Günter Eich: Ein Lesebuch

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Günter Eich: Ein Lesebuch

Eich-Ein Lesebuch

GEOMETRISCHER ORT

Wir haben unsern Schatten verkauft,
er hängt an einer Mauer in Hiroshima,
ein Geschäft, von dem wir nichts wußten,
wir streichen ratlos die Zinsen ein.

Und, lieben1 Freunde, trinkt meinen Whisky,
ich werde die Kneipe nicht mehr finden,
wo meine Flasche steht
mit dem Namenszug,
eine Urkunde des guten Gewissens.

Ich habe den Pfennig nicht auf die Bank gelegt
bei Christi Geburt,
aber die Urenkel auf Menschen dressierter Hunde
habe ich gesehen auf den Hügeln der Donauschule
und sie sahen mich an.

Und ich will, wie die Einwohner von Hiroshima,
keine verbrannte Haut mehr sehen,
ich will trinken und Lieder singen,
nach Whisky singe ich,
und will die Hunde streicheln, deren Urahnen
Menschen ansprangen
in Steinbrüchen und Draht.

Du, mein Schatten
am Bankhaus in Hiroshima,
ab und zu
will ich dich besuchen mit allen Hunden
und dir zutrinken
auf das Wohl unseres Kontos.

Das Museum wird eingeebnet,
davor
werde ich zu dir schlüpfen,
hinter dein Geländer,
hinter dein Gelächter, unseren Hilferuf,
und wir passen wieder zusammen,
deine in meine Schuh,
genau
in die Sekunde.

 

 

 

Aufforderung Eich zu lesen.

Zuversicht.
In Saloniki
weiß ich einen, der mich liest,
und in Bad Nauheim.
Das sind schon zwei.

Diesem ebenso ironischen wie koketten Zitat könnte man einen Doppelsinn enthüllen, wenn man den Akzent auf „lesen“ setzt. Dann nämlich entfaltet sich ihm eine kritische Dimension, die eine Tradition der literarischen Rezeption trifft. Denn Lesen bedeutet nicht den Text verwalten, sondern in ihn eindringen, ihn abwägen, historisch prüfen. Die offizielle Kritik hat jahrelang einmal geprägte Urteile weiter befördert, ohne sie an der Literatur selbst zu verifizieren, hat manches emporgehoben und anderes in Vergessenheit geraten lassen. Und damit sind wir schon beim Thema. Das Günter Eich Lesebuch versammelt literarische Arbeiten aus mehr als vierzig Jahren. Es dokumentiert die ersten Gedichte des Zwanzigjährigen, die er unter dem Pseudonym Erich Günter in der Anthologie jüngster Lyrik veröffentlichte; es nimmt die letzten, noch unveröffentlichten Prosastücke des nunmehr Fünfundsechzigjährigen auf. Und doch stellt es keinen Digest dar, der nun in schlüssiger Form „Das Beste“ aus dem Werk Günter Eichs präsentiert, was nach allgemeinen Übereinkünften gleichzusetzen wäre mit „Das Bekannteste“. Zitatenjäger sind mit diesem Buch schlecht bedient, es ist für Leser bestimmt. Günter Eich hat in seiner Auswahl all jenes ausgespart, was seine Literatur in feste Determinanten einschraubte. Er hat neu gesichtet und das, was ihm vom Standpunkt der Gegenwart aus noch wichtig erschien, zusammengestellt. Es fehlen daher einige seiner berühmtesten Gedichte, Hörspiele, die seine Popularität begründeten, Kurzgeschichten, die ihn jedem Schüler zur Pflichtlektüre vorschrieben; es fehlt, was den Schriftsteller als „reinen Dichter“ allzu leicht etikettierte, was ihn so verwendbar machte und damit neutralisierte. Es ist ein Eich, der weithin übersehen wurde, den dieses Lesebuch durch seine Auslassungen präsentiert, der neu gelesen zu werden auffordert, herausfordert.
Eich ist kein Dichter, dem es sozusagen aus der Feder fließt. Er reagiert nicht unmittelbar. Wer kraftvoll Sinnliches bei ihm erwartet, wer schwelgen möchte im Nachfühlbaren, abtasten, abklopfen möchte, wie das Erlebte zur schönen Form gerinnt, der ist bei Eich auf dem Holzweg. Hier ist keiner am Werk, der unmittelbar aus der empfundenen Wirklichkeit heraus schreibt, dem das Herz übergeht; der Dichter Eich schreibt gegen sich selbst. Er verkompliziert, macht spröde, nimmt Widersprüche in jeden einzelnen Begriff auf. Die Wörter, die beschädigten, zeigen ihre Geschichte vor. Je älter der Autor wird, desto stärker. So wie er allen Institutionen, die Natur einbegriffen, mißtraut, so mißtraut er jedem seiner Wörter. Zwar schreibt er aphoristische Sätze, aber es fehlt ihnen der Gültigkeitscharakter. Und indem er Alltagsgeschwätz unvermittelt daneben stellt, hebt er den Anspruch von beidem auf. Das mag eine Fundgrube für Philologen sein, die alle Anspielungen erklären, alle Zitate aufdecken und dem Werk einen prächtigen wissenschaftlichen Apparat anhängen mögen. Sollen sie. Das Wichtigste ist das nicht. Die Literatur fordert, nicht das Erlebnis und seinen mehr oder weniger privaten Hintergrund als Wirkungsfaktor zu erkennen, sondern die objektiven Bedingungen des Projekts, das heißt der Sprache und ihrer sozialen Wirklichkeit. Das ergibt eine Geschichte von gesellschaftlichem Be- und Entzug, von Fatalismus und Auflehnung, von Wirklichkeitssetzung und Wirklichkeitsbewältigung. Eine Geschichte auch von Wirkung. Rollen wir sie an ein paar Stationen auf:

Schauplatz eins: Berlin 1928.
Günter Eich veröffentlicht als 21jähriger seine ersten Gedichte in der von Willi Fehse und Klaus Mann herausgegebenen Anthologie jüngster Lyrik. Seine Beiträge erscheinen unter dem Pseudonym Erich Günter. Die Gedichte stehen im Banne Trakls, Benns und des jungen Bertolt Brecht.
„O ich bin von der Zeit angefressen und bin in gleicher Langeweile vom zehnten bis zum achtzigsten Jahre“, schreibt er damals in seinem ersten Gedicht. Er ist ergriffen von der spätbürgerlichen Resignation und dem formalen Aufbruch der Expressionisten. Er studiert Sinologie, ein Fach, das nur schwer den Nachweis seiner Nützlichkeit antreten konnte. „Seid unnütz“ – schreibt er noch Jahre später in seinem berühmtesten Hörspiel Träume (1951). Die Verweigerungshaltung gegenüber gesellschaftlicher Vereinnahmung ist und bleibt eine Konstante im Werk Eichs. Der junge Lyriker entzieht sich dem technischen und sozialen Bereich seiner Gegenwart. Die Gegenpole soziale Wirklichkeit und lyrisches Ich sind in seinem Selbstverständnis nicht mehr zu vermitteln.
Man kann davon ausgehen, daß die frühen Gedichte Eichs nicht jene Beachtung gefunden hätten, wäre ihnen nicht das Œuvre der Nachkriegszeit gefolgt. Gleichwohl gilt, daß sie für die Entwicklung Eichs einen wichtigen Meilenstein gesetzt haben, ebenso wie das Verstummen nach 1933. Nicht mehr erhalten sind die Hörspiele, die Eich, zusammen mit Martin Raschke, auch schon vor dem Weltkrieg verfaßte. Seine technische Vertrautheit mit diesem Medium half ihm nach dem Krieg jene Informationslücke zu füllen und das Hörspiel der Literatur als angemessene Gattung einzuprägen.

Schauplatz zwei: Amerikanisches Gefangenenlager 1945.
Die Verzweiflung treibt Eich nach langer Pause wieder zum Schreiben von Gedichten. Hier, und nur dieses eine Mal, verhält er sich so, wie man es landläufig von einem Dichter erwartet: er schreibt aus Einsamkeit, existentieller Not; das Erlebnis drängt in die Sprache. Sonst kontrolliert bei Eich die Sprache immer das Erleben. Die Unmittelbarkeit wirkt. Eich ist zeitgemäß; ist mitten in seiner geschichtlichen Situation. Er wird verstanden; so wie er empfinden viele, Unglück verbindet.
Sein Gedicht „Inventur“, das nur mehr aufzählt, was den Gefangenen noch an Gegenständen, Dingen umgibt, wird durch seine karge Sprachsetzung zum Inbegriff für dichterischen Neubeginn und Sprachreinigung nach 1945. Es wird immer wieder als exponiertes Beispiel der sogenannten „Kahlschlagpoesie“ zitiert. Eich kennt keine lyrischen Reservate mehr. Er packt oft seine erlebten Inhalte in vorhandene, vertraute Volksliedformen, reimt kühn und ironisch „Urin“ auf „Hölderlin“; bringt seine Verzweiflung in Heineschen Rhythmen und bespöttelt Bildungsballast und -glauben. Daß er nebenbei in die berühmte Sammlung Abgelegene Gehöfte auch höchst artifizielle, ja konservative Gedichte eingebracht hat, fällt nicht auf. In den Nachkriegsgedichten Eichs werden die Erlebnisse zwar in oft strenge Form gepreßt, aber sie versprechen nachfühlbare Reaktionen beim Verfasser. Das ist einmalig bei Eich. Das macht ihn verständlich. Die Gruppe 47 zählt ihn zu ihren ersten Mitgliedern und verleiht ihm ihren ersten Preis (1950). Eich ist eine öffentliche Figur geworden.

Schauplatz drei: Lenggries Oberbayern 1953.
Eich hat die Schriftstellerin Ilse Aichinger geheiratet.
Er ist Träger des Hörspielpreises der Kriegsblinden und gilt als der Schöpfer des poetischen Hörspieles.
1951 wurde sein berühmtestes Hörspiel Träume zum ersten Mal gesendet. Es wurde zur „Geburtsstunde des Hörspiels“ (Schwitzke) deklariert, erreichte jedoch auch eine Flut empörter, verstörter ablehnender Hörerpost. Die Kritiker lobten es emphatisch. Es enthält jeweils zum Ende eines der vier Träume die aufrüttelnden, pathetischen Verse, die sich untrennbar mit dem Bild Günter Eichs verbanden.

Wacht auf, denn eure Träume sind schlecht!
Bleibt wach, weil das Entsetzliche näher kommt.

Nein, schlaft nicht, während die Ordner der Welt geschäftig sind!
Seid mißtrauisch gegen ihre Macht, die sie vorgeben für euch
erwerben zu müssen!
Wacht darüber, daß eure Herzen nicht leer sind, wenn mit der Leere eurer Herzen gerechnet wird
Tut das Unnütze, singt Lieder, die man aus eurem
Mund nicht erwartet!
Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Welt!

Diese letzten Verse sind so einprägsam, daß sie geradezu zum Topos werden konnten. Schon zu ihrer Entstehungszeit war man ihrer Eindringlichkeit sehr gewogen. Karl Korn urteilte:

Traumdeutung ist Günter Eichs Gedicht, und man kann zu seinem Ruhme wohl nicht mehr sagen, als daß er unser aller Träume dichtet.

Sein Fazit:

Günter Eich ist ein Dichter, einer der wenigen Lebenden, die das hohe Wort zu Recht tragen.

Günter Eichs Hörspiele notieren bekannte normale Alltagssituationen. Im Laufe der Handlung aber geht die Sicherheit verloren, machen sich Sphären breit, von denen niemand gewußt, niemand geahnt hat. Die Spiele demonstrieren einen Akt der Wirklichkeitsfindung außerhalb der geschichtlichen Realität; sie wollen verunsichern, aufmerksam, wachsam stimmen; Mißtrauen erwecken gegen die scheinbare Sicherheit der wahrnehmbaren Gegenwart. Es ist eine Zeit, in der Eich gegen die Erkenntnis der „verwalteten Welt“ (Korn) den totalen Ideologieverdacht anmeldet, in der er jeder Meinung mißtraut, jeden Standpunkt als Möglichkeit von Machtmißbrauch ablehnt. Die Erfahrungen des Dritten Reiches ziehen ihre Schatten nach.

Schauplatz vier: Vézelay 1956.
Eich läßt sich zum ersten und letzten Mal in eine poetologische Diskussion ein. Er trägt den Text „Der Schriftsteller vor der Realität“ vor. In ihm stehen jene wieder und wieder reproduzierten Sätze:

Alle hier vorgebrachten Ansichten setzten voraus, daß wir wissen, was Wirklichkeit ist. Ich muß von mir sagen, daß ich es nicht weiß. …
Wir wissen, daß es Farben gibt, die wir nicht sehen, daß es Töne gibt, die wir nicht hören. Unsere Sinne sind fragwürdig; und ich muß annehmen, daß auch das Gehirn fragwürdig ist. …
Ich schreibe Gedichte, um mich in der Wirklichkeit zu orientieren. Ich betrachte sie als trigonometrische Punkte oder als Bojen, die in einer unbekannten Fläche den Kurs markieren.
Erst durch das Schreiben erlangen für mich die Dinge Wirklichkeit. Sie ist nicht meine Voraussetzung, sondern mein Ziel. Ich muß sie erst herstellen.

Teile aus diesem Text werden immer aufs neue zitiert, wenn Gedichte Eichs interpretiert werden sollen. Die Unsicherheit, die von dem künstlerischen Werk ausgeht, wird dadurch verdeckt, daß man vorgibt zu verstehen, was der Autor selbst programmatisch, quasi als Lesehilfe geschrieben hat.
Eichs Hauptantrieb zu dieser Zeit ist Zweifel.
Sein Mißtrauen gegenüber dem, was Wirklichkeit sei, bezieht sich jedoch nicht auf die empirische, gesellschaftliche Realität, sondern auf die Summe aller Realitäten, die Wahrheit. Das Gedicht gilt Eich somit als Erkenntnismittel und -möglichkeit für die im Detail aufleuchtende Totalität der Wahrheit. Gleichzeitig errichtet das Gedicht ein objektives Moment von Widerstand gegen alle Herrschaft, gegen Verwaltung, die Eichs Ideologieverdacht trifft. Die Alternative – das Gedicht – hat Eich ein Jahr zuvor, 1955, in seinem neuen Band Botschaften des Regens angeboten. Es sind Gedichte der Verweigerung, die er sammelt, Mißtrauensanträge auch gegen die ehemaligen Reservate in der Natur. Gewalt wird sichtbar, die sich gegen das Individuum richtet, jegliche Macht bedeutet Gefahr. Das lyrische Ich bäumt sich dagegen auf, verwaltet zu werden, und sei es von der Natur. „Die Sonne, wie sie mir zufällt, kupfern und golden, ich habe sie nicht verlangt“, heißt es einmal paradigmatisch. Keine Identität von Subjekt und Objekt mehr, sondern Bedrohung des einen durch das andere. Geschichte stellt sich in diesen Gedichten nicht als Prozeß dar, sondern nur in ihren toten Gegenständen. Das macht eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Zukunft möglich.
Wenn die Gefangenengedichte Eichs Erlebnisse vermitteln so steht der Dichter der Botschaften des Regens nun als Zuschauer neben sich. Er kann nicht mehr zu sich kommen. Die Sehnsucht nach dem Ungetrennten aber bleibt: Eich sucht nach Symbolen dafür: Vogelzug, Häherfeder, das Gerüst des trigonometrischen Punkts.

Schauplatz fünf: Darmstadt 1959. Büchnerpreisträger Günter Eich.
Eich hält eine politische Rede über die Zusammenhänge von Macht und gelenkter Sprache. Er zeigt, daß er entgegen der Meinung vieler Rezensenten gesellschaftliche Zusammenhänge sehr wohl kennt. Vieles von dem, was ihm von Interpreten als neue Wirklichkeitssetzung, als Welt, die anderswo existiert als die hiesige, erklärt wurde, ist für Eich ein listiges Mittel, um die Machtverhältnisse seiner realen Umwelt in Frage zu stellen. Er baut Alternativen auf, die den Ideologiecharakter dessen entlarven, was als naturgegeben erscheint. Der Wert eines Gedichtes erhöht sich für Eich, je mehr es sich gesellschaftlicher Verwertbarkeit entzieht. Er verkürzt darum in der Folgezeit seine Lyrik immer mehr, macht sie spröde, abweisend, unsinnlich. Er sagt:

Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, als unbequeme Frage und als Herausforderung der Macht, dann schreiben wir umsonst.

Schauplatz sechs: Japan 1962.
Der Sinologe Eich, der schon 1930 auf seiner „Karte im Atlas“ in Gedanken und Träumen nach Ostasien gefahren war, erlebt Japan. Dem Abendlandmüden, dessen letzte Gedichte einen totalen Pessimismus vortragen, der nur noch blaß sein „Nichteinverstanden-Sein“ erklärte, dem Hoffnungslosigkeit zum Prinzip wurde, werden die japanischen „Steingärten“ zu einer existentiellen Erfahrung. Die Meditationsstätten, in denen Steine auf Sandflächen artifiziell arrangiert sind, wurden für Eich zum Ganz-Anderen, zu einer unbelasteten Möglichkeit der Welterfahrung. Sein letzter Gedichtband heißt danach: Anlässe und Steingärten.
Eichs späte Gedichte lassen seine vorangegangene Produktion im Nachhinein als „Zu spät“ erscheinen. Sie sind entstanden als Moment antizipierter Utopie, als Hoffnung, daß Glück noch möglich sein könnte. Seine letzten Gedichte betrauern das Vergebliche der „bösen Hoffnung“. Sie zeigen die Grenze zum Verstummen an.

Schauplatz sieben: Pulvermühle 1967.
Auf der letzten Tagung der Gruppe 47 trägt Eich zum ersten Mal eine Form von Literatur vor, die bisher keiner kannte und von ihm erwartete: „Maulwürfe“ hat er sie genannt.
Die Mitglieder der Gruppe reagieren konfus. Vom für Eich seit seiner Nachkriegsproduktion tradierten „Ecce poeta“ bis zu „privaten Späßen“ reichen die Urteile.
Eichs neue Prosastücke sind Zeugnisse einer Zeit, der Literatur nichts Selbstverständliches mehr ist.
„Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht“, schrieb Theodor W. Adorno zu Beginn seiner nachgelassenen Ästhetischen Schriften. Der Verdacht, daß Literatur emanzipatorische Kräfte binde, anstatt sie freizusetzen, ist weit verbreitet. Es gibt Literaten, die aufhören Literaten zu sein. Nicht so Günter Eich. Er ist mehr und mehr unfähig zu direkten Äußerungen und Handlungen. Aber er reagiert in seiner neuen literarischen Form auf seine frühere Produktion und deren Aufnahme. Er reflektiert Literatur in seiner Literatur; montiert nicht mehr nur heterogene Inhalte, wie schon die Lyrik, sondern montiert ebenso poetische Gattungsstücke, die nicht vollendet werden.
Ohne Verknüpfung stehen aphoristische Sätze neben Alltagsgeschwätz; stehen Redewendungen und Sprichwörter, die oft sprachspielerisch demontiert und verändert werden, neben Lyrismen, die vorwiegend das eigene Werk reproduzieren; stehen Nonsens-Verse neben intellektuellen radikalen Slogans und Sprachklischees. In der Technik von einfachen Aussagesätzen, Parallelisierungen werden entlegene Bereiche so gekoppelt, daß sie zwar nicht willkürlich, jedoch völlig austauschbar erscheinen. Die geschlossene künstlerische Form ist aufgebrochen. Das Echo auf die Maulwürfe ist groß. Die Kritik hat ihre Maßstäbe verändert und lobt, daß sich „Literatur traurig lustig macht über Literatur“ (Baumgart).
1970 erscheint ein neuer Band Ein Tibeter in meinem Büro. Die letzten Maulwürfe zeigen bereits Verknappungserscheinungen. Auch ihnen ist, wie zuvor den Gedichten, der Atem ausgegangen. Ihr melancholischer Witz, ihre im Entstehen schon zerstörten Illusionen haben sich ermüdet. Der Sinn hat, so scheint es, wieder die Konfrontation mit dem Unsinn aufgenommen. Im letzten Stück Eichs heißt es:

Die Welt hört nicht auf, das muß man lernen.

Das klingt nicht nach Anpassung und nicht nach Resignation. Das klingt nach dem Willen zur täglichen Veränderung. Das Werk Günter Eichs, das sich in diesem Band neu zum Lesen vorstellt, ist nicht abgeschlossen. Es wird sich weiterhin in Schauplätzen artikulieren, so wie in diesem Lesebuch: spröde, aufklärerisch, mit verbittertem Witz und heiterer Trauer.

Susanne Müller-Hanpft, Nachwort

 

Das Nicht-Übersetzbare übersetzen

– Zur Poetik von Günter Eich. –

Für Prosa scheint es schwerwiegende Übersetzungsprobleme kaum zu geben; in der Regel sind sie rein transpositorischer Art und als solche zu lösen. Mit Gedichten verhält es sich anders. Je mehr sie ihre Klanggestalt, Bild- und Formfindungen der einen Sprache verdanken, desto weniger gelingt ihre Nachbildung in einer anderen. Diesen Befund vor Augen, hat Gottfried Benn in der bündigsten aller Bestimmungen „das Gedicht als das Unübersetzbare“ definiert. Wären damit nur vokabulär-lexikalische Schwierigkeiten gemeint, brauchte sich kein Vermittler entmutigt zu fühlen. Tatsächlich aber ist mit dieser Definition eine prinzipielle Fremdsprachigkeit der Poesie in ihrer je eigenen Herkunftssprache behauptet. (Was für Benn zugleich ein Qualitätspostulat für Gedichte bedeutet: sie seien „exorbitant (…) oder gar nicht“.) Originell an diesem Gedanken ist seine Zuspitzung auf das Übersetzungsproblem und sein Erscheinen in einer Poetik der Moderne, wie sie Benn 1951 in seiner Rede Probleme der Lyrik vortrug. Vorgedacht ist er in Johann Georg Hamanns Aesthetica in nuce (1762), und dort nicht nur im berühmten Wort von der Poesie als der „Muttersprache des menschlichen Geschlechts“. Läßt man dieses Fundamental-Bonmot gelten und liest man Benns Definition und Befund in der von Hamann her sich fortschreibenden Tradition, so ist die Poesie als Ur- und Muttersprache ein den Nationalsprachen historisch Vorgegebenes, zugleich aber auch ein jederzeit mögliches Reden durch jede von ihnen hindurch und aus keiner zur anderen hin des Übersetzens bedürftig.
Auf welchen Wegen sich Hamannsches Denken an Benn vermitteln konnte, falls er aus dieser Quelle trank, wüßte ich nicht zu sagen. Daß aber Günter Eich sich auf beide bezog, zeigt die Poetik seiner frühen und mittleren Schaffenszeit. Sie modifiziert den Gedanken Hamanns, daß jedes Reden ein Übersetzen sei:

Reden ist übersetzen aus einer Engelsprache in eine Menschensprache.

Eich reserviert diese Tätigkeit für den Dichter, betont dabei die bereits von Hamann mitgedachte Unmöglichkeit und gelangt, vermutlich unter dem Eindruck der Bennschen Definition des Gedichts, zu einer Poetik des Übersetzens von Nicht-Übersetzbarem. Er hat sie in einer Vielzahl von Texten ausgestaltet und formuliert – im frühen Prosapoem „Eine Karte im Atlas“, in Hörspielen, in Gedichten; am deutlichsten in der Rede von Vézelay „Der Schriftsteller vor der Realität“ (1956):

Ich bin Schriftsteller, das ist nicht nur ein Beruf, sondern die Entscheidung, die Welt als Sprache zu sehen. Als die eigentliche Sprache erscheint mir die, in der das Wort und das Ding zusammenfallen. Aus dieser Sprache, die sich rings um uns befindet, zugleich aber nicht vorhanden ist, gilt es zu Übersetzen. Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben. Die gelungenste Übersetzung kommt ihm am nächsten und erreicht den höchsten Grad von Wirklichkeit. (…) Erst wo die Übersetzung sich dem Original annähert, beginnt für mich Sprache. Was davor liegt, mag psychologisch, soziologisch, politisch oder wie immer interessant sein, und ich werde mich gern davon unterhalten lassen, es bewundern und mich daran freuen – notwendig aber ist es mir nicht. Notwendig ist mir allein das Gedicht.

Damit ist das Gedicht zum Resultat einer Sprachgrenzüberschreitung, der Dichter zum Übersetzer erklärt, der primäre Schaffensprozeß ins Gleichnis eines sekundären gestellt und der Begriff „Übersetzung“ zur Metapher geworden. Als eine solche steht er im Zentrum der hier zu skizzierenden Poetologie, wird aber verwendet, als wäre er keine Metapher. Er ist es durch das Fehlen eines linguistisch faßbaren Ausgangstextes. An dessen Stelle tritt ein magischer Platzhalter, „Urtext“ genannt, für den es keine rationalen Beweise gibt. Er ist in einer lingua obscura, der „eigentlichen Sprache“ verfaßt, die bei Hamann noch „Engelssprache“ hieß und aus der auch bei Novalis und Eichendorff die Dichter zu Übersetzen versuchen. Eichendorff nennt sie die „unbekannte Ursprache“; in ihr sei das „unübersetzbare weitläufige Hieroglyphenbuch“ Gottes geschrieben, in dem die „Weltnarren, die Dichter (…) lesen und lesen“. In diesem Bezugsfeld stehen Eichs „eigentliche Sprache“ und was er den „Urtext“ nennt als Postulate eines magisch-poetologischen Denkens. Ihnen fehlt das Hauptmerkmal humaner Sprachen, die Geschiedenheit von Zeichen und Bezeichnetem. Wort und Ding sind eines, ihrer Einheit wird der „höchste Grad von Wirklichkeit“ zugesprochen, sie sind die „eigentliche“ Welt, universaler Text und Enzyklopädie aller Dinge. Für das „Übersetzen“ ergibt sich aus dem Vorhanden- und Nichtvorhandensein dieser Sprache eine absurde Zirkelhaftigkeit: dem Gedicht ist eine nicht zu erbringende Beweislast auferlegt, es soll einen metaphysischen „Urtext“ aus einer unerlernbaren Sprache dolmetschen. Das Scheitern dieser Dichtungskonzeption hat Eich von Anfang an mitbedacht; sie ist als Poetik des Übersetzens von Nicht-Übersetzbarem eine Poetik notwendigen Scheiterns. (Das dem Spätwerk zugrunde liegende Dichtungsverständnis stellt sich, in der Konsequenz dieses Scheiterns, als eine ,Poetik des Gescheitertseins‘ dar.)
Es ist ein aporetisches Dichtungskonzept. Aber ein produktives, falls es gelang, in poetischen Texten ebendas zu gestalten, was diesen selbst nicht erreichbar ist: das Einswerden des Bezeichneten mit dem Zeichen. Dazu war nötig, daß die Dichtung ihr Selbstverständnis thematisierte, daß sie das „Übersetzen“ motivlich entfaltete und damit poetologisch wurde. Ebendies ist der Fall, nur hat Eich diesen Weg in entgegengesetzter Richtung betreten. Als er seine Übersetzungs-Poetik in den Reden zur Entgegennahme des Hörspielpreises der Kriegsblinden (1953) und zum deutsch-französischen Schriftstellertreffen in Vézelay (1956) formulierte, war sie das theoretische Substrat von Intentionen, die bereits sein Frühwerk bestimmt hatten. Eichs dichterische Gestaltungen des „Übersetzungs“-Motivs sind freilich um eine wesentliche Nuance reicher als seine Erklärungen im bekenntnishaften theoretischen Diskurs. Erst durch diesen Mehrwert konnte das Motiv zu einer originellen Variante des „Welt als Buch“-Topos werden. Eich nutzte die Zweideutigkeit des Wortes „Übersetzen“, die auch dem griechischen „hermeneuein“ anhaftet. Er hielt das Wort in der Schwebe seiner beiden Bedeutungen: Übersetzen und übersetzen, Translatio und Transgressio.
In „Eine Karte im Atlas“ (1932), einem Prosatext des Fünfundzwanzigjährigen, vertieft sich der Sprechende in das Kartenbild von Asien. Er liest mit den Augen und mit der Hand, seine linke ruht auf der Karte, so wird seine meditative Lektüre zu einem magisch-konkreten Begreifen:

Ich neige mein Ohr herab und höre, wie unter der Höhlung meiner Handfläche das lehmige Wasser des Hoangho gurgelt und steigt. (…) Die Strömung braust und verzweigt sich in den Adern meiner Hand.

Von „Übersetzen“ ist nicht die Rede, doch es geschieht in jener zweifachen Weise. Die Einbildungskraft des Sprechenden übersetzt die kartographischen Zeichen in Bilder, er imaginiert ferne Wirklichkeiten und setzt als Erlebender in sie hinüber. Diese Verwandlung endet erst mit dem Zuklappen des Atlas. – An eine solche Bereitschaft zum sich selbst Übersetzen appelliert auch das Gedicht „Japanischer Holzschnitt“ (1955) –

Ein rosa Pferd
gezäumt und gesattelt,
für wen?

Wie nah der Reiter auch sei,
er bleibt verborgen.

Komm du für ihn,
tritt in das Bild ein
und ergreif die Zügel

Bereits in der Atlas-Meditation war das Übersetzungs-Motiv mit solidarischen Intentionen verbunden; in den Gedichten und Hörspielen der fünfziger Jahre finden sie sich verstärkt. So in den lyrischen Zwischentexten des Hörspiels Träume – „Nirgendwo auf der Landkarte liegt Korea und Bikini, / aber in deinem Herzen“ – „Alles, was geschieht, geht dich an.“ In den Hörspielen entfaltet sich dieses Motiv besonders facettenreich, etwa in Das Jahr Lazertis, in Blick auf Venedig oder in Die Andere und ich. Das Radio mit seinen Möglichkeiten des Überblendens verschiedener Wirklichkeitsebenen, der wechselnden Verkörperungen einundderselben Stimme und des plötzlichen Raum- und Zeitwechsels war dafür ein ideales Medium.
Das Hörspiel Allah hat hundert Namen entfaltet die theologische Bedeutung des Übersetzungs-Motivs. Ein gläubiger Moslem, Hakim, möchte die Welt verstehen. Sie ist, wie sie sich uns gibt, unverständlich: wir müssen sie uns Übersetzen. Doch immer wieder mißlingt die Hermeneutik der Welt, weil wir den 100. Namen Allahs nicht kennen. In allem Seienden ist er enthalten, doch hat ihn noch keiner gehört. Er wäre der Schlüssel zum Verständnis der Welt. Hakim hat ihn gesucht, manchmal konnte er glauben, ihm nahe zu sein, vielleicht in einem meisterhaft angefertigten Schuh, einer vollkommenen Suppe, einer Überwältigend glücklichen Liebesnacht. Gehört hat er ihn nie – dieses Wort, „so gewiß wie Gott und so unhörbar“, so grausam in seinem Widerspruch, Wort und zugleich „unaussprechlich zu sein“. Hakim begreift, daß es dieses Wort nur in unendlich vielen Übersetzungen gibt. In dieser Erkenntnis ist er weise geworden. Im Schlußdialog teilt er einem Adepten seine bescheidene Weisheit mit:

HAKIM (…) Als mir der Star gestochen war, sah und hörte ich den hundertsten Namen Allahs hundert- und tausendfach übersetzt. Im Ruf eines Vogels und im Blick des Kindes, in einer Wolke, einem Ziegelstein und im Schreiten des Kamels.
JÜNGLING Das alles ist also –
HAKIM Es
kann sein!
JÜNGLING Schattierungen!
HAKIM Die vor Eurer Ungeduld nicht gelten.
JÜNGLING O Vater der Weisheit, Ihr übersetzt.
HAKIM So nenne ichs.
JÜNGLING Ich aber will den Namen, wie er ist.
HAKIM Man muß übersetzen, wenn das Original nicht zu verstehen ist.
JÜNGLING Ich bestehe darauf.
HAKIM Geduldet Euch, junger Herr, Ihr besteht auf Eurem Tod!

Diese Hörspiel-Szene von 1957 wiederholt in Wechselrede, was ein Jahr zuvor bereits in Der Schriftsteller vor der Realität ausgesprochen worden war – „Man muß übersetzen, wenn das Original nicht zu verstehen ist“; „Wir übersetzen, ohne den Urtext zu haben“. Die gelingende Übersetzung kann nur als Grenzüberschreitung gedacht werden: die letzte Transgressio ist der Tod. Davon wissen schon die „Himbeerranken“-Verse von 1955. Und wenn das Gedicht „Nicht geführte Gespräche“ (1963), das Peter Huchel gewidmet ist, die Dichter als „bescheidene Übersetzer“ bezeichnet, so ist deren „Trauer“ auch deshalb „nicht heilbar“, weil das Gelingen ihrer Übersetzungsarbeit den Tod zur Bedingung hätte.
In „Zum Beispiel“, einem Gedicht aus der Sammlung Zu den Akten (1964), die den Übergang zum Spätwerk markiert, hat Günter Eich das notwendige Scheitern dieser Poetik noch einmal ausgesprochen.

Zum Beispiel Segeltuch

Ein Wort in ein Wort übersetzen,
das Salz und Teer einschließt
und aus Leinen ist,
Geruch enthält,
Gelächter und letzten Atem,
rot und weiß und orange,
Zeitkontrollen
und den göttlichen Dulder.
(…)

Das Beispiel-Wort, an dem verdeutlicht wird, worauf allein es ankäme, scheint beliebig gewählt. Das sprachliche Zeichen müßte rückübersetzt werden in ein ursprachliches „Wort“, welches dinglich und wesenhaft all das einschlösse, was sich dem „Segeltuch“ irgend wie assoziiert: Leinen, Teer, Salz, Meeresgerüche, Atem Ertrinkender, Segelregatten mit Zeitkontrollen, den „göttlichen Dulder“ Odysseus. Ein schier unausschöpfbarer Vorrat von Dingen, Erfahrungen und Erinnerungen wäre in ihm lebendig, es wäre Teil und Summe zugleich einer nie betretenen anderen Welt, welche der „Urtext“ selber ist. Für die Unmöglichkeit eines solchen „Wortes“ hat Eich in der folgenden Textsequenz desselben Gedichts die unvergeßliche Formulierung gefunden:

Segeltuch und keins,

die Frage
nach einer Enzyklopädie
und eine Interjektion
als Antwort.
(…)

Kein Gegensatz ist größer als der zwischen Enzyklopädie und Interjektion. Enzyklopädien dokumentieren eine endliche, historische Allwissenheit, für die es kein individuelles Subjekt gibt. Interjektionen aber vermitteln überhaupt kein Wissen, sie sind als vorsprachliche Affektäußerungen reiner Subjektausdruck und als solcher nicht objektivierbar. Wenn es gelänge, das Wort „Segeltuch“ (oder irgendeine andere Vokabel) in jenes ganz andere magische Wort zu „übersetzen“, wäre das Fragen eins mit seiner Antwort und das Wort „Segeltuch“ die in eine Interjektion zusammengefaßte Enzyklopädie. Zwischen Objektivität und Subjektivität gäbe es keine Differenz, die Trennung zwischen dem Einzelnen und dem Ganzen wäre aufgehoben. Wem dies gelänge, hätte den „Stein der Weisen“ gefunden:

Zwischen Schöneberg
und Sternbedeckung
der mystische Ort
und Stein der Weisen.

Nach diesem Stein haben die Alchimisten der frühen Neuzeit gesucht, Dr. Faustus, Nostradamus und andere. Er soll die Kraft der Verwandlung besitzen, Eisen in Gold verwandeln, als Universalmedizin (aurum potabile) jede Krankheit kurieren, die Alten wieder jung machen können. Wir finden ihn, wird uns bedeutet, zwischen „Schöneberg und Sternbedeckung“. Das will sagen – Axel Vieregg teilt es uns mit –: in Meyers Konversationslexikon in der 6. Auflage von 1909, die Eich besaß, im 18. Band („Schöneberg bis Sternbedeckung“). Dort, im alphabetisch geordneten Chaos des Wissens, bei den Begriffen mit dem Anfangsbuchstaben S, steht das Wort und der Hinweis zum Weitersuchen, vielleicht unter „Alchimie“. Immer sind wir auf Wörter verwiesen, und immer mißlingt der Versuch, auch nur eines in die Sprache des „Urtextes“ zurück-zuübersetzen. Wer es erzwingen will – wie in Allah hat hundert Namen der Jüngling –, besteht auf seinem Tod, er muß über-setzen. Die Schlußzeilen des Gedichtes sprechen es noch einmal aus:

Aufgabe gestellt
für die Zeit nach dem Tode.

Mit diesem Gedicht hat Günter Eich die Poetik seines frühen und mittleren Schaffens „zu den Akten“ gelegt und das „Übersetzen“ zu einer Metapher erhoben, die den utopischen Versuch bezeichnet, einem unbekannten „Urtext“ nahe zu kommen. Damit war das Gedicht als Übersetzung von Nicht-Übersetzbarem, der Dichter als „bescheidener Übersetzer“ bestimmt – ein magisch-poetologischer Gedanke, den Eich einer Tradition entnahm, in der auch Hamann und die Romantiker stehen, aber auch Gottfried Benn, der das „Gedicht als das Unübersetzbare“ definierte. Dieser Gedanke erwies sich als dichterisch produktiv, indem Eich das Übersetzen des Unübersetzbaren zum Thema seiner Dichtung machte, den zweifachen Sinn des Wortes motivlich gestaltete und endlich das Über-setzen mit dem Todesgedanken verband.

Peter Horst Neumann, aus: Ulrich Stadler (Hrsg.): Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, J.B. Metzler, 1996

Günter Eich. Eine Spurensuche in Biel

In Alfermée, einer kleinen Gemeinde am nördlichen Ufer des Bielersees, beginnt an einem trüben Apriltag unsere Suche nach dem letzten Ort des Dichters Günter Eich. Wir verlassen die von zahlreichen Baustellen flankierte Hauptstraße am Seeufer und biegen ein in die steil bergauf verlaufende Gaichtstraße, die zum Wohnhaus des 2013 verstorbenen Literaturkritikers Heinz F. Schafroth führt, der eine Schlüsselfigur in dieser Geschichte ist. Von dort aus wenden wir uns nach wenigen Metern nach rechts, in den Bielweg, der bei aufklarendem Himmel zu einem Blick auf den See einlädt. Ein Vierteljahrhundert zuvor, im Frühsommer 1996, hat hier der Schriftsteller W.G. Sebald auf den See hinuntergeschaut und in einem Gedicht2 von einer starken Epiphanie berichtet:

Wie morgens das Dunkel
sich hebt von der Erde
da ist kein Unterschied
zwischen Luftraum & See

Am Ufer die Reihe
der Pappeln dahinter
an einer Boje ein
einziges Boot

So hat es das späte Gedicht „In Afermée“ festgehalten, das Sebald kurz vor seinem Tod im Dezember 2001 zur Drucklegung freigab. Dieses intensive Fluidum „zwischen Luftraum und See“ hat viele Schriftsteller magisch angezogen. Sebald war im Frühsommer 1996 nach Biel gekommen, um ein paar Tage Hotelgast auf der im Südwesten des Sees gelegenen Petersinsel zu sein, auf der einst Jean-Jacques Rousseau im Herbst 1795 die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht hatte. Wie Rousseau zeigte sich auch Sebald berührt von der Stille auf der Insel, die nur vom Gesang einiger Vögel unterbrochen wird.
Der Fährmann, mit dem Sebald auf die Insel übersetzte, war, wie es in Sebalds Rousseau-Essay heißt, ein „ausnehmend freundlicher“ Mann, „der seiner Gewohnheit entsprechend eine Kapitänsmütze trug, indische Bidis rauchte und verhältnismäßig wenig redete“.3 Kundige Büchermenschen aus der Schweiz wissen sofort, von wem hier die Rede ist: von dem bedeutenden Literaturkritiker Heinz F. Schafroth, dem es als langähriger Präsident der Literarischen Gesellschaft Biel immer wieder gelang, internationale Autoren von Rang in seine Stadt zu locken. 1964 hatte erzum ersten Mal Günter Eich und Ilse Aichinger nach Biel eingeladen, daraus entstand eine lebenslange Freundschaft. Und in diesem Zusammenhang soll – so haben es Schweizer Literaturhistoriker wie auch Eichs Biograf Roland Berbig überliefert – der Wunsch Günter Eichs entstanden sein, dass nach seinem Tod seine Asche in Alfermée ausgestreut wird. Um diesen Vorgang rankt sich eine fast mythische Erzählung, deren Verzweigungen ich hier nachgehen möchte.
Zur Vorgeschichte der Beisetzung Eichs gehört eine weitere Begegnung eines außerordentlichen Schriftstellers mit Heinz F. Schafroth. Im Erinnerungsbuch Zum Gedächtnis Günter Eichs4 entfaltet Wolfgang Koeppen eine fantastische Geschichte, die am Ende von einer unheimlichen Begegnung in einem „Fremdenheim“ auf einem hohen Berg außerhalb Biels handelt. Auch hier wird als Begleiter des Autors ein kundiger Mann vorgestellt:

In Biel in der Schweiz fuhr mich ein Schweizer Studienrat, gekleidet in Brechts Lederjacke und Brechts Ledermütze, in einem Auto, das Brechts Auto hätte sein können, als Brecht anfing, zu einem Fremdenheim, das weit vor der Stadt lag.5

Der Berichterstatter formuliert sein Unbehagen, das ihn in den Stuben des Fremdenheims befällt, das er mit dem „geheimen Gottessaal einer verfolgten Gemeinde“ vergleicht. Dieses Heim, so behauptet Koeppens Erzähler, habe Günter Eich „viele Male“ besucht und sich dort wohlgefühlt. Eine Recherche im Koeppen-Archiv ergibt, dass sich Koeppen im Januar 1970 tatsächlich in Biel aufgehalten hat. Und bei dem „Fremdenheim“ handelt es sich vermutlich um das damalige Gästehaus der Stadt Biel, das 1913 erbaute Kindersanatorium Maison Blanche im unweit von Biel gelegenen Leubringen.
Als Fahrer des Autors agiert wieder der diesmal als Mann im Brecht-Habitus porträtierte Heinz F. Schafroth. Er wird 1976 auch der erste Verfasser einer Monografie über Günter Eich. Darin ist über die Umstände von Eichs Beisetzung nichts zu erfahren. Erste Hinweise dazu lieferte ein Gedicht von Helmut Heißenbüttel, das in dessen Band Ödipuskomplex made in Germany (1980) zu finden ist.6 Das Gedicht „Schneelandschaft mit Günter Eich“ verweist auf eine Fahrt des lyrischen Ich nach Großgmain an der bayrisch-österreichischen Grenze:

Fahrt nach Groß-Gmain an der bayrisch-österreichischen Grenze Februar 78
hier lebte der Dichter Günter Eich ich besuche seine Witwe die Dichterin Ilse Aichinger
in dem von Schnee bedeckten Haus in dem unverändert Günter Eichs Schreibtisch steht
das Sofa auf dem er lag Tränen liefen ihm über die eingefallenen Backen in den struppigen Bart Maubeuge ist gefallen später
wird er islamisch eingesegnet worden sein
eine feurige Lohe wird ihn weggerafft haben wie den Propheten Elias mitten im Winter
die Asche verstreut auf den Weinbergen oberhalb Biel mitten im Winter

Aber wie kam es zu dem letzten Wunsch Eichs, dass seine Asche in Alfermée ausgestreut wird? Der Eich-Biograf Roland Berbig vermutet einen Zusammenhang mit dem Interesse Eichs an dem russischen Anarchisten Michail Alexandrowitsch Bakunin (1814–1876), einem von Eichs wichtigsten Kronzeugen für seine fundamentale „Herausforderung der Macht“.7 In seinen Maulwürfen schreibt Eich eine „Huldigung für Bakunin“8 und ernennt ihn zum wichtigsten Protagonisten jener „Narren auf verlorenem Posten“, denen seine Sympathien gelten:

Wir sind zu fünft unauffällig rasiert und versammelt. Der Wiedererwerb der Grabstelle ist gelungen, das feiern wir mit einer kleinen frauenlosen Andacht. Nachdem durchreisende Revolutionäre sich angewöhnt haben, leere Patronenhülsen als Gruß niederzulegen, auch verrostete Dolche fand man im Efeu, versuchen wir jetzt, die Fremdenverkehrswerbung zu unterwandern, planen eigene anarchistische Reiseprospekte.

Der alternde Bakunin hatte ab 1867 in der Schweiz und ab 1869 im Tessin gelebt, 1876 starb er in einer Klinik in Bern. Anlässlich seiner Beisetzung auf dem Bremgartenfriedhof in Bern hielten sieben Getreue pathetische Abschiedsreden, eine Szene, auf die der Bakunin-Maulwurf anspielt. Tatsächlich trug sich Eich mit dem Gedanken, dass seine Asche über Bakunins Grab verstreut wird. Als sich dieser Wunsch nicht erfüllen ließ, „überantwortete man die letzte Bitte Eichs“9 an das befreundete Ehepaar Ruth und Heinz Schafroth. Roland Berbig hat in seiner Eich-Biografie einige sehr genaue Hinweise geliefert, wo der Ort zu finden ist, an dem dann die Asche ausgestreut wurde. Berbig zitiert hierzu10 aus einem Brief von Bruno Schmid, einem Angehörigen jener niederbayerischen Familie, bei der Eich zehn Jahre seines Lebens verbracht hat:

Wir, die Geschwister Schmid, waren mit Mirjam Eich in der Schweiz, in Biel. Wir haben gemeinsam diese Stelle besucht, wo die Asche von Günter Eich von Ilse Eich und den Kindern verstreut wurde. Wir waren Gast bei der Familie Schafroth […]. Günter Eich und seine Familie sind gute Freunde von der Familie Schafroth. Deshalb haben sie diese Stelle ausgesucht für die Asche. Nur 10 Minuten vom Wohnhaus am See oberhalb der Weinberge in einem Stück steinigem Brachland unter einigen jungen Eichen liegt die Stelle.
Der Grundstücksbesitzer weiß davon nichts.

So gehe ich mit meinem Begleiter zunächst den Weg vom Wohnhaus der Schafroths in der Gaichtstraße wenige Meter hoch bis zum Bielweg, danach erkunden wir einige Nebenwege, die auf bewaldetes Terrain führen. Unsere Annäherungsbewegung führt immer weiter in die Höhe, um das steinige Brachland und die besagte kleine Eichengruppe zu finden. An einem Aussichtspunkt treten wir den Rückweg an und gelangen schließlich im Gruebmattweg an eine vereinzelte Baumgruppe. Wir vergleichen unsere Ergebnisse mit dem entsprechenden Fotodokument in Roland Berbigs Eich-Biografie. Immer wieder schauen wir auf den See hinunter, der in der Tiefe plötzlich in einem eigentümlichen Licht schimmert. Nur ein einziges Schiff ist auf ihm unterwegs.

Michael C. Braun, aus Michael Braun (Hrsg.): „Was ich weiß, geht mich nichts an“. Zu Günter Eich, poetenladen 2022

 

GÜNTER EICH

Meditierend
gebeugt über leere Brunnen
voll Hoffnung
auf Regen

Keine Schwermut
aus sich abwendendem
Palmenexotismus

Ein Schmerz
herrührend
von einem Stein auf dem er
in der Kindheit lag

Damals schon
spielten seine Gedanken mit Worten
die später bei Hart Crane standen
mit Einsichten die keine Gardinen
vorm Fenster zum nächtlichen Universum waren
sondern
Kerle mit denen er den Himmel
in immer ungläubigere Stücke schlug

Seine Statthalterschaft über Taubenreiche

er schenkt sie ratlos weiter
an Mirjam
an Landschaften und Meere
er wickelt sie imaginären Vögeln
als Ring um den Fuß
damit sie aufsteigen
in löchrige
Transzendenz
aaaaaaaaaaaaaDer Hand
aaaaaaaaaaaaawachsen Entfernungen zu
aaaaaaaaaaaaadem Schachbrett
aaaaaaaaaaaaaQuadrate
Oder wie Mr. Eliot sagte:
„Home is where one Starts from. As we grow older
The world becomes stranger, the pattern more complicated
Of dead and living.“

Nur an windstillen Tagen
(so denke ich)
an Tagen mit hohem Luftdruck
hat er eine zerbrechliche Vorstellung
von Ewigkeit: statisch muß sie sein

wie der spätsommerliche Wipfel eines Baumes
in dem sich nichts regt

Hans-Jürgen Heise

 

KOMMT DIE NACHT
(Für Günter Eich)

Kommt die Nacht und legt sich
Aus im Sternentuch.
Unterm Winde regt sich
Karamelgeruch,
Süßes Malz, vom Boden
Duftet es mich an,
Platt als schwarzer Hoden
Schwankt’s indes heran:

Keim aus Luft und Stille,
Der ins Haar mir weht,
Dunkler Zeuge-Wille,
Der zur Erde dreht.
Und ich halt die Augen
In das Finstre hin.
Mit der Kühlung saugen
Sie schon andren Sinn,

Sehen am Geäste,
Wie es mühsam rauscht,
Lautlos sich die feste
Frucht zur Kugel bauscht,
Die im grünen Sprunge
Sich im All verirrt,
Hinterm kühnen Schwunge
Stoff des Schweigens wird.

Sanftem Zeitvergange
Leihe ich mein Ohr,
Lock die Sternenschlange.
Zieh den Mond hervor.
Wie im Gras sich gattet
Geist mit zartem Hauch,
Sinke ich ermattet,
Schwind’ zu feuchtem Rauch.

Karl Krolow

 

 

Dichterlesung am 1.1.1959 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. Moderation: Siegfried Unseld. Günter Eich liest die Gedichte „Herrenchiemsee“, „Himbeerranken“, „D-Zug München-Frankfurt“ und „Wo ich wohne“ sowie zwei Szenen aus seinem Hörspiel Unter Wasser.

Samuel Moser: Welt der Literatur – Mir klingt das Ohr – doch wer kann mich meinen? Ein Porträt des Dichters Günter Eich.

Ein geheimer Sender, der weiterschabt in unserem Ohr – Ein Gespräch von Michael Braun mit dem Lyriker Jürgen Nendza. Über Günter Eich, die Vokabel „und“ und über Gedichte zwischen „Haut und Serpentine“

Hans Magnus Enzensberger: Überlebenskünstler Günter Eich

Kurt Drawert: Er hatte seine Hoffnung auf Deserteure gesetzt

Am Rande der Welt Roland Berbig im Gespräch mit Michael Braun über den Briefwechsel von Günter Eich mit Rainer Brambach

 

 

Zum 60. Geburtstag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: Zum 60. Geburtstag von Günter Eich
Die Tat, 26.1.1967

Zum 65. Geburtstag des Autors:

Jürgen P. Wallmann: Auf der Suche nach dem Urtext
Die Tat, 28.1.1972

Zum 70. Geburtstag des Autors:

Johannes Poethen: Wirklichkeiten hinter der Wirklichkeit
Die Tat, 28.1.1977

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Eva-Maria Lenz: Erhellende Träume
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.1.1987

Rudolf Käser: … das Zeitliche habe er nicht gesegnet
Neue Zürcher Zeitung, 29.1.1987

Zum 20. Todestag des Autors:

Peter M Graf.: Singt die Lieder, die man aus eurem Mund nicht erwartet
Der kleine Bund, Bern, 19.12.1992

Götz-Dietrich Schmedes / Hans-Jürgen Krug: Das Wort in ständigem Wechsel mit dem Schweigen
Frankfurter Rundschau, 19.12.1992

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Christoph Janacs: Sand sein, nicht Öl im Getriebe
Die Presse, 27.1.2007

Roland Berbig: Maulwurf im Steingarten
Der Tagesspiegel, 1.2.2007

Helmut Böttiger: Stil ist ein Explosivstoff
Süddeutsche Zeitung, 1.2.2007

Michael Braun: Narr auf verlorenem Posten
Basler Zeitung, 1.2.2007

Ole Frahm: Der Konsequente
Frankfurter Rundschau, 1.2.2007

Martin Halter: Seid Sand im Getriebe!
Tages-Anzeiger, 1.2.2007

Samuel Moser: Spuren eines Maulwurfs
Neue Zürcher Zeitung, 1.2.2007

Iris Radisch:  Man sollte gleich später leben
Die Zeit, 1.2.2007

Sabine Rohlf: Dichtkunst mit Maulwürfen.
Berliner Zeitung, 1 2.2007

Hans-Dieter Schütt: Der linke Augenblick
Neues Deutschland, 1.2.2007

Wulf Segebrecht: Schweigt still von den Jägern
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.2.2007

Jürgen P. Wallmann: Gedichte und Maulwürfe
Am Erker, 2007, Heft 53

Jörg Drews: Wenn die Welt zerbricht
Die Furche, 1.2.2007

Zum 50. Todestag des Autors:

 

 

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shi 詩 yan 言 kou 口

 

Günter Eich – Ein Film von Michael Wolgensinger aus dem Jahr 1972.

„Deshalb ist er immer auf den Berg gegangen“. Mirjam Eich spricht hier mit Michael Braun und Jürgen Nendza u.a. über diesen Film.

 

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