– Zu Bertolt Brechts Gedicht „Gemeinsame Erinnerung“ aus Bertolt Brecht: Die Gedichte von Bertolt Brecht in einem Band. –
BERTOLT BRECHT
Gemeinsame Erinnerung
Nacht auf der Nyborgschaluppe
Frührot im finnischen Ried
Zeitung und Zwiebelsuppe
New York, fifty-seventh Street
Im Paris der Kongresse
Svendborg und Wallensbäk
Londoner Nebel und Nässe
Auf der „Anni Johnson“ Deck
Zelt auf der Birkenkuppe
In Marlebaks Morgengraun
O Fahne der Arbeitertruppe
In der Altstadt von Kobenhavn!
Zugegeben: Brechts „Gemeinsame Erinnerung“ gehört nicht zu seinen allerbesten Gedichten. Doch es ist aus einem eigentlich unliterarischen Grunde bemerkenswert: Es besitzt ein Pendant, dessen Autor kein anderer ist als Gottfried Benn.
Die „Gemeinsame Erinnerung“ (in der sich kein Wort auch nur andeutungsweise auf eine Gemeinsamkeit, auf ein Wir oder Du bezieht) wurde 1943 in der Emigration geschrieben, Benns Gedicht „Reisen“ hingegen zum ersten Male 1950 veröffentlicht. Formal, das heißt in Reim und Metrum, sind beide Gedichte fast identisch; Brechts ist um eine vierzeilige Strophe kürzer. Und beide summieren topographische Angaben, freilich mit unterschiedlichem Resümee. Benns Gedicht verklingt in Resignation. Brechts mit einer metaphorischen Anspielung auf die soziale Utopie. Aber beide Male ist der Ursprung des Unternehmens ein „Besuch bei der Welt“.
Brechts Erinnerungen geben sich unpathetisch, fast nüchtern und lassen kaum etwas vom Lebensgefühl des in die Fremde Verschlagenen ahnen: Zweimal findet Erwachen statt, beim „Frührot im finnischen Ried“ und in „Marlebaks Morgengraun“ im Zelt, das den einzigen Hinweis auf etwas wie Gemeinsamkeit enthält. Den Topoi „Frührot“ und „Morgengraun“ entspricht hier nicht der aus deutscher Dichtung bekannte „frühe Tod“, vielmehr ein revolutionäres Erwachen:
O Fahne der Arbeitertruppe.
In dieser Wendung, einer Formel aus dem Dunstkreis des sozialistischen Realismus, dessen Forderung sich auf positive Schlüsse kaprizierte, steckt eine Schwäche des Gedichts. Es findet eine Umschaltung statt: Von den Realitäten, konkret und „wertfrei“ gesehen, auf ein Symbol: O Fahne. Diese Fahne ist ein Gegenstand unter den anderen, sie bedeutet etwas, stellt etwas dar und steht für etwas anderes ein: für die Überzeugung, daß das unfreiwillige Reisen letzten Endes seine höhere Rechtfertigung finde. Ein Irrtum, wie ich meine, dem ein andersgearteter Irrtum, mit dem Benns Gedicht schließt, entspricht.
Benns „Reise“ ist eine fiktive; wenig von dem Benannten hat er wirklich gesehen:
Bahnhofstraßen und Ruen,
Boulevards, Lidos, Laan –
selbst auf den Fifth Avenuen
fällt Sie die Leere an
Hier gibt sich der Reisende sophisticated, ohne tatsächliche Begründung für sein Gelangweiltsein. Und ich fürchte, Benns lyrische Zurückweisung der Welt resultiert nur aus dem Umstand, sie versäumt zu haben, nach dem Motto: Was ich nicht kriege, will ich auch gar nicht. Wie ärmlicher, pietistischer Selbsttrost klingt das:
Ach, vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
bleiben und stille bewahren
das sich umgrenzende Ich.
Verteidigt sich dergestalt die „innere Emigration“ vor der anklagenden Tatsache der äußerlich erzwungenen, indem sie sich eines eigenständigen Wertes, nämlich der Bewahrung von exklusiver Individualität rühmt? Wird unbewußt ein Alibi angestrebt? Die Verinnerlichung gefeiert
Extroversion und Introversion: bei Brecht ein subjektloser Monolog, in welchem Stationen einer Biographie die Basis bilden, wobei der Biograph seiner selbst so weit in seinem Stoff aufgeht, daß nichts Eindeutiges von ihm übrigbleibt, während bei Benn der Dialog scheinhaft ist und die Rede sich nur an das eigene Ich wendet, dem, Höhepunkt der Selbstbezogenheit, eine Erfahrung zugeschrieben wird, die es gar nicht gemacht hat.
Wie oft haben wir gehört, die Intentionen des Autors bestimmten auch seine Schreibweise, seine Ästhetik, seine Ausdrucksformen. Angesichts dieser beiden so gegensätzlichen Gedichte, die dennoch mit der gleichen Nadel genäht zu sein scheinen, muß man, um einen Brecht-Titel zu variieren, nach der Willfährigkeit der Literatur (in Hinsicht auf ihre Mittel) fragen. Schreibt sich die Form nicht mehr selber zwingend vor, so ist es vielleicht auch mit unseren Intentionen nicht sehr weit her, deren Schwäche sich durch den Griff in den Fundus des „lyrischen Schatzkästleins“ aller Epochen und Gegenden kundtut.
Günter Kunert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zwölfter Band, Insel Verlag, 1989
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