Günter Kunert: Zu Günter Kunerts Gedichten „Ikarus 64“ und „Notizen in Kreide“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

− Zu Günter Kunerts Gedichten „Ikarus 64“ und „Notizen in Kreide“ aus Günter Kunert: Notizen in Kreide. −

 

 

 

GÜNTER KUNERT

An zwei Gedichten möchte ich ein Prinzip demonstrieren, das der Lyrik eingeboren ist, wie ich meine, und das in der Praxis des Schreibens zutage tritt, des Schreibens von Gebilden, merkwürdigen, Gedichte geheißen, zu deren Erklärung wir uns immer wieder neue Erklärungen ausdenken, die immer wieder nur bedingt Geltung besitzen. Solange nämlich, bis entdeckt wird, wie falsch sie sind. Aber sie waren nicht falsch, sie wurden’s – wie ein nagelneuer Klassiker meinte.
Anhand der beiden folgenden Gedichte will ich versuchen, von diesem Prinzip etwas deutlich zu machen.

 

IKARUS 64

1

Fliegen ist schwer:
jede Hand klebt am Gehebel von Maschinen:
geldesbedürftig.
Geheftet die Füße
an Gaspedal und Tanzparkett. Fest eingenietet
der Kopf im stolzen im fortschrittlichen
im vorurteilsharten
Sturzhelm.

2

Ballast: das mundwarme Eisbein
in der Familiengruft des Magens.
Ballast: das finstere Blut
gestaut an hervorragender Stelle
gürtelwärts.
Töne
erster zweiter neunter dreißigster Symphonien
ohrhoch gestapelt zu kulturellem Übergewicht.
Verpulverte Vergangenheit
in handlichen Urnen verpackt.
Tankweis Tränen im Vorrat unabwerfbare:
Fliegen ist schwer.

3

Dennoch breite die Arme aus und nimm
einen Anlauf für das Unmögliche.
Nimm einen langen Anlauf damit du
hinfliegst
zu deinem Himmel
daran alle Sterne verlöschen.

Denn Tag wird.
Ein Horizont zeigt sich immer.
Nimm einen Anlauf.

 

NOTIZEN IN KREIDE

1

Eingerichtet auf dem Gestirn
unseres Schmerzes
als Baracke. Aber fester denn jede Festung
und dauernder. Ausgesetzt
den bittersten Wettern. Ewiges Provisorium:
ich.

2

Durchgangsstation
für Gefühle Gedanken Geträum.
Nach kurzem Aufenthalt
aufs immer neue leer und verödet
der Bahnhof meines angstvollen meines heillosen
Gebeins:
Aufgewirbelt
sinken zurück auf den versteinten Grund
die Ascheflocken einst lebendig und verwandt
demselben
der täglich meine Haut zu Märkten trägt
und nicht fragt nach dem Preis.

3

Denen
sechs Millionen Tote eine Zahl ist
wie sechs Millionen Mark
wie sechs Millionen Sterne
wie sechs Millionen Konservenbüchsen
die Immergleichen
bekopfschütteln und verachselzucken
jenen den mein Name
entlarvt:

Der umherirrt
zwischen allen die keiner begraben kann
mit willfähriger Hand
kein Handlanger dieses Planeten auf diesem
Planeten:

Weil dessen Kruste aus Vergessen
noch zu dünn und
zu lebendig die fleißigen Töter
noch und wieder noch.

 

Paradoxie als Prinzip

Formal unterscheiden sich beide Gedichte unwesentlich voneinander; beide bestehen aus freien Rhythmen ohne Reim und enthalten metrische Rudimente, daktylische Restbestände, wie beispielsweise IKARUS 64, wo sie den Eindruck fortwährend neuen Anlaufs erwecken sollen:

Bállast das múndwarme Éisbein −
Bállast das fínstere Blut −

eines Anlaufs, der jedoch ständig abgebrochen wird; formale Entsprechung des Inhalts. Es findet sich Alliteration zwecks Vereinheitlichung von Sprachelementen, die als heterogen empfunden werden, obwohl sie auf der Bedeutungsebene der Gedichte zusammengehören: das ist die verpulverte Vergangenheit, sind die tankweisen Tränen, fester als Festung, Gefühle Gedanken Geträum. Und beide Male erscheint das lyrische Ich als Legierung individueller und gesellschaftlicher Komponenten. Aus diesen Komponenten entsteht der Spannungszustand des Gedichts; ein Spannungszustand, der aus dem scheinbar Widersinnigen, Unzuvereinbarenden herrührt: aus der Paradoxie. Paradoxie ist aber nichts weiter als die Momentaufnahme, als der Schnappschuß eines dialektischen Vorganges. Er ereignet sich im Gedicht im lyrischen Ich zwischen dessen subjektivem und objektivem Teil.
Wo nun erscheint das dialektische Paradoxon in den beiden Gedichten?
In IKARUS 64 erscheint es da, wo ein Axiom bejaht und verneint wird: Fliegen ist schwer. In den ersten beiden Strophen wird nachgewiesen, daß es nicht nur schwer, sondern daß es unmöglich ist. Die Gründe werden aufgezählt. In der dritten Strophe aber findet der so oft zitierte „Umschlag“ statt, tritt die Peripetie ein. Die Unmöglichkeit des Fliegens wird nicht bloß gefordert, die Aufforderung läßt in ihrem Verlauf das Fliegen als schon bevorstehend vermuten: „… Anlauf, damit du / hinfliegst / zu deinem Himmel / daran alle Sterne verlöschen…“ Wobei die Jargonbedeutung des Verbs: „hinfliegen“ das mögliche Mißlingen enthält. Doch am Ende zeigt sich ein Horizont: damit geht der Prozeß weiter, erhält er Perspektive, Öffnung, Unabgeschlossenheit, was ebenfalls zur Spannung wie zum Realismus des Gedichts gehört. Von Realismus später: denn auch ich kann dem, was den deutschen Dichter seit eh und je ziert und was er gerne ablegt, ein Bekenntnis nämlich, nicht entsagen. Ich bin Realist und behalte mir eine Definition vor.
Ins Unabgeschlossene geht auch NOTIZEN IN KREIDE: das lyrische Ich, zerteilt in natürliches und soziales Produkt und mit großer Gewalt aus diesen beiden Teilen zu einem Geschöpf zusammengefügt, bewegt sich ähnlich wie das in IKARUS 64; auch diesem Ich ist das Unmögliche eingebrannt: das Vergessen vergessen zu machen. Nach dem Bild verbrannter Vergangenheit, die als Ascheflocken erscheint, Vergangenheit, die das lyrische Ich nicht halten kann: „… aufs immer neue leer und verödet / der Bahnhof meines angstvollen meines heillosen / Gebeins“, wird die Wende wiederholt: das Vergehen der Vergangenheit aufgehalten. Und wirklich: die Vergangenheit bleibt und bleibt relevant, weil die Mörder noch umgehen. Auch hier das Paradoxon: Unmöglichkeit, ein historisches Plusquamperfekt zum Präsens zu machen, und es doch zu tun, wenigstens im Negativum: das Gestohlene ist im Dasein des Diebes noch präsent. Durch die Existenz der Mörder sind die Ermordeten noch vorhanden – im Bewußtsein der Lebenden. Das ist das Paradoxon von NOTIZEN IN KREIDE.
Ganz nebenbei ist es für mich weitaus mehr als das, als die Aufnahme eines gängigen Themas: es ist ein Gedicht gegen die Pest unserer Zeit: gegen den Faschismus. Obwohl ich in einem Staat lebe, dessen Beginn aus einer historischen Zäsur erwächst und der daher die Erbschaft mörderischer deutscher Misere nicht antrat, bedrückt mich das kontinuierliche Fortkommen der Schuldträger im anderen deutschen Teil. Meine Erfahrungen, ich gestehe es ein, machen mich zum Realisten.
Realismus in der Gegenwart, der erstrebenswert ist, mir zumindest, erscheint als Haltung, die die großen politischen ökonomischen gesellschaftlichen Zusammenhänge nicht als unwürdige unreine unpoetische Plattheiten ansieht, sondern begriffen hat, wie sehr das Individuum an ihnen teilnimmt; mehr: daß eigentlich sie, die Umstände, im wahrhaftigsten und tiefen Sinn des Wortes den Menschen ausmachen. Diesem Realismus nützlich ist solche Paradoxie, die dialektische Momente sichtbar werden läßt. Paradoxie erzeugt nicht von selber Realismus: die Extreme, die sich da berühren, unvereinbare Pole, die nebeneinanderrücken, müssen schon in der wirklichen Wirklichkeit aufeinander bezogen sein. Wünschenswert gleichfalls, wenn die einzelne Metapher, wenn selbst das Gedichtdetail Assoziation von Wirklichkeit bewirkt. Eine Zeile aus IKARUS 64 soll das illustrieren: „Ballast: das mundwarme Eisbein / in der Familiengruft des Magens.“ Vorstellbar sei die Vorstellung von der physischen Abhängigkeit von biologischen Vorgängen; die Familiengruft des Magens, Verdauungsapparat einer Gattung, in der biologisch verwandte Gattungen verschwanden und verschwinden werden; das „mundwarme Eisbein“ ist nicht allein wortspielerische Antinomie, es zeigt gleichermaßen das Unappetitliche und Erniedrigende dieser Abhängigkeit, keiner soziologisch determinierten Abhängigkeit: zu der kommen wir mit den Symphonien, dem kulturellen Übergewicht, der verpulverten Vergangenheit, einer ganz speziell deutschen Prä- und Deformation.
Mir scheint, da ich heute nach zwei Jahren versuche, dieses Gedicht zu erklären, daß es einen weiteren realistischen Zug enthüllt: den des Gleichnisses. Denn kein literarisches Produkt kann eigentlich realistisch genannt werden, wenn es sich nicht auch von der Realität emanzipiert, von der es lebt, um gültig für andere Realitäten zu werden.
So ist in NOTIZEN IN KREIDE gleich eingangs versucht, im Selbstbildnis des Subjekts den Menschen als das zu sehen, was er höchst ungern ist: als unentwegten Vorläufer. „Als Baracke / aber fester denn jede Festung“, sagt nicht einfach einen menschlichen Status aus, wohl aber einen, dessen Zeit- und Situationsbedingtheit im Vergleich mit vorhergehenden Literaturen offenkundig wird. Das Gefühl, in einem endlosen unaufhörlichen Übergang zu leben, war noch nie so stark wie heute; nicht klimatische, sondern gesellschaftliche Katastrophen und Wandlungen in den letzten fünfzig Jahren haben die Ansicht bestärkt, wie improvisiert und provisorisch unser Dasein ist. Damit von unseren Städten mehr bleibt als der, der durch sie hindurchging, der Wind, ist eine lang anhaltende, wenig gewalttätige, gesicherte Entwicklung nötig; ohne Bedrohung durch die vielfältigen Schrecknisse unseres Jahrhunderts.
Bisher habe ich vom Paradoxon gesprochen; das aus der strukturellen Spannung des lyrischen Ich erwächst, die sich dem Leser mitteilt, auf ihn überspringt, von ihm mit erlitten wird; darin ein Prinzip des Gedichts zu sehen und es auszunutzen erscheint mir vorteilhaft.
Ich möchte den Paradoxie-Begriff noch ausweiten; sehen wir vom lyrischen Ich ab und betrachten wir den inneren und äußeren Status des Gedichts überhaupt. Ich meine damit die Beziehung des Gedichts zu sich selbst und zur Welt. In der Beziehung zu sich selbst erweist sich die Paradoxie als immerwährende Tendenz zu Totalität, Allgemeingültigkeit, Vollkommenheit, Perfektion, die jedes Gedicht anstrebt – jedes, denn selbst das genügsamste, das sich freiwillig auf einen Ausschnittt des Lebens begrenzt, muß zwangsläufig dieser Ausweitungstendenz folgen, weil es eben einzig über seine Allgemeingültigkeit oder Vollkommenheit aufgenommen werden kann, nicht über Fabel, Figur, Dialog. Diesem Trend des Gedichts folgt mehr oder weniger bewußt jeder Lyriker. Paradoxie, weil die angestrebte Totalität unerreichbar ist: das Teil, das sich für das Ganze aus, gibt, bleibt, trotz des genialen Täuschungsmanövers, Kunst geheißen, doch immer nur das eine winzige Teil. Ein sinnvoller Widersinn. Dichten heißt, den Eindruck erwecken, es werde über den eigenen Schatten gesprungen.
Wenn ich in einem Gedicht diese unerreichbare Totalität spüre, wenn mir scheinen will, ich besäße in einem Gedicht eine Art Schlüssel, der, richtig benutzt, von mir erahnte, aber unbekannte Räume aufzuschließen vermag, dann ist die umfassendste Paradoxie im Werk am Werk und tut dort ihre literarische Pflicht und Schuldigkeit.
Insofern ist IKARUS 64 vieldeutig, nicht im Sinne von beliebig, sondern von vielschichtig; es ist nicht nur das, was man so scheußlich eine „ontologische Metapher“ nennt, ist nicht nur überbaulicher Reflex, Empfehlung einer Verhaltensweise oder realistische Deskription unserer gegenwärtigen Situation: es ist außerdem und vielleicht nicht einmal zuletzt ein Gedicht übers Gedichtemachen.
Neben dem Zustand innerer Paradoxie besteht der äußere des Gedichts in seinem Verhältnis zum lesefähigen Publikum. Auf dem Hintergrund der Massenauflagen von Romanen, von hoher oder trivialer Literatur, und verglichen mit der Anziehungskraft von Film und Fernsehen, wirkt Lyrik wie ein Relikt aus Großväterchens Tagen. Und noch etwas erscheint an Lyrik unzeitgemäß: ihr elitärer Charakter, den sie auch heute nur bis zu einem gewissen Grade überwunden hat.
Innerhalb unterschiedlichster Schichten von Konsumenten unterschiedlichster Literatur und in deren Schatten lebt die relativ kleine Gruppe derjenigen, die sich an Lyrik halten. Sie läßt sich gewißlich nur noch von der Statistik und vom Lexikon her als Elite bezeichnen, schließt man sich der Übersetzung des Wortes als einer „Auswahl“ an; soziologisch ist diese „Elite“ nicht mehr zu definieren, sie ist absolut heterogen, und was sie aus der Masse aller übrigen Leser heraushebt, ist ihre besondere Empfänglichkeit für Lyrik.
In einer Gegenwart wie der unsrigen, die dem Massenkonsum von Kunst förderlich ist und die daher Kunst fördert, die leicht konsumiert werden kann und die in ihrer Konsumierbarkeit immer mehr der Passivität des Konsumenten entgegenkommt, muß die Lage der Lyrik, die, falls sie sich nicht aufgeben will, der rezeptiven Mühe des Lesers bedarf, paradox sein und ständig paradoxer werden. Die Lyrik wird immer schwerer aufnehmbar durch das, was sie erst zur Lyrik erhebt.
In keinem anderen literarischen Fall gibt es so viele Mißverständnisse wie in Sachen Lyrik, sogar oder erst recht unter den Lyrikern selber. Woran liegt das? Woran liegt es, daß über die Schwerverständlichkeit von Gedichten geklagt wird? Über Ausdeutbarkeit? Wieso die Vorwürfe gegen eine Gattung, die ein Dasein am Rande der Literatur führt? Liegt es daran, daß eben dieses Dasein selbst zum Paradoxon geworden ist? Daß die Lyrik als Widersinn zum Sinn der Gesellschaft dasteht? Ist sie ein Element, das den Fortschritt hemmt und das nur integriert werden kann, wenn es sich der Zweidimensionalität massenmedialem Kunst anpaßt? Muß das Gedicht, seiner ihm innewohnenden Paradoxie zufolge, die seine Spezifik und sein Prinzip darstellt, nicht den Anschein des Abartigen erwecken, je intensiver seine Umwelt zum Massenkonsum von Kunst übergegangen ist oder übergeht? Muß die gegenwärtige Lyrik untergehen, um fortbestehen zu können?
Ich heiße nicht Don Quijote, und so hüte ich mich, gegen Film, Funk und Fernsehen anzurennen: die Zeit läßt sich nicht zurückdrehen, und das wäre auch kaum wünschenswert. Aber die drei Massenmedien (für die ich auch keine treffendere Bezeichnung wüßte) haben durch eine bis dato unbekannte Suggestionskraft die passive Rezeption im Publikum gefördert und gesteigert. Ja, sie haben eine Suggestibilität des Publikums hervorgerufen, wie sie vordem und in diesem Ausmaß überhaupt nicht vorhanden war.
Mit anderen Worten: Lyrik, die weder die fesselnde Fabel des Romans, seine Menschendarstellung, seine Handlung aufzuweisen hat noch die Überraschung der Kurzgeschichte bietet, noch die informative Analytik des Essays, die weder dramatisch noch dynamisch und zusätzlich auf die musische Empfindlichkeit des Lesers angewiesen ist, kann mit den starken und stärker werdenden Reizmitteln aller anderen literarischen Künste nicht konkurrieren.
Die Lyrik muß daher bei einem Publikum, das nur auf starke Reize reagiert, wirkungslos bleiben. Das ist eine Tatsache, auf die sich weder der Lyriker noch das Gedicht einstellen können. Die Unschuld des Gedichtes bleibt unaufhebbar.
Es mag sich betrüblich angehört haben, was ich über das Verhältnis der Lyrik zu anderen Künsten zu sagen hatte: wie ein Klagelied, ein Menetekel, ein Grabgesang für Dichtung. Aber – und nun kommt das tröstliche, kleine Aber – es sind anderweitig ebenfalls Paradoxa am Werk, die uns hoffen lassen. So entwickeln die Massenmedien mit der Suggestibilität gleichzeitig eine Abstumpfung gegen ihre eigene Wirkung und damit das Verlangen nach geistiger und emotionaler Aktivität. Da liegen Chancen der Lyrik.
Zur Gänze wird die paradoxe Situation des Gedichts jedoch nie verschwinden: daß es nämlich in einer Welt der Zweckdienerschaft und maximaler Nützlichkeit keinen direkten Zweck erfüllt. Es erfüllt weder den Zweck der Unterhaltung noch den der Information, noch den der Entspannung. Niemand liest zu diesen Zwecken ein Gedicht.
Der Zweck des Gedichts, der Sinn seines Geschriebenwerdens ist sehr viel verborgener, ungreifbarer und nie so recht mit irgend einer Elle nachzumessen.
Der Zweck des Gedichts, glaube ich, ist sein Leser, der, indem er sich mit dem Gedicht befaßt, sich mit sich selber zu befassen genötigt wird: in einem dialektischen Vorgang: im gleichen, den ihm das Gedicht vorschreibt und vorexerziert.
Das spannungsträchtige lyrische Ich und das Leser-Ich werden während des Lesens identisch und gleichzeitig nicht identisch; das eine verfremdet das andere und deckt es doch gleichzeitig. Das Gedicht färbt die Psyche des Lesers, er wiederum färbt nach seinem Ebenbild das Gedicht.
Fragte man mich, wozu solche komplizierten Vorgänge heraufzubeschwören nötig sei, ich wüßte nichts Rechtes zu antworten. Soll man vielleicht sagen, daß der Vorgang zu einer Entgröberung des Lesers führt? Daß es ein Prozeß der Sublimierung ist? Der Humanisierung? In dieser Richtung jedenfalls liegt die Antwort, wenn man sie suchen will.
Damit bin ich am Ende meines Monologs: weit abgetrieben vom Versuch, ein Prinzip des Schreibens zu demonstrieren, vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, zu unerwarteten Spekulationen und unsicher, ob überhaupt etwas von dem sichtbar geworden sein mag, was mich so zu schreiben veranlaßt, wie ich schreibe.

Aus: Günter Kunert: Die geheime Bibliothek, Aufbau Verlag, 1973

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00