– Zu Wolf Biermanns Gedicht „Heimat“ aus Wolf Biermann: Heimat. –
WOLF BIERMANN
Heimat
Ich suche Ruhe und finde Streit
Wie süchtig nach lebendig Leben
Zu kurz ist meine lange Zeit
Will alles haben, alles geben
Weil ich ein Freundefresser bin
Hab ich nach Heimat Hunger – immer!
Das ist der Tod, da will ich hin
Ankommen aber nie und nimmer
Tief schlafen, träumen ohne Schrei
Aufwachen und noch bißchen dösen
Schluck Tee, Stück Butterbrot dabei
Leicht alle Menschheitsfragen lösen
Im ewig jungen Freiheitskrieg
Das Unerträgliche ertragen:
Die Niederlage steckt im Sieg
Trotz Furcht: die Liebe tapfer wagen!
Zur Nacht ein Glas Rioja-Wein
Weib! Weib, du bist mein Bacchanalchen
Laß Tier uns mit zwei Rücken sein!
Flieg du nochmal und ich nochmalchen
Dir bau ich den Balladen-Text
Wenn meinem Salamander wieder
Der abgebissne Schwanz nachwächst
Und so, ihr Lumpen, macht man Lieder
Ich suche Ruhe und finde Streit
Wie süchtig nach lebendig Leben
Zu kurz ist meine lange Zeit!
Will alles haben, alles geben
Weil ich ein Feindefresser bin
Hab ich nach Rache Hunger – immer!
Das ist der Tod, da will ich hin
Ankommen aber nie und nimmer
Heimat sei, wo wir nie waren, hatte einst Ernst Bloch behauptet, doch das scheint mir ein grundlegender Irrtum zu sein. Die Sehnsucht des einzelnen, des Vereinzelten, würde sich nicht auf Heimat richten, besäße er keine Vorstellung von jenem verlorenen Paradies, aus dem das zwanzigste Jahrhundert Millionen Menschen vertrieb. Nur versteht man unter dem fragwürdig gewordenen, verdorbenen Begriff jeweils etwas anderes, nachdem sich der Brunnen vor dem Tore und der Lindenbaum daselbst als Kulissen, nach vielerlei Tragödien in den Fundus verbracht, entpuppt hatten.
In Wolf Biermanns neuestem Gedichtband, der mit dem nur im Deutschen existierenden Wort daherkommt, folgen wir dem Entdecker auf seiner Heimatsuche. Als schlösse sich der Kreis, erscheint ihm Heines Hammonia, aus dem ja auch unser Barde stammt, nun heimatlich, sprich anheimelnd. Doch das ehemalige Aufgehobensein in einem uns zugehörigen Umfeld ist uns längst vergangen. So finden Entwurzelte eine neue Heimat. Bei Biermann war es zuerst der Kommunismus, der das Versprechen von Geborgenheit und mitmenschlicher Gemeinschaft, den primären Voraussetzungen von Heimat, zu bieten schien. Dem Verlust dieser Illusion eröffnete sich eine zweite Möglichkeit, das eigene Ich wiederum in einen umfassenden Bezug zu setzen: das Jüdische. Wie manche enttäuschten Genossen kehrte auch Biermann „back to the roots“. Was ihm um so leichter fiel, als sein Vater nicht nur Kommunist, sondern auch Jude gewesen ist.
Aber zur Heimat gehört ebenso alles Private, ja Intime, soll sie nicht ein bloßer Schemen bleiben. Daher besteht Biermanns Heimat aus einem ganzen Konglomerat von ihm Nahestehenden und Fernstehenden, welche das Netz für diesen Seiltänzer des liedhaften Gedichtes bilden. Seine Frau Pamela, seine vielen Kinder, seine Freunde und – last, but not least – seine Feinde, deren er ebenfalls zur Inspiration bedarf.
In dem Gedicht „Heimat“ ist alles, das Konkrete wie das Allgemeine, auf dialektische Weise versammelt und ineinander verschränkt: Es lebt vom Widerspruch, indem es auf unnachahmliche Art diese Widersprüche zu überwinden und zu vereinen sucht. Darin liegt Biermanns Stärke: die Antinomien „zum Tanzen“, nein, zu Gehör zu bringen. Aus dem Amalgam von Villon und Heinrich Heine ist in neuer, besonderer Form die in Deutschland seltene Gestalt eines Barden entstanden, gekennzeichnet von Leibhaftigkeit, Leibheftigkeit und Liedhaftigkeit. Esoterik, Metaphysik sind seine Sachen nicht. Es ist stets das Leben, sein Leben, das thematisiert, das besungen wird. Er hat, dank eines ungebärdigen Temperaments, sein frühes Trauma in Kreativität verwandelt. Und wir können seine Texte insgesamt als eine poetisch geformte Autobiographie lesen. Der zitierte Hunger nach Heimat zeigt sich als starke Antriebskraft, bedeutet keineswegs Nostalgie, sondern die Verwandlung der persönlichen Vergangenheit in die gegenwärtige Existenz. Er begräbt nicht seine Toten, er erweckt sie zum Dasein in seinem Werk. Wie er bei ihnen, so sind sie bei ihm immer präsent und schauen ihm über die Schulter.
Ungewohnt ist der Anruf des Todes. (Kein Wunder, wenn man siebzig Jahre alt geworden ist.) Aber hier hat der Tod keinen Schrecken, er ist ein Wink, eine Einladung, der zu folgen sich keiner entziehen kann.
Da ist der Tod, da will ich hin
Ankommen aber nie und nimmer
Freilich: Das Ticket zu dieser Endstation haben wir mit unserer Geburt kostenlos mitbekommen. Immerhin wird von uns, und von Biermann auf jeden Fall, Nennenswertes bleiben: das Geschaffene, das künstlerisch Gelungene, das die Epoche mit der Persönlichkeit ihres Dichters verbindet. Unsterblichkeit? Da fällt uns der polnische Satiriker Lee ein, der meinte, um unsterblich zu werden, müsse man erst einmal tot sein. Damit, mein guter Wolf, soll es jedoch noch ein Weilchen dauern.
Günter Kunert, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Einunddreißigster Band, Insel Verlag, 2007
Schreibe einen Kommentar