– Zu Thomas Braschs’ Gedicht „Schlaflied für K.“ aus dem Band Thomas Brasch: Der schöne 27. September. –
THOMAS BRASCH
Schlaflied für K.
Nacht oder Tag oder jetzt
Will ich bei dir liegen
Vom schlimmsten Frieden gehetzt
Zwischen zwei Kriegen
Ich oder wir oder du
Denken ohne Gedanken
Schließ deine Augen zu
Siehst du die Städte schwanken
In den Traum oder Tod oder Schlaf
Komm in den Steingarten
wo ich dich nie traf
will ich jetzt auf dich warten
Die neuere Lyrik des sich immer schneller neigenden Jahrhunderts vermittelt uns eine allgemeine aktuelle Erfahrung: Nur in der Abwesenheit kommen wir noch zu uns. Keinem Bereich unseres täglichen Lebens sind vielfältige Relativierungen erspart geblieben: Von überkommenen ethischen Werten bis zu Verhaltensnormen nur Auflösungserscheinungen. Das klingt wie Klage, ist aber keine. Auch kein Hinweis auf Verfall als Symptom des Unterganges: Untergehen kann nicht, was schon gar nicht mehr vorhanden ist. Nur Konsequenzen sind noch zu ziehen. Das tut, jedenfalls in der Sphäre der Lyrik, Thomas Brasch.
Sein „Schlaflied für K.“ verspricht kein gutes Ausruhen, keine Tröstung, sondern vielmehr jenen Schlummer, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Das Ich des Gedichts verlangt zwar gleich am Anfang nach Gemeinsamkeit, definiert sie aber nicht. Das Verb, einstmals beschönigend für Beischlaf benutzt, hat, seit dem Gebrauch eindeutigerer Benennungen, diesen Sinn eingebüßt: Beieinanderliegen kann man auch jenseits aller Lebendigkeit. Ohnehin: Vom schlimmsten Frieden gehetzt und zwischen zwei Kriegen, als nehme diese Zeile den bedrohlichen Vergleich von 1914 und 1980 vorweg oder habe ihn dem damit operierenden Politiker erst geliefert, bietet der im Gedicht beschworene Augenblick keine Erlösung des Ichs im Du. Ja: Kein Wort von Liebe, von Zuneigung, von Lust: Die Individuen, von denen die gedämpfte Rede ist, gehen umrißlos ineinander über, hilflos, weil gedankenlos denkend, in Vorahnung der künftigen Katastrophe, wie es die letzte Zeile der zweiten Strophe verkündet. Die dritte gibt die Richtung an: Nach dem Beieinanderliegen und Augenschließen, nach einem dialoglosen, stummen Zusammensein im Angesicht der Drohung heißt die Aufforderung: „In den Traum oder Tod oder Schlafs“ – alles metaphorisch identische Zustände totaler Abwesenheit, einer, die vermutlich doch wohl nichts anderes als Mortalität ist. Denn der Steingarten, der da evoziert wird, ist ganz gewiß nicht der des Theophrast: Hinter der Bezeichnung verbirgt sich, was die vorangehende Stimmung und Wortwahl assoziiert: der Friedhof. Das letzte Treffen findet im Jenseits statt, das Diesseits hat seine Möglichkeiten erschöpft und gibt an Glücksverheißung nichts mehr her.
Dies wird in einem kühlen Ton vorgetragen, unsentimental, sprachlich spartanisch, sonst wäre es nicht glaubhaft: Ein Endzeitgedicht?
Die vielen anderen Todes-, Totschlags-, Suizid- und Mordgedichte in Braschs Gedichtband legen die Vermutung nahe. Zumindest Endzeit einer langsam vor sich hinsiechenden Epoche. Liest man neben diesen Gebilden gleichzeitig die von Nikolaus Lenau, staunt man über die Parallelen zum Thema Tod. Ich könnte schwören, seine klapprige Gestalt erscheint stets am Horizont der Literatur, wenn sich in der Gesellschaft nichts mehr regt, kein Funken, keine Hoffnung, kein Zorn, kein élan vital, ja, nicht einmal mehr Haß, der Wille zur Veränderung. Die allerletzte Fähigkeit, die sich erhalten hat, ist die des Wartens, wenn auch niemand mehr weiß, worauf – auch der Dichter nicht.
Günter Kunert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Über die Liebe, Insel Verlag, 1985
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