– Zu Nicolas Borns Gedicht „Das Erscheinen eines jeden in der Menge“ aus Nicolas Born: Gedichte 1967–1978. –
NICOLAS BORN
Das Erscheinen eines jeden in der Menge
Ist es eine Wohltat allein zu sein
im Gelage der Gedanken ohne Augenzeugen
ohne das Auge des Entdeckers das sieht wie’s schmeckt
ohne das geübte Ohr der Menge?
Was ist eine Tatsache wert die unteilbar ist
was ist ein Universum ohne dein Beben
ohne dein Erscheinen vor leeren Sitzreihen?
Die Menge geht auf der Erde
und nichts vergeht in der Menge
auf den Rücken summender Webstühle
erreichen wir den großen Widerspruch:
das Erscheinen eines jeden in der Menge
Wenn man heute die Gedichte des mit dreiundvierzig Jahren viel zu früh verstorbenen Nicolas Born nachliest, kann man, wie der in diesem Gedicht apostrophierte „Entdecker“, erstaunliche Besonderheiten bemerken. Vor allem findet sich hier etwas, das aus der gegenwärtigen Dichtung verschwunden scheint: eine Grundströmung des Humanen, eine fast chiliastische utopische Erwartung, eine Hinneigung zum Menschen, die extrem selten geworden ist. Aus Borns Gedicht spricht ein Lebensgefühl, das nicht aus der Kühltruhe unserer enttäuschenden Erfahrungen mit der Gesellschaft stammt, sondern das mit einer unzweifelhaften Unschuld die „Menge“ noch als Gemeinschaft empfindet. Wer Born gekannt hat, weiß, daß seine Haltung keine ideologisch motivierte Attitüde war wie bei vielen anderen Autoren in den sechziger und siebziger Jahren, die sich von ihrem selbstgezimmerten Sockel zu ihren Zeitgenossen hinabneigten, um ihnen eine unerwartete und fatale Umarmung zuteil werden zu lassen. Viele von Borns Texten hingegen, Rollengedichte, Porträts unterschiedlichster Leute, alle mit großem Verständnis und großer Sympathie geschrieben, belegen eine natürliche Art von innerer Menschennähe. Daher ist auch in diesem Gedicht die Absage an das introvertierte Ich, an die monadische Selbstbezogenheit keine gezielte Absicht. Alleinsein ist abzulehnen; es ist keine Wohltat, wie die Frageform der ersten vier Zeilen eindeutig impliziert. Und wenn zum ersten Male das Wort „Menge“ auftaucht, dann sogleich in aufwertendem Sinne durch den Qualitätsbegriff des Geübtseins: Als handele es sich um ein Konzertpublikum.
Die Sehnsucht nach einem menschlicheren Miteinander ist überdeutlich. Was nicht gemeinsamer Besitz sein kann – wie das für vieles andere einstehende Symbol „Tatsache“ –, erweist sich als wertlos. Ja, ohne Angerührtsein, ohne seelische oder physische Erregungsfähigkeit (doppeldeutiges „Beben“) bleibt die Welt, das „Universum“ nichtig. Und selbst die leeren Sitzreihen erhalten erst eine Anwesenheitsberechtigung, sobald einer, der Dichter selber, vor ihnen erscheint.
Die letzte Strophe bedeutet eine Steigerung von den vorangegangenen Individualumständen zu einer Verallgemeinerung, der ein großer, fast prophetischer Gestus eigen ist: „Die Menge geht auf der Erde / und nichts vergeht in der Menge“ – obwohl Bewegung durch Gehen sichtbar wird, liegt die Betonung auf Bewahrung. Es klingt wie das Versprechen von Ewigkeit und ungeschmälerter Dauer: Nichts vergeht, solange die Menschheit besteht. Und zugleich wird mittels einer geschickten Wortkombination diese Menschheit ihrer sozialökonomischen Daseinsweise verkoppelt: „Auf den Rücken summender Webstühle“ nämlich geht es vorwärts und voran, also durch Technik und Industrie. Aber wo wir da hingekommen, wartet nicht das Konsumparadies auf uns oder die klassenlose Gesellschaft, sondern nichts anderes als ein Widerspruch, freilich einer von jenen, die Marx zufolge Voraussetzungen aller Entwicklung sind.
Wozu Friedrich Engels in seiner theoretischen Schrift „Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen“ viele Seiten benötigte, das erreicht der Dichter mit ein paar Zeilen. Die Industriezivilisation schafft erst die Menge, und zugleich auch – und darin besteht der große Widerspruch – ruft sie überhaupt erst das Individuum in Mengen auf den Plan. Ein Widerspruch, der nicht zu lösen ist, der vielmehr die Widersprüchlichkeit solcher Existenzweise ins Blickfeld rückt und anerkennt. Dergestalt eröffnet ein kleines Gedicht eine weitläufige historische Perspektive, ohne ein einziges Mal das Wort „Geschichte“ zu gebrauchen.
Günter Kunert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierzehnter Band, Insel Verlag, 1991
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