„ARCHÄOLOGISCHE FAKTEN EINER SCHRIFTSTELLEREXISTENZ“
– Notizen zur Günter Kunert-Ausstellung der Stadt- und Universitätsbibliothek Frankfurt a.M. –
Zu sehen ist: der Dichter als Abiturient, die späteren prägnanten Gesichtszüge nur unentwickelt erkennbar, der Dichter, gereift, barfüßig am Schreibtisch dichtend, der Dichter, mit Krawatte, vor der Festgemeinde für die Verleihung des Preises dankend, der Dichter, im Pullover, mit anderen Dichtern in der Pause der Dichterversammlung über Dichter sprechend. Dazwischen, reichlich, Manuskripte, Notizen, Durchgestrichenes, auch Korrekturfahnen und Erstausgaben, Post von anderen Prominenten, Rezensionsausrisse aus führenden Tageszeitungen und kulturellen Magazinen: Literatur-Ausstellungen haben andeutenden Charakter, ihre Exponate „weisen hin“, erklären selbst weniger, als sie genauer erklärt werden müßten. Und sie wirken weniger durch sich selbst, als sie zu einem System möglicher und vielleicht erklärbarer Wirkung gehören: weniger (hoffentlich) Kultgegenstände für Kulturschauer – was ist schon ein flüchtiges Manuskript gegen Tut-anch-Amons Schmuck –, eher Quittungen des Dagewesenseins, Petrefakten einer Biographie, Steinbruch auch eines Œuvre: „archäologische Fakten“ eben „einer Schriftstellerexistenz“ (eine Formulierung Kunerts in einem Brief).
Auch unsere Ausstellung unterliegt solchen Zwängen. Und dennoch: Der Versuch sollte, wenigstens in Umrissen, gemacht werden, vom lästigen, nur biographistischen „Werkstatt“-Voyeurismus wegzugehen, dagegen die „öffentliche Person“ eines Autors vorzuzeigen, der Bücher nicht unbedingt für Bibliothekare und Bibliographen, wie wertvoll diese auch immer für die Literatur-Verwaltung sein mögen, „veröffentlicht“, sondern, wenn es geht, für Leser. Darum wurde nicht nur ein Querschnitt durch 30 Jahre Kunert-Publikationen zusammengestellt, geordnet nach hauptsächlichen Interessengebieten („Lyrik“ – „Prosa“- „Hörfunk/Fernsehen“ und „Arbeiten mit Literatur“), sondern auch, bei vielen Objekten, die Möglichkeit angeboten, in den Büchern selbst zu lesen (durch die Wiedergabe ausgewählter Seiten in fotografischer Vergrößerung), selbst dem Werk, was immer das bedeuten mag, „gegenüberzustehen“: ein zitatenhaftes Bruchstück Kunert-Lesebuch in Vitrinen.
Aus der Literaturgeschichte sind viele Beispiele dafür bekannt: Wenn etwas bleibt, ist es oft das Werk (ein Gedicht zum Beispiel), und nicht die Person, die schrieb. Darum versuchen wir, mehr „Schriften“ auszustellen, und weniger „Autor“.
Daneben, zur vielleicht erwünschten „Vertiefung“ (wenn sie das ist), einige Ausschnitte aus Rezensionen. Und nur gelegentlich, als Ergänzung, wenige Manuskripte.
Günter Kunert arbeitet außer als Textautor auch als Grafiker und Maler: Diese Exponate hat er selbst ausgesucht und zur Verfügung gestellt. Da er einige seiner Bücher selbst illustriert oder mit Vignetten versehen hat, zeigen auch diese Stücke einen Teil der „veröffentlichten Person“ Kunert: optische Belege, Seitenstücke und Varianten zu seinen Themen, von Wegschilder und Mauerinschriften bis Abtötungsverfahren. Und weiter.
Alfred Estermann
Im Sommersemester 1981 ist die Stiftungsdozentur für Poetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Günter Kunert übertragen worden. Seine Vorlesungsreihe trägt den Titel „Vor der Sintflut – das Gedicht als Arche Noah“.
Zum dritten Mal – nach den Ausstellungen zu Peter Rühmkorf und Martin Walser – nutzt die Stadt- und Universitätsbibliothek den Anlaß der Poetikvorlesung gern, um in einer parallelen Veranstaltung den Schriftsteller mit seinem gesamten Werk vorzustellen. Dies erscheint bei Günter Kunert besonders reizvoll, weil ein breites Spektrum künstlerischer Gestaltungsformen gezeigt werden kann. So ist zu hoffen, daß der Hörer der Vorlesung durch das anschauliche Material die Erkenntnis vertiefen und der Besucher der Ausstellung animiert werden kann, die öffentliche Vorlesung zu besuchen. Auf diese Weise würde die nun schon bewährte Zusammenarbeit zwischen Universität und Bibliothek bei der Stiftungsdozentur eine Bestätigung erhalten.
Bei der Vorbereitung der Ausstellung hat sich bestätigt, mit welchem Recht Frankfurt als Buchstadt gelten kann. Neben den umfassenden Beständen der Stadt- und Universitätsbibliothek als der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Schwerpunktbibliothek für Germanistik wurden auch andere Ressourcen genutzt. So konnten aus den verschiedenen Literaturbeständen der Stadt alle Erstausgaben von Kunerts Werken zusammengetragen werden. In diesem Zusammenhang sei der Deutschen Bibliothek für die Unterstützung der Ausstellung besonders gedankt.
Ein gleicher Dank gilt nicht zuletzt Günter Kunert selbst, der auf großzügige Weise mit einer Fülle von Materialien und persönlichen Dokumenten die Ausstellung bereichert hat. Erst durch seine Exponate konnte die Ausstellung im angedeuteten Umfang realisiert werden.
Hilmar Hoffmann und Klaus-Dieter Lehmann, Vorwort
EIN WI(E)DERWORT FÜR GÜNTER KUNERT
Ihr Kampfgenossen all
Ihr könnt mich mal
mir hängt mein Grinsen
schon längst zum Maul raus ich
geh lieber in die Binsen
Schnitz mir aus Schilfrohr
eine helle Flöte
blas auf dem letzten Loch
der Abendröte
,dem Morgenrot entgegen‘
1978
Ulla Hahn
Binsen Grinsen
Seid ihr noch da?
Ihr Kampfgenossen all
ihr Brüder Schwestern
auf dem langen Marsch
zur Sonne und zur Freiheit
Seit an Seit
und immer noch
und immer immer wieder
dem Morgenrot entgegen.
2014
Ulla Hahn
Armin Zeissler: Notizen über Günter Kunert, Sinn und Form Heft 3, 1970
Cornelia Geissler: Die Welt ertragen
Berliner Zeitung, 6.3.2009
Fred Viebahn: Ein unbequemer Dichter wird heute 80
ExilPEN, 6.3.2009
Reinhard Klimmt: Günter Kunert
ExilPEN, 6.4.2009
Hannes Hansen: Ein heiterer Melancholiker
Kieler Nachrichten, 5.3.2009
Renatus Deckert: „Ich bin immer noch naiv. Gott sei Dank!“
Der Tagesspiegel, 6.3.2009
Hubert Witt: Schreiben als Paradoxie
Ostragehege, Heft 53, 2009
Peter Mohr: Die Worte verführten mich
lokalkompass.de, 3.3.2014
Schreiben als Selbstvergewisserung – Dichter Günter Kunert wird 85
Tiroler Tageszeitung, 4.3.2014
Wolf Scheller: Die Poesie des Melancholikers
Jüdische Allgemeine, 6.3.2014
Reinhard Tschapke: Der fröhlichste deutsche Pessimist
Nordwest Zeitung, 2.3.2019
Günter Kunert im Interview: „Die Ideale sind schlafen gegangen“
Thüringer Allgemeine, 4.3.2019
Günter Kunert im Interview: „Die Westler waren doch alle nur naiv“
Göttinger Tageblatt, 5.3.2019
Katrin Hillgruber: Ironie in der Zone
Der Tagesspiegel, 5.3.2019
Benedikt Stubendorff: Günter Kunert – 90 Jahre und kein bisschen leise
NDR.de, 6.3.2019
Matthias Hoenig: „So schlecht ist das gar nicht“
Die Welt, 6.3.2019
Tilman Krause: „Ich bin ein entheimateter Mensch“
Die Welt, 6.3.2019
Günter Kunert – Schreiben als Gymnastik
mdr.de, 6.3.2019
Peter Mohr: Heimat in der Kunst
titel-kulturmagazin.net, 6.3.2019
Knud Cordsen: Der „kreuzfidele Pessimist“ Günter Kunert wird 90
br.de, 6.3.2019
Studio LCB mit Günter Kunert am 1.4.1993
Lesung: Günter Kunert
Moderation: Hajo Steinert
Gesprächspartner: Ulrich Horstmann, Walther Petri
Beim 1. Internationalen Literaturfestival in Berlin, am Samstag, den 16. Juni 2001, lesen im Festsaal der Sophiensäle in Berlin-Mitte die Lyriker Rita Dove (USA), Günter Kunert (Deutschland) und Inger Christensen (Dänemark), gefolgt von einer Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum (moderiert von Iso Camartin).
Günter Kunert bei www.erlesen.tv.
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