Christine Lavants Lyrik, im Abseits einer geographischen und kulturellen Provinz gewachsen, von Vorstellungen ländlich-katholischen Christenglaubens wie naturmagischen Volksglaubens durchtränkt, hat gleich bei ihrem Erscheinen die urbane Welt erreicht. Gleichwohl blieben Dichterin und Dichtung für viele, die die zeitgenössische Lyrik lesend verfolgen, ein „kurioser Fall“. So kann 30 Jahre später Joachim Kaiser sagen:
Christine Lavant ist eine Lyrikerin, von der jeder an Literatur Interessierte irgendwann, irgendwie einmal gehört hat, aber das heißt wirklich noch nicht, daß man die Künstlerin und ihre Werke kennt oder gar liebt.
Es ist heute wie damals nicht schwer, mit dem Vorlesen von Lavantgedichten einen intensiven Eindruck zu erzielen, und das wird vermutlich so bleiben. Aber auch ein faszinierender Kunsteindruck verblaßt, wenn er nicht bei wiederholtem Lesen bestätigt, durch wachsende Einsicht vertieft, durch Verstehen gesichert werden kann. Verstehendes Lesen hat sich bei vielen Lavantgedichten als schwierig erwiesen; nur bei behutsam versuchendem Vorgehen „begreift“ man schließlich, was unmittelbar „ergreift“ – ich nutze die Staigersche Formel, um die Phasen des sympathischen Anerkennens und des explizierbaren Erkennens zu unterscheiden, die beim Lesen eines Lavantgedichtes manchmal weit auseinanderliegen.
Es gibt erst wenige wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit dem Gedichtwerk der Lavant auseinandersetzen. Ich hebe die Monographie von Johann Strutz (1979) hervor, die erstmals das lyrische Gesamtwerk vorstellt, und den Index von Paola Schulze Belli (1980), ein für künftige Forschungen unentbehrliches Hilfsmittel, und verweise im übrigen auf die Bibliographie in diesem Band.
Arbeiten solcher Gründlichkeit und solchen Aufwandes wie die genannten werden nur wenigen Dichtern gewidmet, und sie lohnen sich auch nur bei wenigen. Für Celan, den vielleicht bedeutsamsten deutschsprachigen Lyriker der Jahrhundertmitte, gibt es davon ungleich viel mehr. Das Ungewöhnliche im Fall der Kärntnerin ist aber, daß die Wirkung von Gedichten, die Gegenstand subtiler und geduldiger Erkenntnisbemühung sind, nicht auf Kenner beschränkt bleibt. Ihre Gedichte erreichen auch andere als intellektuelle Hörer und Leser aus drei Gründen:
1. Die Dichterin schöpft aus Anschauungen der heimatlichen Natur und des dörflichen Lebens, und ihr Wort- und Bildmaterial überschreitet nie die Grenzen dessen, was ein kluger, aber durchaus ungelehrter Mensch kennen kann. (Bildungswissen kann sich sogar angesichts dieser Beschränkung als Hindernis erweisen: wer sich überlegen fühlt, hört nicht mehr gut zu.)
2. Die Dichterin nutzt, außer biblischen und märchenhaften Bildern, in hohem Maße bildliche Vorstellungen der Umgangssprache, die in Sprichwörtern und Redensarten Allgemeingut sind. Sie geht damit allerdings so eigenwillig um, daß manchmal ein Befremdungsschock das Wiedererkennen begleitet.
3. Die ungewöhnliche Weise, wie Christine Lavant Worte zu Bildern und Bilder wieder mit anderen Bildern verknüpft, wird leichter und früher sensitiv als rational aufgefaßt.
Gedichte solcher Art zu interpretieren erfordert ein auf den Ton hörendes, auf die erzeugten Bilder hinschauendes Lesen, das den sensitiven Gesamteindruck zum Prüfstein der Verstehensfortschritte im Einzelnen macht. Ich will am Beispiel einer dominant emotionalen und einer dominant rationalen Rezeption eines Gedichts das Gemeinte erläutern.
Scharr mein Tödlein aus dem Sand,
Mond, und leg es auf dem Rand
meines Bettes nieder!
Sieben Mutterlieder
gehen schon auf meiner Zunge
rund herum und in der Lunge
pfeift der Atem leise mit.
Geh doch einen Schritt
ab von dem genauen Wege,
grab mein Tödlein aus und lege
seine Wange an die meine!
Jede Nacht, die ich verweine,
stiehlt ja dir, dem Zeitenbringer,
nutzlos unterm kleinen Finger
große Stunden fort:
Stunden, die sich selbst zerschlagen,
und sie könnten Rosen tragen,
wenn ich Wort für Wort
von dem Mutterlieder-Segen
dürfte um mein Tödlein legen,
bis es sanft in meinen Armen
wachsen würde und erwarmen.
Eine Frau, die dieses Gedicht während eines Seminars erstmalig hörte, eröffnete das Gespräch mit der spontanen Bemerkung: „Was für eine Sehnsucht nach einem Kind!“ Ihre Reaktion machte bewußt, daß die Todessehnsucht nichts anderes ist als Sehnsucht nach Leben, das nicht gelebt werden kann. Der zärtliche Name und die Wunschvorstellung des Kindes am Bett, an der Wange und im Arm der singenden und segnenden Mutter drängt tatsächlich fast zurück, daß hier eine kranke Frau von ihrem Tod spricht.
Der Mond ist Hahn oder Huhn auch in anderen Gedichten. Hier entsteht eine solche Anschauung ohne Nennung aus dem ersten Satz: „Scharr mein Tödlein aus dem Sand, Mond…“. Dieses Ausscharren kann empfunden und verstanden werden als Umkehrung des Eingrabens beim Begräbnis; deutlicher wird das in der abgeänderten Wiederholung der Zeile: „grab mein Tödlein aus…“. Das Wachsen des Keimes Tod ist ja zugleich das Zugrundegehen der Frau mit dem pfeifenden Atem, und das Erwarmen dieses Kindleins bedeutet für seine Mutter das Erkalten.
Das Gedicht ist allegorisch gedeutet worden: Sand als Schlaf, das Tödlein als das noch ungeborene Gedicht. Ich halte diese Deutung für zulässig, aber für nicht vom Gedicht selbst her begründbar; vor allem habe ich Bedenken, das Gedicht als intentional allegorisch zu verstehen. Warum soll man den Mond als „Zeitenbringer“ für Gedichte deuten, wenn im Kontext verweinter Nächte und ihrer nutzlosen großen Stunden ein viel einfacheres Verstehen sich anbietet? Nämlich daß die Sehnsucht sich auch auf die Liebe richtet, die ein Kind wünschen und entstehen läßt. In Zeile 17 scheint diese Empfindung vorzudrängen mit einem schlichten Ausdruck: Rosen bedeuten in Volksliedern mit redensartlicher Selbstverständlichkeit: Liebesglück. Liest man den konjunktivischen Satz als kurzen Ausbruch eines hoffnungslosen Liebeswunsches, der sofort wieder hinter der Mutterphantasie sich verbirgt, ist die eine Zeile (die aus kritischer Distanz schwach, fast süßlich erscheinen kann) als bewegender Ausdruck in ein damit reicheres Ganzes integriert.
Nicht jede fürs Gesamtwerk aufschlußreiche These ist es auch für das individuelle Gedicht. Meine These vom als ambivalent erfahrenen Gott hat mich z.B. irregeführt bei der Interpretation von „Du bist da!…“. Die Zeilen 21-23 lassen sich nicht auf Gott beziehen. Liest man das Gedicht aber mit der Hypothese einer erlebten Inkonsistenz leidenschaftlicher Liebe mit ihren Zuwendungen und Abwendungen, sind nicht nur jene Zeilen integrierbar: das ganze Gedicht bekommt eine neue Qualität von Nähe. Die erschreckende Erfahrung berührt als zwischenmenschliche stärker, jedenfalls allgemeiner denn als mystische Erfahrung, weil sie nämlich deren Totalität behält. Das ist die Leistung jener Doppeldeutigkeit, die das Lavant’sche Du in manchen Gedichten hat.
Beim Übersetzen der Fremdsprache dieser Landfrau tut man gut daran, eigene bildungsbedingte Vorverständnissse in hohem Maße korrekturbereit zu halten und sich auf konkrete Anschauungen und bekannte tradierte Bilder und Geschichten einzustellen, (− das Raffinement liegt in deren Verwendung und Verknüpfung). Eine natürliche Deutung sollte jedenfalls der allegorischen, eine sinnliche der spirituellen vorangehen. Das gilt auch für realistische Details in phantastischen Szenen, deren Anschaulichkeit oder Fühlbarkeit der Verstehensprozeß wahrnehmen sollte. Manche Metaphern in Christine Lavants Gedichten scheinen aus körperlichen Empfindungen hervorgegangen zu sein, und das Verstehen des Lesers läuft am sichersten über die Erinnerung oder Imagination solcher Körpergefühle. Ein Beispiel: Das Wort „Hungersterne“ kommt wiederholt vor. In folgendem Zitat bezeichnen sie eindeutig ein körperliches Phänomen:
… denn es steigen Funken
wie Hungersterne mir vom Weinen auf.
Jeder, dem schon einmal am hellen Tag schwarz vor Augen wurde, kennt diese tanzenden Sterne und den Zustand ohnmachtnaher Schwäche, der von einer körperlichen oder seelischen Erschütterung herrühren kann, auch von Erschöpfung durch Tränen, wie im Zitat, oder durch realen Hunger. Solche vom Hunger erzeugten „Sterne“ sind der Ursprung des Doppelwortes, das in andern Gedichten umfassendere und gewichtigere Bedeutung bekommt.
Das Gedicht, aus dem das obige Zitat stammt, hat einen anderen Bildschwerpunkt. Es ist einfach zu verstehen und gehört zu den Gedichten, die unbildlich das Liebesschicksal erkennen lassen, das dem Hauptwerk zugrunde liegt. Der „Abschied“, mit ungeheurer Wut imaginiert, wird mit grenzenloser Sehnsucht und Trauer erinnert (im hier bedachten Zusammenhang möchte ich die Aufmerksamkeit auf die mittlere Strophe lenken):
Wer wird mir hungern helfen diese Nacht
und alle Nächte, die vielleicht noch kommen?
Der runde Mond macht einen großen Bogen
weit von mir weg, ich bin ihm schon zu schmal.
So gerne ließe ich die Augen jetzt
wie Kieselsteine aus dem Fenster fallen,
daß ein Betrunkner, drunten auf der Straße,
sie tief hineintritt in den ersten Schnee.
Doch selbst als Blinde würde ich ja noch
von allem wissen und dich immer wieder
fortgehen sehen, denn es steigen Funken
wie Hungersterne mir vom Weinen auf.
Eine erschreckend konkrete Wunschvorstellung. Sie ergibt ein surreales Bild von großer Intensität, welches unmittelbare Empfindungen erschließt: daß Schmerz die Augen drückt, daß sie sich wund und hart fühlen, daß sie brennen und Kühlung brauchen, daß die Augen mit dem, was ihr Weinen auslöste, weggedrängt und vernichtet werden sollen, schließlich – Teil fürs Ganze – Selbstauslöschung.
Mit der Imagination eines Schmerzes hinter den Augen werden manche Metaphern empfindbar, die dem bloßen Nachdenken gesucht und manieriert erscheinen können, z.B. fortrollende Augen „in Igelbälgen“ oder das Wehtun „im Augapfelbeet, wo der Tod sich den Most holt“: hier, ein Bild aus der alten Landwirtschaft, der (Tod als) Knecht, der sich nach den zum Essen zu schlechten Äpfeln bückt, sein schmerzender Tritt auf dem (Augapfel-) Beet, der (Tränen-) Most (für den Tod): das ist Lavantsprache und das sind so genau gesehene wie gedachte Zusammenhänge.
Die zitierten Lesebeispiele sind kein Plädoyer für eine dominant emotionale Interpretationsweise. Nichts ist so notwendig bei der Vermittlung der Gedichte als Vernunft und Genauigkeit. Ein Mangel an rationalem Anspruch an die Dichtung und rationaler Kontrolle der eigenen Äußerung kann sich bei der interpretierenden Vermittlung von Lavantgedichten besonders fatal auswirken.
Wenn ich für verstehendes Lesen von Lavantgedichten die ständige Kontrolle der Vernunft durch das Gefühl für die Einheit des Gedichts empfohlen habe, so kann beim Handwerk des Interpretierens für jenes „Gefühl“ das Bewußtsein von der Einheit des Sprachkunstwerks eingesetzt werden. Damit ist auf die sehr begrenzte Tauglichkeit einer üblichen Methode literarischer Interpretation für Lavantgedichte aufmerksam gemacht. Das Aufsuchen rekurrenter Stellen: Sammeln und Sichten wiederkehrender Namenwörter und Bilder ist überall dort aufschlußreich, wo die Begriffssprache führt und die Metaphorik eine gewisse Konstanz hat. Das ist in Christine Lavants Gedichten nur sehr eingeschränkt der Fall (an Farbwörtern z.B. scheinen relativ konstante Bedeutungsqualitäten zu haften). Charakteristisch ist vielmehr, daß gerade die häufigen Wörter (Mond, Wind, Erde, Vogel, Kind, Baum, Brot…) in wechselnder Umgebung bis zur Gegensätzlichkeit wechselnde Bedeutung haben, so daß man bei der Sichtung derart zusammengestellter Belege allenfalls Ambivalenz, jedenfalls wenig spezielle Lavantmeinung finden, aber beliebig viel frei assoziieren kann. Der Ort, wo sich bei Lavant differenziert Verstehbares ereignet, ist das einzelne Gedicht. Die gestische, situationschaffende, bildgenerierende Gedichtsprache leistet, was sie speziell leisten kann, nur in der einzelnen Komposition. Zumindest für die Gedichte von überwiegender Bildlichkeit (ich vermute: für alle) gilt, daß es unerläßlich ist, sie immanent zu interpretieren. Ich halte dann die besten Gedichte für so rational verstehbar wie emotional empfindbar. Nur so lassen sich die guten Gedichte von den weniger oder nicht gelungenen unterscheiden auf eine Weise, die sich nicht nur auf den eigenen Geschmack beruft.
Kein Dichter, auch nicht der experimentierende und konstruierende, leugnet den Anteil des Unbewußten beim Zustandekommen eines Gedichts. Christine Lavant hat nie den Anteil des Bewußtseins geleugnet, aber „Zwingen kann man’s nicht“. Sie müsse ihre „Träume“ durchstehen, bis sie „klar“ würden. Die Leseerfahrungen gerade mit den Visionsgedichten lassen ahnen, was sie meint, wenn sie sagt, im Augenblick der Niederschrift seien „Kopf und Herz eins“. Es gibt solche Evidenz auch beim Verstehen, wenn, oft nach langem Lesen, die eine dunkle Stelle eines geliebten Gedichts sich klärt oder wenn eine neue Bedeutung sichtbar wird und das Ganze davon eine zusätzliche Schönheit gewinnt.
Ein Gedicht„traum“ ist, wahrscheinlich vom frühesten Entstehen an, worterzeugt, also nicht erst eine Vision, die dann beschrieben oder mit Wörtern nachgebaut wird. Sondern: mit dem rhythmischen Sich-fügen der Worte zu einer poetischen Ordnung klärt sich die Vision langsam heraus und die Spannung muß „ausgehalten werden“, bis das Ganze (d.h. jedes Wort an seiner Stelle) steht.
Ein Leser und Hörer, der mit Auge, Ohr und Vorstellungskraft das gestaltete Wortkunstwerk gleichsam abtastet, versteht solche Träume, wenn sie ihm „einleuchten“: Anschauung und Bildgedanke zugleich. Ich will versuchen, einen solchen Prozeß mit seinen Stufen wenigstens andeutend nachzuzeichnen.
Ein klarer und zugleich unausschöpfbarer Traum ist das Gedicht „Trau der Mannschaft deines Seglers zu“. Mit ihm begann meine Bewunderung Lavantscher Sprachkunst; sie wuchs mit dem Verstehen. (Bei einem großen Gedicht ist das Verstehen ein unabschließbarer Prozeß.)
Ich berichte vorweg von einer kleinen Episode aus meiner Lese-Erfahrung mit diesem Gedicht, weil man sie vielleicht als Beispiel dafür gelten lassen kann, was Christine Lavants Metaphern leisten und wie man lesend damit umgehen kann. – Lange Zeit hatte ich mit folgender Stelle Schwierigkeiten. Zunächst der engere Kontext:
Glaubst du denn, der Wind trägt dich dorthin
wo du hinwillst? Jeder Wind ist herrlich
und verwandt mit aller Teufelei.
Nun die Stelle:
Ach, für ihn bist du ein Taschenmesser,
das er einsteckt, ohne es zu merken,
wenn du durch und durch voll Vorsicht bist.
Wind, der ein Taschenmesser einsteckt? Und überhaupt: ein Taschenmesser unbewußt einstecken? – Ich suchte nach Funktionen des Messers, die sich auf den Angesprochenen übertragen ließen. Ich fand: „schneiden, trennen“, was im übertragenen Sinne „unterscheiden“ ergibt. Das paßte. Ich habe also Begriffe zu einem Sprachbild gesucht, das bei mir keine Anschauung auslöste, war mit dem Ergebnis gefühlsmäßig nicht ganz zufrieden – bis ich so einen Kärntner Feitel zu sehen bekam. Die Schneide läßt sich völlig spannungslos in eine Kerbe des rohen, gedrechselten Holzgriffs senken; dieses Messer kann man einstecken, ohne es zu merken. Jeder Holzknecht holt so einen Feitel hervor, wenn er einen Stecken zurechtschneiden will oder seinen Jausenspeck – und da „zündete“ das Sprachbild der Lavant, da sah ich den elementaren Wind einen Moment lang robuste Gestalt annehmen, kraftvoll und unberechenbar losstürmen, unbewußt das widerstandslose Messer einsteckend. So ähnlich muß es der Dichterin vor Augen gewesen sein. Diese Evidenz kommt zustande, weil alle Einzelheiten der Textumgebung passen: die „Kerle“, von denen vorher die Rede war, das abwinkende „ach“, das rauschhafte Gefühl ungezügelter Kraft. Die Ähnlichkeit dieser Wind-Gestalt mit der „Mannschaft“ führte zu weiteren Einsichten: da stürmte nicht nur die Kraft des äußeren Schicksals, sondern genau so des inneren Schicksals, die Leidenschaft.
Eine ähnlich konkrete Anschauung muß der anderen schwierigen Stelle dieses Gedichts zugrunde liegen:
Deine Mannschaft, die du bündeln willst,
und aus ihrem Rücken Riemen schneiden…
Früher wurden auf dem Lande Riemen für Schuhwerk oder Peitschen selbst erzeugt, und das Kind Christine konnte noch eine Anschauung davon bekommen haben, wie die Haustiere bis auf die Haut zweckvoll ausgenutzt wurden oder wie diese Haut in Bündeln zu Markte getragen wurde.
Ich habe vorgegriffen. Hören wir das Segler-Gedicht an, von dem Christine Lavant, die sich an die meisten ihrer Gedichte gar nicht mehr erinnert, gesagt hat: „Das hab ich sehr gern!“
Trau der Mannschaft deines Seglers zu,
daß sie tüchtig aus der Trunkenheit
aufstehn könnte, jeder einzeln aufstehn,
jeder noch bis übers Kinn besoffen,
aber hingehn und das Seine tun!
Zwischen Sternen, die zum Teufel gingen,
ist es herrlich, selbst den Beelzebuben
so im Leib zu haben wie die Kerle
deines gottverdammten Leichenkastens.
Glaubst du denn, der Wind trägt dich dorthin,
wo du hinwillst? – jeder Wind ist herrlich
und verwandt mit aller Teufelei!
Ach, für ihn bist du ein Taschenmesser,
das er einsteckt, ohne es zu merken,
wenn du durch und durch voll Vorsicht bist.
Deine Mannschaft, die du bündeln willst,
und aus ihrem Rücken Riemen schneiden,
schnitzt für dich aus einer Erdnußschale
noch ein viel zu großes Rettungsboot.
Hau jetzt ab samt deiner Nüchternheit!
Dieses Schiff wird nie verständig werden −
melde oben bei dem Bootsverleiher,
daß wir brüllend und das Maul voll Suff
seine Sterne aus der Hölle holen.
Das kann man auffassen, wie ein Kind ein Märchen hört: als eine dramatische Schiff-Szene mit Sturm und Meuterei. Eine aufrührerische Stimme, die die betrunkene Mannschaft verteidigt, jagt den Kapitän, der die Kontrolle über das Schiff verloren hat, vom Kommandostand. Am Schluß kommt noch der „Bootsverleiher“ in den Blick, der die Mannschaft mit einem solchen „Leichenkasten“ ins offene Meer geschickt hat.
Diese Szene entsteht aus einer wilden und fluchenden, zugleich sicheren und stolzen Rede, die sich in der letzten Versgruppe zu wüster Erhabenheit steigert. Mit der Schlußformel „seine Sterne aus der Hölle holen“ wird die Schiff-Szene durchsichtig für eine andere Verstehens-Ebene, die man schon vorher mehr oder weniger ahnen konnte.
Solange Menschen Meere befahren, haben sie auf dem Schiff beispielhaft erlebt, daß sie unbeherrschbaren Mächten ausgesetzt sind. Unsere Sprache kennt viele Wendungen, hinter denen die Vorstellung des Lebensschiffs steht: gestrandet sein, Schiffbruch erleiden, in den Hafen finden u.s.f. Christine Lavants „Segler“ im unwiderstehlichen Schicksalswind ist ein Mensch, der zu zerbrechen droht, dessen Einheit gefährdet ist. Das Ich als Segelschiff ist Schauplatz der dramatischen Handlung. Aus ihm spricht, in direkter Rede, der Mut der Verzweiflung. In der Katastrophe, die das Ich betroffen hat, richten Einsicht, Vorsicht und vernünftiger Wille, nüchternes Planen und Selbstbeherrschung nichts aus. Der Mut verläßt sich auf die Tüchtigkeit der unbewußten schöpferischen Lebenskräfte; im Notfall retten sie den Verstand vor dem Irrsinn. Es sind nicht nur trunkene, es sind auch „tüchtige“ Kräfte: sie können das Ihre tun, z.B. im Notfall ein Rettungsboot schnitzen. Das symbolische Boot aus Erd-Nußschale, das wirklich rettet: das ist die Kunst.
„Sterne aus der Hölle holen“ – Man versteht vieles besser, wenn man auf anklingende Bilder der Volkssprache achtet, die bei Christine Lavant meist überraschend genau und oft mit einer neuen Wendung verwendet werden. Hier potenzieren sich eine latente und eine zitierte Redensart, beide wörtlich genommen, in einer dritten. „Sterne vom Himmel zu holen“ verspricht wohl jemand im übermäßigen Glück der Liebe. Diese Sterne sind „zum Teufel gegangen“. Deshalb ist es nun notwendig, „Sterne aus der Hölle (zu) holen.“ Hier fühlt jemand im übermäßigen Unglück namenlose Kräfte wachsen und wendet die Not seines Leidens in schöpferisches Tun. Auch das ist Leben! Herrliches und Höllisches beherrscht das Ich, den „gottverdammten Leichenkasten“.
Die hier „den Teufel im Leib“ hat, spürt zugleich im Innersten etwas Himmlisches, nämlich daß sie sich am Leben erhalten kann in der „herrlichen“ Kraft zornigen Schaffens. Inmitten dieses fluchenden Gedichts liegt etwas von der Kraft der Selbstbehauptung, über die sie im Brief an Hilde Domin (vom 2.6.60) spricht, und von der Sicherheit eigenen Rechts, das sie in der „Feuerprobe“ behauptet. Auch die Deutungskontroverse „Gutes oder schlechtes Gewissen“ ist nur für einzelne Gedichte entscheidbar. Im Segler-Gedicht ist Poesie notwendiger und deshalb erlaubter Ausweg, Selbstverteidigung, Selbststärkung.
Vielleicht aber ruft das Gedicht diese Erfahrung von der Kraft der künstlerischen Selbstbehauptung überdies einem Du zu, das ähnlich gefährdet ist: „Trau der Mannschaft deines Seglers zu…!“ Dann wäre um so tiefer verständlich, warum die Dichterin gerade dieses Gedicht so geliebt hat.
Grete Lübbe-Grothues
− Grete Lübbe-Grothues: Leseerfahrungen mit Lavantgedichten
− Wolfgang Nehring: Zur Wandlung des lyrischen Bildes bei Christine Lavant
− Siegfried J. Schmidt: „aber nie bin ich sanft“ Bemerkungen zur Lyrik Christine Lavants am Beispiel dreier Gedichte
− Harald Weinrich: Christine Lavant oder Die Poesie im Leibe
− Beda Allemann: Die Stadt ist oben auferbaut
− Beatrice Eichmann-Leutenegger: „Die Närrin hockt im Knabenkraut…“
− Weyma Lübbe: Fromm oder unfromm? Zur religiösen Lyrik Christine Lavants
− Wolfgang Nehring: Zwischen Jesukind und Krüppelchen: Ein Frauenschicksal
− Grete Lübbe-Grothues: Christine Lavants „Hungerlieder“
− Mirko Križman: Die existentiellen Spannungen in der Dichtersprache Christine Lavants
− Christine Lavant – Hilde Domin: Briefwechsel
− Bibliographie
die „die unvergleichbare Dichterin aus dem Lavanttal“ (Hans Bender) für sich entdeckt haben und gelegentlich mit starken Worten („ein Wunder“, „beim Lesen Momente einer nie gewesenen Betroffenheit“) ihrem Staunen Ausdruck geben. Vereinzelt hat sich auch die Literaturforschung der Sprachkunst und Thematik von Christine Lavants Gedichten zugewandt; z.B. sind unabhängig voneinander in verschiedenen Ländern sprachwissenschaftliche Untersuchungen entstanden, die bezeugen, wie hoch die poesiesprachlichen Erfindungen der Lavantlyrik eingeschätzt werden.
Ein Konsens zwischen den einzelnen Aneignungen hat sich noch nicht gebildet, eher treten in Gesamtsichten gegensätzliche Auffassungen hervor, und ein Gespräch darüber gibt es kaum.
In dieser Situation ist die Hinwendung zum Einzelgedicht oder zu einer kleinen Gruppe verwandter Gedichte sinnvoll. Sie hilft, jenem Gespräch die Grundlage zu schaffen, dem kleinen Artefakt und seiner Bekundung möglichst gerecht zu werden und in der Vielzahl solcher Versuche verfrühte Hypothesenbildungen zu relativieren. In dieser Absicht sind die vorliegenden Interpretationen und Leseberichte zusammengestellt. Der angefügte Briefwechsel mit Hilde Domin gibt Einblick in Selbstdeutungen Christine Lavants.
Verstehendes Lesen von Lavantgedichten stellt Anforderungen an Empfänglichkeit und Intuition wie an analytische Anstrengung. Die Konfrontation mit Verstehensversuchen verschiedener theoretischer Begründung und Methode mag Gedichtleser anregen, eigene Leseerfahrungen zu versuchen und zu klären.
Otto Müller Verlag Salzburg, Klappentext, 1984
Silke Andrea Schuemmer: „Die Vormundschaft des Todes“
Franz Haas: Beten und das Kreuz zertreten
Neue Zürcher Zeitung, 4.7.2015
Carola Leitner: „Das verstümmelte Leben“
orf.at, 4.7.2015
Gisela Trahms: Thomas Bernhard fand sie gescheit und durchtrieben
Die Welt, 4.7.2015
Andreas Kohm: „Aber das Schreiben ist das Einzige, was ich habe“
Badische Zeitung, 3.7.2015
Gabriele Kögl: Christine Lavant: Der Sonnenapfel ist ein Lavanttaler
der Standart, 4.7.2015
Hubert Gaisbauer: Christine Lavant: „Gott, sag das nicht“
Die Furche, 2.7.2015
Arnold Mettnitzer: Zu Christine Lavant
ORF.at
Victor Strauch: Schriftstellerin aus armen Verhältnissen schuf bedeutende Literatur
Neue Zeit, 6.6.2023
Michael Swersina im Gespräch mit Franz Bachhiesl über Christine Lavant: „Ich traf sie regelmäßig auf meinem Schulweg in St. Stefan“
Unterkärntner Nachrichten, 7.6.2023
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