Das schlagendste Beispiel für dieses Phänomen stellen die folgenden Verse aus dem Gedicht „Die Erhängung des Wassil Lewski“ dar:
Гарванът граче грозно, зловещо.
Псета и вълци вият в полята,
Старци се молят Богу горещо,
Жените плачат, пищят децата.
Зимата пее свойта зла песен,
Вихрове гонят тръне в полето.
Der Rabe krächzt häßlich, schaurig.
Hunde und Wölfe heulen auf den Feldern,
Greise beten heiß zu Gott,
Die Frauen weinen, es schreien die Kinder.
Der Winter singt sein böses Lied,
Sturmwinde treiben Disteln übers Feld.
Diese Abteilungen sind nicht künstlich. Wer ein einigermaßen ausgeprägtes Gefühl für Rhythmus besitzt, kann nicht umhin, diese Verse so zu lesen, wie sie hier graphisch unterteilt sind. Es ist der komplizierteste und machtvollste Rhythmus, den unsere Dichtung kennt. Und der am meisten nationale. Etwas Ähnliches läßt sich lediglich in den Volksliedern nachweisen. Nirgends sonst ist bei uns eine solche Kraft und Tiefe erreicht worden. Die Verse klingen wie eine furchtbare Totenklage auf das Firmament. Die ,Sturmwinde‘ fauchen gleichsam durch den Spalt der Zäsuren und lassen uns das Blut in den Adern gefrieren. Jedes Wort, abgeteilt, betont, erlangt schicksalhafte Bedeutung und bleibt unserem Gedächtnis für alle Zeiten eingeprägt.“
Diesen Rhythmus, so fährt Daltschew fort, habe Botew nicht gesucht, sondern er sei seinem Herzen unmittelbar entströmt, so wie es beim Volkslied der Fall sei. In diesem Sinne seien sämtliche Gedichte Volkslieder, es seien die schönsten bulgarischen Volkslieder.
Der Zusammenhang zwischen Botews Dichtung und dem Volkslied ist ein realer, kein literarischer… Botew und das Volkslied sind Zeitgenossen oder genauer, er ist sein letzter Herold, ist sein Vollender.
Höchster Ausdruck des nationalen Sprachgenius, wird Botews Dichtung daher immer nur in ihrer eigenen Sprache wahrhaft nachempfunden werden können. Er ist bis heute der ohne jede Einschränkung größte Dichter, den das Land hervorgebracht hat. Achtundzwanzigjährig, fand er 1876 an der Spitze einer Freischar im Kampf gegen die Türken den Tod.
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Mit der Befreiung von der osmanischen Fremdherrschaft im Gefolge des russisch-türkischen Krieges 1877–78 begann für Bulgarien ein neuer Abschnitt in seiner Geschichte. Politisch, wirtschaftlich und kulturell suchte und fand es in kürzester Zeit den Anschluß an die moderne westeuropäische Entwicklung. Die Dichtung stand zunächst ganz im Zeichen Iwan Wasows, der als treuester Dolmetsch seines Volkes in Vers und Prosa allem Ausdruck verlieh, wovon es während der ersten vier Jahrzente seines selbständigen nationalen Daseins bewegt wurde. In einem lyrischen Werk von erstaunlichem Ausmaß erprobte er mit feinem Gespür für den natürlichen Klang der Sprache alle metrischen Techniken und erschloß der bulgarischen Poesie so ihre reichen sprachlichen Möglichkeiten. Er ist damit zum eigentlichen Schöpfer der bulgarischen Verskunst geworden.
Lange Zeit war es das Land Bulgarien, das im Ausland das Interesse auch für seine Literatur erwecken mußte. Erst nach der Jahrhundertwende hat sich das Bild gewandelt. Große Dichter wie Pentscho Slawejkow und Pejo Jaworow, zwei deutlich vernehmbare Stimmen im Ensemble der europäischen Dichtung ihrer Zeit, konnten für sich bestehen. Ihre Werke wurden bereits zu Lebzeiten in mehrere Sprachen übersetzt, und ihr Einfluß ist in der bulgarischen Poesie bis in unsere Tage zu spüren.
Der erste Weltkrieg machte der „Welt von Gestern“ auch in Bulgarien ein Ende. Slawejkow war überdies bereits 1912 gestorben, Jaworow schied zwei Jahre später aus dem Leben, und Iwan Wasow starb 1921. Unter der Wucht der durchlebten Katastrophen, der beiden Balkankriege, des anschließenden Weltkrieges sowie der darauffolgenden sozialen Erschütterungen, bildete sich in Bulgarien ein gänzlich neues Realitätsbewußtsein heraus, das auch eine neue ästhetische Sicht mit sich brachte.
Symbolismus und Neoromantik, die vor dem ersten Weltkrieg in der bulgarischen Poesie dominierten, machten einem illusionslosen Realismus Platz. Die in ihrer Langzeitwirkung wichtigste Schlüsselfigur der jungen Generation, die in den zwanziger und dreißiger Jahren eine Erneuerung der bulgarischen Poesie durchsetzte, war Atanas Daltschew. In seinen Gedichten trat die Welt aus ihrer Unbestimmtheit hervor, die gewöhnlichen Dinge des Alltags gewannen Konturen, ihre Abgenutztheit und Vergänglichkeit wurde deutlich wahrnehmbar. Dabei erlangte sein Blick eine philosophische Tiefe, wie sie in der bulgarischen Dichtung zuvor unbekannt war.
Die Zwischenkriegszeit in Bulgarien war reich an dichterischen Begabungen. Ihre stilistische und weltanschauliche Vielfalt mag durch Namen wie Christo Smirnenski, Geo Milew, Nikolai Marangosow, Elisaweta Bagrjana und Nikola Wanzarow angedeutet sein – um nur einige von denen zu nennen, die auch durch deutsche Übersetzungen bekannt geworden sind.
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Das totalitäre Regime, das in Bulgarien nach dem Ende des zweiten Weltkrieges zur Herrschaft gelangt war, schränkte, vor krudesten Methoden dabei nicht zurückschreckend, die künstlerische Freiheit empfindlich ein. Erst nach 1956, als nach der Anprangerung der stalinistischen Verbrechen auf dem 20. Parteitag der sowjetischen kommunistischen Partei im kulturellen Leben der Sowjetunion ein gewisses „Tauwetter“ einsetzte, lockerte sich auch der Druck der kommunistischen Partei in Bulgarien. Er konnte sich jedoch jederzeit wieder verstärken, und das geschah auch, sobald etwas freiere oder ungewohnte Töne laut zu werden begannen.
Das erfuhren beispielsweise Konstantin Pawlow und Nikolai Kyntschew. Pawlow durfte nach seinem zweiten, 1965 erschienenen Gedichtband nahezu zwanzig Jahre lang kein Gedicht mehr veröffentlichen. Ähnlich erging es Kyntschew: auch er durfte nach seinem zweiten Gedichtband, der 1968 herauskam, mehr als ein Jahrzehnt lang außer Übersetzungen und Kinderversen keinen eigenen Gedichtband mehr veröffentlichen. Beide Dichter wurden bezichtigt, schädliche und unverständliche Gedichte zu schreiben. Pawlow stellte allerdings, nicht selten satirisch, eine absurde Welt mit adäquaten Mitteln dar. Daß diese seine Gedichte unverständlich seien, konnte nur behaupten, wer sie nicht verstehen wollte, weil er sich weigerte, die Absurdität selbst als solche wahrzunehmen.
Kyntschew schlägt mit seinen Gedichten eine „Brücke zwischen Ufer und Abgrund“, er stößt mit ihnen in poetisches Neuland vor. Es ist vielleicht nicht jedermanns Sache, ihm dahin zu folgen. Warum auch sollte ihm jemand folgen, der befürchten muß, sich und sein festgefügtes Weltbild in Frage gestellt zu sehen? Insofern waren die Veröffentlichungsverbote, vom Standpunkt des totalitären Machtapparates aus betrachtet, durchaus verständlich.
Iwan Zanew debütierte um etwa die gleiche Zeit wie Pawlow und Kyntschew, von der offiziellen Kritik unfreundlich beargwöhnt. Auf dem von Daltschew eingeschlagenen Weg wandte er sich den einfachen und konkreten Dingen zu, um sie mit dahinterliegenden, unsichtbaren Sinnträgern zu verbinden. Daraus ergibt sich ihm das Wunder, dieses Herzstück seiner Poesie.
Auch Boris Christow besitzt etwas von der Sicht Daltschews auf das Gewöhnliche und Unscheinbare, doch einen Sinn dahinter zu finden, versagt ihm seine Skepsis. Bisweilen hat man den Eindruck, als lasse er sich in einen Dialog mit Daltschew ein. Doch Christows Dichtung ist existentialistisch im Sinne von Camus. Es ist nur natürlich, daß der Aussteiger, der als einziger seine Identität zu wahren weiß, zu einer Zentralfigur seiner Gedichte wird. Die größte Skepsis aber bringt Christow dem Wort entgegen, auch dem dichterischen. Schweigen ist daher die Konsequenz seines künstlerischen Suchens.
Die bulgarische Literatur, in der die Frauen einen sehr viel größeren Raum in der Lyrik besetzt halten als in der Prosa, weist kaum drei unterschiedlichere Frauencharaktere auf als Blaga Dimitrowa, Mirjana Baschewa und Mirela Iwanowa. Drei verschiedenen Generationen angehörend, gestalten sie in ihren Gedichten die Grunderlebnisse, von denen sie als Angehörige ihrer jeweiligen Generation geprägt wurden:
Blaga Dimitrowa ihre schmerzhaft errungene Befreiung aus der illusionären Vorstellungswelt der Nachkriegszeit, als sie in jugendlichem Enthusiasmus mit Gedichten über Georgi Dimitrow debütierte. Mit ihrem leidenschaftlichen Gewissen, das sich, wo auch immer, gegen Unrecht und Gewalt auflehnte und schließlich den Kampf aufnahm gegen die Lüge des sich immer tiefer in sie verstrickenden totalitären Regimes, ist sie den Weg, den Bulgarien seit dem Krieg bis heute zurückgelegt hat, mit allen Höhen und Tiefen selbst gegangen. Sie war daher wie kaum jemand befähigt, das zweithöchste Staatsamt zu bekleiden, das Bulgarien zu vergeben hat. Daß sie davon zurücktrat, um nicht mit gebundenen Händen zur Geisel geheimer Machenschaften zu werden, ehrt sie, wie sie das Amt geehrt hatte.
Mirjana Baschewa ist die „zornige junge Frau“ der bulgarischen Literatur. Hinter der provokativen Sprache, mit der sie in den siebziger und achtziger Jahren gegen eine immer mehr verknöchernde Gesellschaft zu Felde zog, verbarg sich ein verletzliches und oft verletztes Herz. Mit geradezu destruktivem Pathos macht sie verächtlich, was sie rings um sich an Unlauterem wahrnimmt – vor der Wende und danach.
Und schließlich Mirela Iwanowa, die jüngste von ihnen, deren erster Gedichtband, 1985 erschienen, den bezeichnenden Titel Steinerne Flügel trägt. Sie bringt mit einer ihrem freien Naturell entsprechenden facettenreichen Poetik die Stimmungen der Generation zum Ausdruck, für die der Zusammenbruch des Totalitarismus und die Zeit danach die ausschlaggebenden Erlebnisse sind. Nicht nur für ihre Generation allein aber spricht sie, wenn es in einer Notiz von ihr zum neunzigsten Geburtstag Atanas Daltschews heißt: „Wahrscheinlich könnte ein jeder von unseren bedeutenden zeitgenössischen Dichtern – Hand aufs Herz! – den russischen Klassiker paraphrasieren und bekennen: ,Wir alle sind unter dem Regenschirm Daltschews hervorgekommen‘“, damit auf eines der bekanntesten Gedichte Daltschews anspielend.
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Und so schließt sich der Kreis, nicht nur hin zu der poetischen Leitfigur der modernen bulgarischen Dichtung, sondern auch ein größerer. „Ein für alle Male ist’s Orpheus, wenn es singt“, steht bei Rilke zu lesen. In einem ihrer schönsten Gedichte zeigt Mirela Iwanowa, daß auch Eurydike eine Stimme hat, mit der sie aus ihrem Schattendasein hinausbegehrt.
EURYDIKE
Ich will nicht zurück in die tote Frau – dreh dich nicht um.
Ich folge dir,
und doch – zu jäh ist die Hoffnung, wieder ein Antlitz
zu haben, eine Quelle im Wald, worin ich es schaue,
den Mond, meine Hände, auf die sein Licht mir herabfließt,
die kühle Umarmung des Grases,
deine heiße Umarmung, dreh dich nicht um.
Ich will kein Schatten unter den Schatten mehr sein,
nicht einmal der Schatten will ich sein,
der eingemauert lebt in deinem Klagelied.
Ich will nicht zurück in die tote Frau – dreh dich nicht um.
Glaub mir, ich folge dir,
du glaubst doch an die Worte und die Melodien,
mit denen du mich einst besungen hast und ins Leben eingeführt.
Ich bin meine Seele, du hörst keine Schritte,
aber ich folge dir.
Einzig der Liebe folgen die Seelen,
und doch – zu jäh ist die Hoffnung. Dreh dich nicht um.
Seine Tore öffnet weit der Tag,
dort schimmert die Quelle im Wald, der Horizont wird licht,
es strahlt der Vogel auf den Zweigen, ich folge dir,
deine heiße Umarmung,
die kühle Umarmung des Grases, dort ist es hell,
dreh dich nicht um, glaub mir, dort wirst du und dort werde ich sein,
die Melodien, die Worte, dreh dich nicht um,
ich will nicht zurück in die tote Frau –
dreh dich nicht um!
Lebwohl,
lebewohl,
lebewohl!
Norbert Randow, Nachwort
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