Günter Kunert: Zu Theodor Kramers Gedicht „Lob der Verzweiflung“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Theodor Kramers Gedicht „Lob der Verzweiflung“ aus Theodor Kramer: Orgel aus Staub. –

 

 

 

 

THEODOR KRAMER

Lob der Verzweiflung

Verzweiflung, Freund des Armen,
du letzter Rest vom Rest,
du hast mit ihm Erbarmen,
wenn alles ihn verläßt;
du läßt sein bißchen Leben
im Schein des frühen Lichts
sich krümmen und erbeben
und führst ihn dann ins Nichts.

Du hast gar viele Namen,
bist unter allen groß,
heißt Würfel, Messer, Samen,
heißt Branntwein, Strick und Schoß;
du bist im Klirrn der Scherben,
im Zucken des Gesichts,
du fährst ins träge Sterben
und wirbelst es ins Nichts.

Du warst mir oft Gefährtin
in meiner Einsamkeit;
für mich wär jeder Wert hin,
wär ich von dir befreit;
gib Kraft mir, daß ich lebe,
und führ mich durch das Nichts,
auf daß ich mich erhebe
am Tage des Gerichts.

 

Tag des Gerichts

Daß einer die Verzweiflung lobt, klingt nach Spott und Hohn, jedenfalls so, als sei es nicht ernst gemeint. Noch dazu, da sie, die Verzweiflung, zum Freund des Armen ernannt wird – eine Freundschaft, auf die man gut und gerne verzichten könnte. Doch im weiteren Fortgang der Verse, von Zeile zu Zeile, von Strophe zu Strophe erweist sich die Verzweiflung als das letzte Agens des dichterischen Subjekts: Verzweiflung als einzige, unverzichtbare Grundlage poetischen Sprechens. Wer dergestalt „seine Sache“ aufs schlimmste der Gefühle stellt, gefährlich nah dem Suizid, dem muß die Welt entsprechend niederschmetternde Erfahrungen vermittelt haben. Theodor Kramer, unserem Dichter, ist in einem Übermaß widerfahren, was andere vermutlich zum Verstummen gebracht hätte.
In Niederösterreich als Sohn eines Gemeindearztes 1897 geboren, lebte er später auf Wanderungen als Tagelöhner, Zimmermaler und Vagabund. Ein unruhiger Geist, der nach dem Umherschweifen ausgerechnet „Staatswissenschaften“ studiert, im Ersten Weltkrieg als Soldat schwer verwundet wird, zum Beamten aufsteigt, den Posten hinwirft, um als Buchhändler und endlich als freier Schriftsteller fortzuexistieren. Die auffällige Gegensätzlichkeit seiner Unternehmungen macht das Ungewöhnliche dieser Persönlichkeit kenntlich.
Verschärfend kommt hinzu, möchte man mit einer gewissen Ironie sagen, daß Kramer Jude ist. Die Folge davon läßt auch nicht lange auf sich warten. Nach dem Einmarsch Hitlers in sein geliebtes Österreich emigriert Kramer nach England, wo er, was kaum zur Aufhellung seines Gemüts beiträgt, drei Jahre lang, bis 1942, arbeitslos bleibt. Spät wird er Bibliothekar in der Provinz, am Technical College in Guildford, wo er bis zu seiner Rückkehr 1957 tätig ist.
Exilierte jener Tage, welchen Kramer begegnete, erinnern sich eines etwas heruntergekommenen Mannes, eines Sonderlings, der sich Emigrantenkreisen fernhielt. Einsamkeit und Verlassenheit bilden die Signets seiner Dichtung. Und das geheime Motto seines Schaffens heißt De profundis. Bewundernswert, wie da jemand sprichwörtlich aus seiner Not eine Tugend macht, indem er nicht anklagt, jammert, revoltiert und protestiert, sondern mit einem düsteren Stolz die Unerträglichkeit des Seins, seines armseligen Daseins bewältigt und aushält, indem er das Leiden, das Erlittene in Gedichte verwandelt.
Dennoch: Das Gegengewicht läßt sich nicht übersehen. Es besteht in einem quasireligiösen Hoffnungsschimmer, bezogen auf die Wiederauferstehung am Tage des Gerichts. Ist diese biblische Formel nun der notwendige formale Kontrast, um dem Gedicht die Balance zu bewahren, oder künden diese Worte von einer trotzigen Glaubensfähigkeit? Eigentümlich ist die doppelte Natur des Nichts, denn einmal wird das träge Sterben in Nichts gewirbelt, ein Verschwinden in Sinnlosigkeit, doch zum zweiten kehrt dieses Nichts als eine Art Purgatorium wieder:

und führ mich durch das Nichts.

Eine Erwartung bekundet sich, eine Bitte, fast ein Gebet.
Theodor Kramer ist kurz nach seiner Heimkehr nach Wien einundsechzigjährig gestorben. Auf den Tag des Gerichts brauchen wir nicht zu warten, er findet tagtäglich und zu unseren Lebzeiten statt. Der Dichter in Gestalt seines Werkes hat diesen Gerichtstag in Würde bestanden. Er ist nicht im Orkus versunken wie so viele, denen die Verzweiflung keine Zeile wert war.

Günter Kunertaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Neunzehnter Band, Insel Verlag, 1996

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