Günter Kunert: Zu Günter Eichs Gedicht „Hoffnungen“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Hoffnungen“ aus Günter Eich: Ein Lesebuch. –

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Hoffnungen

Die Sondermarken sind gestempelt,
die Tonbänder überspielt,
Bahnsteigkarten von Sarajevo
sammelt niemand.
Ich habe meine Hoffnung
auf Deserteure gesetzt.

Die Körperschaften
des öffentlichen Rechts
lassen Wasser durch.
Steh auf, Spengler,
schon rötet der Morgen
die Parkplätze, es ist
noch alles voll Hoffnung.

 

Sarajevo

Manchmal, nämlich mit dem Wandel der Zeiten, bietet sich ein Text, ein Gedicht als Stolperstein dar. Justament so erging es mir mit Günter Eichs „Hoffnungen“, aus denen mir ein Name entgegenfiel: Sarajevo. Der Kontext unserer Wirklichkeit verändert die Leseweise. Noch vor wenigen Jahren hätten wir die Ortsbezeichnung in archäologisch-historisierendem Sinne verstanden – eben wie Eich es auch gemeint hat: als etwas endgültig Gewesenes. Die erste Strophe markiert die geschichtliche Zäsur, zumindest wie der Autor sie empfand. Die Vergangenheit ist abgeschlossen; sie scheint archiviert.
Die Hinwendung zur Gegenwart (und wohl auch zur Zukunft) gibt sich optimistisch, in Vorwegnahme des später gängigen und inflationierten Slogans „Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin“. Eichs Hoffnung auf Deserteure resultiert aus der fragwürdigen Annahme, wir wären befähigt, aus geschichtlichen Erfahrungen Lehren zu ziehen. Die große Verweigerung als Mittel der Friedenssicherung – eine solche Illusion erscheint wie aus einem Brechtschen Lehrgedicht entnommen, wo ebenfalls auf die Widerstandskraft der Vernunft gesetzt wird. Es klingt dennoch wie Pfeifen im Dunkeln.
Wie die erste Strophe, so paraphrasiert auch die zweite das „Prinzip Hoffnung“, indem sie, wiederum mittels einer Analogie, ihre Erwartung personalisiert. In der vierten Zeile, der Drehachse der zweiten Strophe, steckt, ob bewußt oder unbewußt, ein mit leichter Ironie verwandtes und variiertes Zitat, und zwar aus dem Großen Gesang von Pablo Neruda:

Holzfäller, wach auf!

Doch während bei Neruda der appellative Gestus noch ungebrochen auftaucht, ist diesem bei Eich der Ernst genommen. Das revolutionäre Moment, zwar noch vorhanden, ist durch Witz abgemildert, ohne jedoch gänzlich verschwunden zu sein. Die „Körperschaften öffentlichen Rechts“, Symbole für die Herrschaftsstruktur, sind brüchig geworden, funktionieren nicht mehr so recht: da muß der Klempner her, der „common man“, die Allegorie des „einfachen Mannes“, der alles schon richten wird. Denn auch die Tagfrühe mit ihrer Verfärbung bedeutet mehr als nur eine prosaische Information über die Uhrzeit. Wenn der Morgen in einem Gedicht etwas rötet – und seien es Parkplätze –, dann können wir des Symbolgehaltes ziemlich sicher sein. Die Aufbruchstimmung ist eindeutig. Und mit dem Ausklang, daß noch alles voll Hoffnung sei, bezieht sich der Lyriker selbstverständlich auf eine gesellschaftlich bedingte Künftigkeit.
In Eichs Gedicht rumort bereits das Jahr 1968, wobei damals, es war zu erwarten, der Klempner zu Hause blieb und keinen Aufstand vollzog. Mit unsern heutigen Augen gelesen, macht soviel Hoffnungsfülle des Textes melancholisch. Ließe sich Literatur wie eine veraltende wissenschaftliche Erkenntnis widerlegen, müßte man angesichts dieser beiden Strophen sagen: die Historie ist ihnen nicht gerecht geworden. Aber Literatur, insbesondere Lyrik, erweist sich nicht nur als der oben erwähnte Stolperstein, sondern auch als Prüfstein für unser eigenes Verhältnis zur Realität. Anhand des unerwartet aktuell gewordenen Wortes „Sarajevo“ und der verlorenen Illusionen über unsere Humanisierung erkennt man, im Vergleich mit Eichs Gedicht, die wachsende Kluft zwischen unseren einstigen Träumen und unseren gegenwärtigen Taten.
Aus diesem gutwilligen, unpathetischen, ja lächelnden Gedicht tritt uns, nur leicht maskiert, die Gestalt des neunzehnten Jahrhunderts entgegen, das noch an den Fortschritt, auch an den des menschlichen, glaubte.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebzehnter Band, Insel Verlag, 1994

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