Grünbein / Oleschinski / Waterhouse: Die Schweizer Korrektur

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Grünbein / Oleschinski / Waterhouse: Die Schweizer Korrektur

Grünbein / Oleschinski / Waterhouse-Die Schweizer Korrektur

MEIN BABYLONISCHES HIRN

Gedichte? Nein, man erhält nicht zuerst einen Gegenstand, einen Stil, eine eigene Bildwelt, man wird, wenn die Stimme sich ihren Weg bahnt, zuerst mit einer Gehirnhelligkeit konfrontiert, mit der strahlenden Idiosynkrasie eines Menschen, der die Dinge nicht anders sehen kann als er sie sieht, den die Dinge nicht anders ansehen als in dieser besonderen Anordnung. Man begegnet der Willkür und dem Diktat eines persönlichen Dämons vom Typ des Sokratischen, der immer warnt, niemals tröstet und von dessen Einfluß nichts zeugt als die Fassung, nach der eine Stimme rang wie nach Atem. Nicht zu beweisen, läßt jeder Schreibakt sich nur auf die Reizbarkeit eines einzelnen Irrläufers zurückführen, auf seine Symptome, die immer zum Vorschein drängen, sosehr sie auch Anschluß suchen an Philosopheme, politische Ansichten, technische Standards. Selten so deutlich wie im Gedicht steht der Leser unverhofft dem Idiotischen gegenüber, dem einsamen Vorurteil, einer Folge zumeist wenig angenehmer Reflexe, mit denen ein Autor hineinpeilt in eine imaginäre Welt, die dem Außenraum standhalten soll. Irreduzibel, ist es zuletzt ein Vexierbild physiologischen Ursprungs, ähnlich dem Nervensystem, der Anatomie und dem Knochenbau. In ihm wird das Sprechen zurückgeführt an seine Grenze, werden die anekdotischen Momente von Gattungsleben und Icherleben in Anschauung verwandelt. Denn das Wort ist physischen Ursprungs, aber das Wort ist auch Psyche, wie Mandelstam sagt, und die Grenze verläuft zwischen den Hütern und den Verschwendern des Worts, nirgendwo sonst. Nur das innegewordene Wort schützt vor der erinnerungslosen Alltagssprache, es hält die Verbindung zum Einmaligen, zur Idiographie primärer Wahrnehmung. Im Gedicht drängt zuallererst sich das Schreckliche eines eingeschlossenen Subjekts auf, das mit ganzer Überredungskunst nach außen zu dringen sucht. Seine Schönheit beginnt als Verwirrung, Unzulänglichkeit, Engstirnigkeit, vielleicht böse, fast immer nervös sich äußernde Sinnlichkeit und endet als ein Maximum an Persönlichkeit, Esprit, Affekt, Vorlieben und Eigensinn…auf kleinstmöglichem Raum. Ihr Wahrzeichen war einmal Baudelaires grüne Perücke mit den Insignien der Langweile. Ihr Ideal heute, von dem sie nichts wissen muß, ist eine Gedächtnismaschine, präzis wie ein Insektenauge, eine Maschine zum Wiederfinden gelebter Zeit.

Denn Dichten beginnt als Schichtung zunächst ganz sinnloser Bewußtseinsstadien, durch die der Einzelne, mühselig oder tänzelnd, hindurchmuß, ohne Rücksicht auf Kausalitäten und Chronologien. Wo seine Sprünge ihn hinführen, kann ihm gleich sein, solange er glücklich die wenigen Bruchstücke festhält, die sein unbeherrschtes Bewußtsein ihm überläßt. So überwiegen die Risse im Illusionären, das Unversöhnte, in schockhafter Montage gefügte, doch in Metren, gleich welchen, schleppt sich auch Zeit mit, aufgeschobene Zeit, Zeit einer Höllenbesichtigung wie bei Dante, dialektisch hingehaltene Zeit, Zeit in der sich die Palimpseste entrollen, transhistorisch verortete Zeit…

Durs Grünbein, Auszug aus dem Anfang des Essays

 

 

 

BAUSTELLEN, WESPEN, ABENDGERUCH

Seit ich mich erinnern kann, haben Gedichte für mich etwas mit Bewegungen zu tun, mit gestischen Abläufen und körperlichen Impulsen, die eine Zeile, einen Gedanken nach außen öffnen, weg von mir und weg von seinem Ausgangspunkt. Gedichte – das wäre eine mögliche Beschreibung – gehen über Grenzen, von denen ich nicht weiß, ob ich sie überqueren kann. Manche dieser Grenzen liegen ganz nah; es sind die zufälligen und veränderlichen Grenzen meiner Person, meiner Biographie, meiner Erfahrungen. Andere Grenzen sind sehr viel ferner, schwerer zu bestimmen und schwerer zu erreichen: eine Spur von Schnee auf dem Dach eines japanischen Hauses, der offene Beinstumpf eines russischen Soldaten in Grosnyj, die Songlines der australischen Aborigines. Ich habe Angst, einem Gedicht über diese Schwellen zu folgen, jedesmal, aber in der Angst vibriert zugleich eine unbändige Lust, es zu tun. Gedichte entstehen aus Spannungen, die sich durch nichts anderes befrieden lassen. Auch das Gedicht löst sie nicht auf, sondern reagiert nur darauf. Ich laufe Tage, Wochen, Monate herum mit einem Ticken im Körper, das von einem winzigen, unwägbaren Stich in Gang gesetzt wird. Er kann von einem einzelnen Wort ausgehen, Milchtüten vielleicht, Warnblinkanlage, Fischmuskeleiweiß, und dann treibt mich das Ticken von Wahrnehmung zu Wahrnehmung, MMM-ilch-, Mil-chchch-, Mi-lllllchtüüü-: die Euro-Aufschriften auf diesen Pakkungen, die an einen steinigen, ölverschmierten Strand geschwemmt wurden, milk, melk, lait, latte, als würde das Flüssige in weißen Streifen vor die paar Häuser auf der Klippe genagelt, und welchen Rhythmus das nächste Wort hat, Warn- blink-an-la-ge, vier fast gleichstark betonte Silben hintereinander, völlig verrückt, oder die rhythmische Symmetrie von diesem Fisch-mus- kel-ei-weiß, während die Vokale eine ganz andere Kurve ergeben: Auf!-aaab-leer-weiei-ter… Noch öfter ist es etwas, das sein Stammeln nur in Bildern erzeugt: die Drehbewegung einer Schulter vor dem abblätternden Anstrich einer Badekabine, und der flimmernde See dahinter, seine Kiefern bis zum Ufer, das Aufwirbeln der Mücken in a mill of hooks, eine Szenerie wie aus einem finnischen Urlaubsprospekt, aber das Ticken darin steckte lange voller Gewaltsamkeit, voller Bedrohung, als schriee etwas mich von innen an. Bis der Augenblick kommt, in dem das Stammeln plötzlich kein Bild mehr prozessiert, keine filmähnliche Sequenz, kein musikalisches Motiv mehr, sondern eine Wortbewegung und einen Zeilenfall, die alles daüber wissen. Das ist der (immer ganz klare, ganz eindeutige) Moment, in dem ich spüre, daß das Gedicht mir weit voraus die Grenze passiert, während ich zurückbleibe – zurückbleiben muß oder zurückbleiben darf, je nach Gedicht und Sichtweise.

Brigitte Oleschinski, Auszug aus dem Anfang des Essays

 

 

 

GEDICHTE UND TEILLÖSUNGEN

… Ganz unfertig waren wir; wie am Ende eines Gedichts: unfertig, unendlich, nicht genannt wie Menschen sich nennen, auf dem Sprung stehend, inmitten Bauschutts, der den Weg bezeichnete. Wir gingen und stiegen um die Ziegelteile und die Betonbrocken, über einen ausgestreuten Steinehaufen, über ein schwieriges Alphabet auf dem Waldboden. Bastelten ein bißchen durch Kopfwendungen und Armhaltungen, wir schrieben mit Bewegungen und Haltungen. Erst stand ich einmal klar gerad da, dann war der Körper C-rund gebogen gegen einen Baum geneigt, dann standen wir zwei gerad nebeneinander und hielten die Hände, so daß diese letztere Haltung ein ‚H‘ war, aber alles dieses zusammen war ‚I‘ ‚C‘ ‚H‘ geschrieben: wir zwei durch verschiedene Haltungen und Vergänglichkeiten und Handschließungen schrieben in den Wald ‚ich‘. Der Mond hieß ‚rotund‘ und er hieß auch ‚rot und …‘. Dann standen wir und winkten (Übergang zu Flatterbewegungen, etwas Elevation).

aaaaaGedichte geben das Sichere und Gute.

Peter Waterhouse, Auszug vom Ende des Essays

 

 

 

Was sind Gedichte heute?

Teillösungen, wie Peter Waterhouse meint, einer Ungleichung, ergänzt Durs Grünbein, deren Auftrag, schließt Brigitte Oleschinski, das Ungenügen bleibt? Brummende Kühlaggregate, Gedächtnismaschinen oder Stillespeicher? Drei Stimmen deutschsprachiger Lyrik versuchen in drei voneinander unabhängigen Essays eine Antwort, die jede wieder Anlaß wird zu neuen Fragen, Erwiderungen, Anmerkungen und Fortsetzungen durch die jeweils anderen. So entsteht aus drei längeren und vielen kleinen Texten ein poetisches Buch zur Poetik der Gegenwart: eine Partitur der Gemeinsamkeit wie der Differenzen, die durch die typographische Gestaltung in ein anschauliches Bild gebracht wird.

Urs Engeler Editor, Klappentext, 1995

 

Zwischen den Spalten: Poetologische Essays

Eine solche Idee muß man erst einmal haben! Verwirklichung ist der zweite, nicht unbedingt einfachere Schritt. Urs Engeler, dem Herausgeber der Poetik-Zeitschrift „Zwischen den Zeilen“, ist beides gelungen. In weinrotem Umschlag präsentiert sich ein editorisches Glanzstück, das seinesgleichen sucht.

Das Besondere springt sofort ins Auge; gedruckt wurde in vier Spalten pro Doppelseite. Die ersten drei Kolonnen sind (der Reihe nach) den Essays und Kommentaren von Durs Grünbein (geb. 1962), Brigitte Oleschinski (geb. 1955) und Peter Waterhouse (geb. 1956) reserviert, die vierte dem Editor und Conférencier Engeler, dessen Glossen (eigentliche Zitate) sich aus dem Textkorpus der anderen drei generieren. Immer dort, wo sich im Haupttext Unterstreichungen finden, beginnt in einer der Spalten daneben, auf gleicher Höhe, ein Kommentar. Die Glossen rechts außen sind anspielungsreich montierte Gedankensplitter und deuten, je nach Textherkunft, voraus oder zurück. Auch die Haiku-artigen, immer zuoberst placierten Dreizeiler von Waterhouse sind weniger Kommentar als Bildassoziation (wie auch sein „Essay“ das Dichterisch-Anschauliche dem Abstrakt-Theoretischen vorzieht). Zur strengen Polyphonie tritt so eine spielerische Variante.

Das Ganze liest sich in der Art einer Partitur, nur nicht von links nach rechts, sondern von oben nach unten. Und doch: wie soll man in der Praxis eigentlich lesen? Linear, immer brav einer einzigen Spalte folgend (melodisch also) – oder abschweifend, nach rechts und links (harmonisch bzw. kontrapunktisch)? Sich dieser Frage überhaupt zu stellen bedeutet schon, auf dem rechten Weg zu sein. Denn hier, wie übrigens auch in seiner Zeitschrift, geht es Engeler darum, den monologischen Text aufzubrechen und auf ein Dazwischen zu öffnen. Im übrigen ist das Verfahren gar nicht so neu. Kommentierte Bibelausgaben aus dem Mittelalter können ganz ähnlich aussehen. In jüngerer Zeit haben Autoren wie Arno Schmidt („Zettels Traum“, 1970) oder Oskar Pastior („Jalousien aufgemacht“, 1987) vom mehrspaltigen Druck Gebrauch gemacht.

Was zunächst wie „eine zusammengeflickte Sache“ (Waterhouse) aussieht und „im Passgang zwischen Denken und Andenken“ (Grünbein) entwickelt zu sein scheint, ist letztlich ein Zeichen dafür, daß Dichtung – zumindest ansatzweise – „keine hermetische Angelegenheit, sondern eine gesellschaftliche“ (Oleschinski) sein kann oder will. Zwar sind die poetologischen Beiträge von Grünbein („Mein babylonisches Hirn“), Oleschinski („Baustellen, Wespen, Abendgeruch“) und Waterhouse („Gedichte und Teillösungen“) unabhängig voneinander entstanden, wurden aber anschließend (im Rahmen von „Leukerbad-Literatur“) ausführlich miteinander diskutiert.

Zwischen den philosophisch geprägten Gedankengängen Grünbeins, den soziolinguistisch gerichteten Überlegungen Oleschinskis und dem von Waterhouse geleisteten poetischen Anschauungsunterricht („Theorie“ ist „Anschauung“, wie Oleschinski zu Recht bemerkt) ist ein oszillierendes Gewebe entstanden, ein „Geflecht“ mit überraschenden Querverbindungen. So etwa spielen die Körper- und Dinghaftigkeit des Gedichts, die Frage nach dem „lyrischen Ich“, die dichterische Reizanfälligkeit bzw. Reizabwehr, die Analogie zwischen Gehen und Schreiben bei allen eine wesentliche Rolle. Die dem Buch zu wünschende ideale Leserschaft wird sich, im Sinne des im Titel „Korrektur“ suggerierten Mitspracherechts, in einer fünften Spalte Gedanken über das Gelesene machen wollen.

Charitas Jenny-Ebeling, Neue Zürcher Zeitung, 7.11.1995

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Dieter M. Gräf: Das Ticken im Körper des Übelsängers
Basler Zeitung, 10.11.1995

Harald Hartung: Dichter sind Dornauszieher
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11.1995

Peter Michalzik: Club der lebenden Dichter
Süddeutsche Zeitung, 13./14.4.1996

Michael Braun: Von Schöpfungsgeschichte und Sintfluten
Basler Zeitung, 21.5.1996

Andrea Köhler: Dichten, Dämmern, Kratzen. Die Luft ist raus: die 18. Solothurner Literaturtage
Neue Zürcher Zeitung, 21.5.1996

 

 

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Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Das Grünbein“.

 

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Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Peter Waterhouse

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