Günther Schulz: Rezensierte Gedichte

Mashup von Juliane Duda zum Buch von Günther Schulz: Rezensierte Gedichte

Schulz-Rezensierte Gedichte

VERBINDLICHKEITEN

natürlich
selbstverständlich

und zwar außerdem
insoweit
übrigens überdies
überhaupt
wenn unter umständen
immerhin
aber vor allem einerseits
geschweige denn andererseits

nicht so sehr:
nicht so sehr
hinwiederum eher
viel
mehr oder weniger
insofern ferner

vielleicht geradezu
so wie so
aber vielleicht doch
wohl entweder
nicht nur sondern auch
oder

wenngleich ansonsten mitnichten

ja ja aber
schon schon

nichtsdestoweniger

 

 

 

Rezensierte Gedichte

Diese Gedichte wurden 1968–69 deutsch in Rumänien geschrieben. Sollen sie 1971 in West-Berlin erscheinen, so nicht unreflektiert als seien sie unbedingt und also bruchlos verlegbar.
Herausgelöst aus dem spezifischen Produktions-Rezeptions-Zusammenhang, der sie nach Beweggrund und Zielrichtung bestimmte, werden sie in einen anderen verlagert, mit dem sie wenig bis gar nichts gemein haben. Daß anstelle ihrer Publikation als Gedichte ihre kritische Untersuchung als Dokumente, ihre reflexive Dekomposition den Mittelpunkt dieser Veröffentlichung ausmachen muß, scheint mir eine Konsequenz ihrer Deplacierung. Würden sie an dieser Stelle ohne Kommentar als Gedichte verlegt, als prätendierten sie an und für sich Authentizität, rezeptiven Nachvollzug, adäquate Wirkung, so wären sie unbedacht zwangsläufigen Mißverständnissen ausgeliefert. Sie kämen voraussichtlich mit Funktionsverlust und Qualitätsveränderung sinnlos in Gefahr, hier als bloße poésie pure zu erscheinen. Ästhetisch orientierte Leser würden irrtümlicherweise an ihnen genießen, was gesellschaftskritisch orientierte blindlings an ihnen beanstanden würden: den scheinbar fehlenden, oder undeutlich nebulösen Niederschlag kritischer Auseinandersetzung mit den konkreten gesellschaftlich-politischen Verhältnissen des Landes, in dem sie entstanden.
Eine solche Rezeption – zwar heuristisch, aber Irrtum zugleich – würde sie ins genaue Gegenteil dessen verkehren, wozu die extrem politische Vorgeschichte und Kondition ihrer Entstehung sie zwangsweise drängte. Sie sind nach Maßgabe der Notlage, aus der sie hervorgingen, bis hinein in die Fehler ihrer Qualitäten untrennbar reaktiv verbunden mit folgenschweren ideologisch-politischen Faktoren. Das Trauma dieser Faktoren bezeugen und verklagen sie noch mit ihrer scheinbar unverbindlichen Sprachspielerei, oder metaphorisch verstocktesten Aussageverweigerung.
Auch ihre identifizierbaren Korrespondenzen mit der westlichen, zumal west-deutschen Lyrikproduktion nach ’45 hängen zum Teil damit zusammen. Diese Ähnlichkeiten – etwa mit Benn, Bachmann, Celan, Eich, Rühmkorf, Enzensberger, Heissenbüttel – deren Studium und Assimilation sie verraten, sind als zufälliger Mustereinfluß, oder beliebige Nachahmung nicht nur oberflächlich-unzureichend verstanden, sondern in Unkenntnis dessen, was sie an literatur-politischen Funktionen implizieren, entschieden verkannt.
Zwar ergeben sich diese Ähnlichkeiten teilweise aus unkontrollierter Imitation: für einen in Rumänien deutsch schreibenden Autor war die Lektüre deutscher Gedichte notwendig, zugleich auch riskant: er konnte sie, ohne direkte Erfahrung und Einsicht in den Zusammenhang, aus dem sie entstanden immer nur in anthologischem Rahmen kennenlernen, also nicht rückbeziehen und verifizieren. Deshalb beruhte die unerläßliche Aneignung poetischer Techniken und Methoden oft auf einem falschen, bloß literarischen Verständnis von Modernität und brachte eine zweifelhafte Übernahme gesellschaftlich-politisch vermittelter Mentalität mit sich, ohne daß diese in ihren Hintergründen, Zusammenhängen und Funktionen überprüft wurde. Das entsprach gleichzeitig einer weitgehend unkritisch ästhetischen Literaturanschauung, die ihrerseits als notgedrungen-schlechte, doch kaum vermeidbare Reaktion auf die herrschenden, ideologisch-gewalttätigen Literaturdirektiven und deren Resultat entstand, das ja nicht nur ästhetisch indiskutable, sondern auch gesellschaftlich falsche, politisch verlogene Propaganda-Literatur war.
Aber das, was durch Aneignung poetischer Techniken und Methoden an westlich-bürgerlicher Mentalität übernommen wurde, erhielt in einem umfunktionierenden Adaptionsprozeß andere Vorzeichen und erfüllte zusammen mit jener ästhetisch bestimmten Literaturanschauung als provozierte Antithese eine relativ-kritische Funktion gegen das Dogma.
Dafür sorgte ein Faktum, das nicht nur Publizistik und Literatur, vielmehr das ganze öffentliche, in weiterer Auswirkung private Leben flektierte. Es prägte als schwer-reflektierbares, weil traumatisches Erlebnis Biographie, Bewußtsein und Unterbewußtsein einer ganzen Generation auf so einschneidend-folgenreiche Weise, daß es Anstrengung kostet, es nicht ständig als freisprechenden, entschuldigenden, alles erklärenden deus ex machina zu zitieren. Wenn auch nicht als patentierter Hinweis, der alle weiteren Überlegungen erübrigt, so doch als aufschlußreiches Indiz, das eine Kettenreaktion falscher Verhaltensweisen und Perversionen, ohne sie zu rechtfertigen, erklärt, muß hier zitiert und in seinen Folgen überprüft werden, was im Anfang stand und meine Generation in Empfang nahm: die staatlich-ideologische Überwachung und Nötigung aller Formen öffentlichen Lebens – Zwang und Zensur.
Eine massiv und hart durchgreifende ideologische Uniformierungskampagne, die dem Denken keine Wahl, der Meinung keine Abweichung, dem Zweifel kein Recht, dem Widerspruch kein Pardon dem Erkenntnisprozeß weder Spielraum noch Bedenkzeit einräumte, beschlagnahmte das Bewußtsein im Namen des Sozialismus mit Parolen, Phrasen, Devisen. Im Zentrum der Institutionen, im Mittelpunkt der auf dringlichen publizistischen Öffentlichkeit, die eine nach Vorschrift, papieren-hermetische war, standen anstelle gesellschaftlich-realer Erfahrung und deren Diskussion nichts als Propagandanachrichten, phantastische Illustrationen der Ideologie, Losungen, denen keinerlei greifbare Erfahrung entsprach.
Das bedeutete bei Verhinderung öffentlicher, kollektiver, sozialisierender Auseinandersetzung mit der konkreten gesellschaftlich-politischen Realität und Erfahrung, zugleich mit der Unmöglichkeit über Grund, Funktion und Folgen dieser Verhinderung zu diskutieren, permanente Konfrontation mit Zwang und Zensur.
Daß sich das Bewußtsein einer neuen Generation, durch Zwang und Zensur in seiner Entwicklung und Artikulation beeinträchtigt, nicht in Übereinstimmung mit der marxistisch-leninistischen Lehre konstituierte, sondern im negierenden Gegensatz verhärtete, liegt ebenso in der üblen Konsequenz dieser Konfrontation wie die Aufspaltung der Existenz in das Zensur-Produkt Öffentlichkeit einerseits und Privatexistenz, innerste Innenwelt andererseits. Was durch Zwang und Zensur daran gehindert wurde, sich kollektiv, sozial und realitätsbezogen im Medium der Öffentlichkeit zu objektivieren, bezog in der Innerlichkeit Ausweichquartier, wurde subjektiv, introvertiert, privat: unartikulierte restrictio mentalis. Trotzreaktionen, Idiosynkrasien, ideologisch bestimmte Aversionen, gegenläufige Denk- und Verhaltensweisen, vom Zwang geradezu provoziert, reproduzierten oft blindlings die Irrationalität ihrer Ursache. Der gewaltsame Versuch mit allen öffentlichen Mitteln als Privateigentum der Partei und ihrer Ideologie sozialistisches Bewußtsein über Nacht zu produzieren, war absurd und mußte fehlschlagen. Seine Praxis bewirkte in einem Gesellschaftssystem, wo bürgerlich-privatistischem Bewußtsein die materielle Basis entzogen wurde, bei einer neuen Generation antisozialistische Affekte.
Die Auseinandersetzung mit diesem, an bedenkenswerten Bezügen und Lektionen überreichen Komplex blieb, sofern sie nicht ganz unterblieb, unartikuliert-affektiv, oder, wie die nachfolgenden, rezensionsbedürftigen Gedichte dokumentieren, aus Not privat, innerlich, metaphorisch: ein subjektiv-literarisierter, weil anders unaustragbar-unausgetragener Konflikt.
Aber gerade da dieser Konflikt öffentlich keine anderen Äußerungsformen annehmen konnte und literarische Arbeit, vermöge der Subtilitäten der Sprache, die einzige Möglichkeit bot, wenn auch indirekt, so doch öffentlich und virulent etwas davon zu äußern, läßt sich an ihrem System der ganze Komplex authentisch analysieren.
Literatur hatte es, der herrschenden, ebenso gewalttätigen wie kurzschlüssigen Literaturanschauung zufolge, immer mit einer Zensur zu tun, die nach Form und Inhalt ideologisch über Veröffentlichbarkeit und Qualität bestimmte. Sie sollte anfangs, wie es die programmatischen Literaturdirektiven der fünfziger Jahre um jeden Preis wollten, Mittel zum Zweck, Instrument im Aufbau des Sozialismus sein, sollte Industrialisierung, Kollektivisierung, den neuen Menschen: sozialistischen Helden didaktisch besingen, den Konflikt zwischen bürgerlich-individualistischer Mentalität und sozialistischem Humanismus positiv beispielhaft darstellen, perspektivistisch die objektive Wirklichkeit widerspiegeln.
Indem diese Richtlinien einen noch ungeklärten Prozeß präjudizierten und der Literatur ein Engagement abnötigten das sich aufs Ausschmücken der vorgegebenen Thesen beschränkte, entfremdeten sie den Schriftsteller seiner Arbeit. Dadurch wurde unmöglich, was sich die gesellschaftlich-politische Entwicklung zur eigenen Sache hätte machen können: ein glaubwürdiges, kritisches, weil konfliktreiches Engagement aus eigenem Antrieb. Aus Enge, Ungeist und Gewalttätigkeit dieser Richtlinien, deren erweitertes Verständnis die Zensur als Mißverständnis bereinigte, entstand zunächst eine Literatur der Schlagworte und Losungen, Agitprop und Panegyrik, gezwungen optimistische Hymnik, Dichtung im fatalen, weil trughaften Sinn: Vorspiegelung falscher Tatsachen; Idealismus übelster, weil gefährlicher Spielart: angestrengt wohlmeinende Notlüge, großgeschrieben und fettgedruckt. Die Autoren dieser irrealistischen, partei-esoterischen Literatur, die nur gewaltsam Publikum fand, kassierten für ihre schlechten Dienstleistungen Schweigegeld, Honorarionen und bedichteten nebenbei zur Rettung der Poesie, pantheistisch-hymnisch, manchmal sogar melancholisch, den Auslauf Natur.
Von der Fragwürdigkeit des Sogenannten: Aufbau des Sozialismus; von den konkreten gesellschaftlich-politischen Vorgängen, sozialen Komplikationen; von dem, was sich innerhalb einer als Diktatur empfundenen Staatsform kollektiv im Bewußtsein und Unterbewußtsein abspielte; von dem, was die rigorose Zensurierung aller Teilbereiche des öffentlichen Lebens bewirkte: gespenstisch-abstrakte Irrealität der Öffentlichkeit: davon war in den literarischen Arbeiten jener Zeit keine Rede. Kein Wort der Kritik angesichts der täglich erfahrbaren Diskrepanz zwischen Realität und Reportage, kein Zweifel angesichts politischer Interesselosigkeit und Asozialität; es wurde, weil verboten, verschwiegen, verdrängt.
Die literatur-politischen Verfügungen, aus denen diese Literatursituation hervorging, erstreckten sich freilich auch auf Beurteilung und Einordnung ausländischer Literatur: westliche Literatur wurde vorerst, ohne Möglichkeit einer Information aus erster Hand, pauschal als dekadent, bourgeois, reaktionär ex cathedra abqualifiziert und als Erfahrung automatisch vorenthalten.
Diese, inzwischen weitgehend historisch gewordene Situation der Literatur gehört nicht zu den direkten Umstandsbestimmungen der nachfolgenden Gedichte. Sie mußte hier trotzdem erwähnt werden, weil sie, auch nach der Liberalisierung der sechziger Jahre, als verhältnismäßig kurze, aber massive Ursache zählebiger Folgen über Jahre hin die literarische Produktion und Rezeption indirekt und kompliziert belastete.
Aber noch eine zusätzliche, speziellere Situation als die allgemein politisch-literarische muß hier berücksichtigt werden, wenn diese Gedichte anhand der typischen Problematik, die ihnen zugrundeliegt, rücküberprüft werden sollen: sie wurden in Rumänien deutsch und in Hinblick auf deutschsprachige Leser geschrieben; zwar von einem rumänischen Staatsbürger, aber – um knappe Genauigkeit verlegen gesagt – deutscher Nation.
Seit Jahrhunderten gibt es in Rumänien eine eigenständig-deutschsprachige Literatur innerhalb einer seit Jahrhunderten dort lebenden deutschsprachigen Minderheit. Diese ist, obwohl nach Staatsbürger-Recht und -Pflicht der rumänischen Bevölkerung gleichgestellt, nicht nur naturgemäß sprachlich und durch die Implikationen einer anderen Kultur sondern auch nach Geschichte, Selbstverständnis und Mentalität ein provinzieller Fremdkörper; ihr offenkundig-heimliches, prekäres, weil in den letzten fünfundzwanzig Jahren niemals entsprechend öffentlich behandeltes Problem liegt zwischen Integration und Emigration. Die immer schon schwärmerische Beziehung dieser Minderheit zu Deutschland als Mutterland und große Welt bekam nach dem zweiten Weltkrieg als platonisches Verhältnis zu West-Deutschland politisch bestimmte Motive. Der sprachlich-menschliche Kontakt zu diesem Teil der „freien Welt“ bewirkte eine mit vielen, sicher auch unkontrollierbaren Mißverständnissen und Täuschungen vermischte Orientierung nach Westen und eher materiell-politisch als national determinierte Auswanderungsträume. Das wirkte sich auf die konkrete gesellschaftlich-politische Existenz und Integration dieser Bevölkerung in Rumänien als degagierendes Moment aus und hatte, oft bis ins Physische reichend, Wirklichkeitsverlust, Desinteresse, interimistische Konjunktiv-Existenz mit politischen Konsequenzen zur Folge. In dieser Brechung erschien die Existenz in Rumänien unfrei und schlecht und West-Deutschland als materielle, nationale, politische und zivilisatorisch-kulturelle Utopie.
Bietet sich dieser untersuchens- und erzählenswerte Komplex geradezu von selbst literarischer Behandlung an, so ist die Tatsache, daß er bisher noch keine entsprechende Artikulation gefunden hat, nicht vor allem der gewiß hemmenden, weil tabuisierenden Zensur zuzuschreiben, sondern der diffizilen Ausnahmesituation der rumänien-deutschen Literatur und ihrer Autoren. Die zusätzlichen Schwierigkeiten und Hindernisse dieser Situation resultieren aus Enge, Schwerfälligkeit und Abgestandenheit insular-provinzieller Existenz; sie beginnen bei einer verkümmerten, leblos-sterilen Sprache und reichen über minimale literarische Orientierungs- und Informations-Möglichkeiten bis zur entwicklungshemmenden Behinderung durch konservatives Publikum und beschränkte Publikationen.
Was für diese Literatur und ihre Autoren schlechthin eine Notwendigkeit sprachlicher Selbsterhaltung und Entwicklung ist: Studium, Assimilation und Auseinandersetzung mit deutscher Gegenwartsliteratur impliziert auch ein Ost-West-Dilemma. Steht die Literatur der DDR nach gesellschaftlich-politischer Problematik näher, so bietet sie andererseits nicht die Alternative, die man, ideologischer Bevormundung überdrüssig, infolge von Zwang, Zensur und Ressentiments optisch getäuscht, in der Narrenfreiheit der west-deutschen zu erkennen meint. Von einer Beschäftigung mit der DDR-Literatur wird deshalb meistens aus einem verallgemeinernden Vorurteil heraus abgesehen. Beschäftigung mit der west-deutschen hingegen ist hier unter anderen Aspekten eine Frage nach ihrer Funktion unter anderen Voraussetzungen. In der anderen Kondition als der ihrer Entstehung rezipiert, erfüllt sie eine andere Funktion: die vom kapitalistischen Geschäft der Bewußtseinsmode eigengesetzlich definierte Unfreiheit dieser Literatur, die man dort oft nicht durchschaut, erscheint innerhalb der anderen, nach parteiideologischen Gesetzen definierten Unfreiheit als Freiheit und Alternative und wird hier, als solche virulent, gegen Zwang und Zensur ausgespielt. Als Leser und lesender Autor machte man, infolge einer so konditionierten Lese- und Apperzeptions-Perspektive, nach eigenem Bedarf Gebrauch davon; man benutzte die westliche, in diesem Fall vor allem west-deutsche Literatur teils bewußt, teils somnambul als Refugium, Resistenz, Antithese, Komplice: das Lesen und Imitieren dieser Literatur war ein politischer Privat-Akt. Selbst Nonsens-Gedichte, absurdes Theater, unverbindliche Sprachspielereien, die ohnmächtig verzweifelten Clownerien einer vom Diktat des Kapitals und Literatur-Konsums gesellschaftlich ad absurdum geführten Phantasie und Literatur bekamen hier, von der ideologischen Literaturregie verboten, mißbilligt, oder als Ärgernis toleriert, eine literatur-politisch aggressive Funktion. Unter diesem, gewiß zwiespältigen Gesichtspunkt, muß die Adaption westlicher Literatur verstanden werden; sie war in einer Notlage, Notwehr und ratloser Notbehelf, oft schlechter, wenn sie sich ihrer Vermittlung nicht bewußt, als rein literarische Lösung verstand.
Nach Maßgabe dieser, hier kurz angeführten biographischen, gesellschaftlich-politischen, literarischen Determination und nicht nach hiesigen Fragestellungen, oder angeblich übergeordnet-allgemeingültigen literaturtheoretischen Kriterien sind die nachfolgenden Gedichte zu untersuchen. Ihr Problem und damit auch das ihrer Funktion und Beurteilung ist die Frage danach, wie sie das spezifische Dilemma, die ihnen zugrundeliegende und sie kompliziert vermittelnde Zwangslage, die permanente folgenreiche Einwirkung von Zensur bestanden. Überprüfung dieser Gedichte muß hier kritische Rücküberprüfung dessen sein, was an ihnen – reflexhaft oder reflektiert – Resultat ideologischer Überprüfung und Nötigung ist: Rezension des unter rückläufiger Zensur entstandenen literarischen Produkts zensurierter und durch Zensurierung pervertierter Existenz.
Der Konflikt mit Zwang, Zensur und den oft unbewußten Folgen ihrer nachhaltigen Einwirkungen aufs Bewußtsein ließ sich nicht öffentlich und direkt austragen: obwohl zentrales Problem und prekär konnte er nicht direkt Gegenstand der Gedichte werden. Er blieb zwischen Reflex und Reflexion und wurde in den heiklen Zwischenraum zwischen den Zeilen abgedrängt. Für diesen einigermaßen freien, weil heimlichen Zwischenraum von Andeutungen, Anspielungen, versteckten Bezügen, bewußtverschlüsselten Metaphern, plötzlichem Schweigen entwickelte sich folglich bei Autor wie Leser ein konspiratives, gegen die Zensur gerichtetes und sie unterlaufendes Sensorium. Der Leser wußte, daß mit Schreiben und Publizieren auch seine Lektüre unter Aufsicht stand, er kannte und ahnte den Katalog von Verordnungen, Verboten, Tabus und las dementsprechend: er stellte den Druck der inhaltlichen, formalen Kontrolle sensibel in Rechnung, rezipierte im Bewußtsein der Brechung durch die Zensur. Worauf in diesem Produktions-Rezeptions-Zusammenhang, in diesem eigengesetzlich definierten Bezugssystem poetische Techniken und Topoi zurückzuführen sind, und was sie beziehungsweise besagen, dafür ließe sich – zur Unterscheidung – ein kommentierendes Vokabular aufstellen. Der aufs Indirekte, Verschlagene, Angedeutete eingespielten Apperzeption bedeutete zum Beispiel auch noch das ausweichende, realitätsflüchtige von was anderem als von den sozialen, politischen Realitäten Sprechen Auseinandersetzung damit, oder zumindest, im indirekten Verständnis, negative Reaktion auf die jahrelang abverlangte dekorative Bejahung.
Zugegebene Ausrede, verweigerte Stellungnahme war bei zensorischer Verhinderung einer abweichenden, Absage an die Verpflichtung zur konformen; Skepsis, Zynismus, Schwarzfärberei, selbst in einem anscheinend pur persönlichen Liebesgedicht: Opposition gegen verordnetes Credo und pauschale Ausrufung des Heils; Resignation, Depression: Resultat und Verneinung der Vergewaltigung zum Glück; euphemistische Natur-Metaphorik: Umschreibung politischer Tabus; Unverbindlichkeit, Nonsens, formale Spielereien: provozierte Antithesen zur unbewiesenen These vom sozialistischen Realismus; in diesem Kontext definierte sich sogar l’art pour l’art politisch gegen Bevormundung. Schweigen, Verstummen, unterdrücktes Flüstern und Chiffren kündeten in dieser Schreib- und Lese-Kondition zwar oft vermeintlich von existenziellen Rätseln, oder gar metaphysischen Geheimnissen, aber doch wohl verständlicher von einem durchaus offenkundigen politischen Redeverbot, das den Autor gewaltsam von der Realität trennte und in die metaphorisch-surreale Flucht schlug.
Aber diese poetischen Äquivalente einer politisch bestimmten Reaktion auf die gewalttätig-apriorische Verpflichtung zu Positivität, Optimismus, bedingungsloser Affirmation von Realität und Ideologie laufen Gefahr Beziehung und Reflexion auf ihre Ursache und Vermittlung zu vergessen, sich infolgedessen zu verselbständigen und als rein poetische Gebilde zu mißverstehen. Das passiert ihnen dann, wenn der resigniert-melancholische Rückzug auf privatistisch-ästhetische Innerlichkeit seinem Motiv keinen Widerstand mehr entgegensetzt, die Not zu einer Tugend umschwindelt, sich anstatt negativ, nämlich als notgedrungene Ausflucht zu verstehen, positiv als freie Bewegung verkennt und ein zweites, autonomes Reich hypostasiert: das freischwebende der Poesie.
Mit dieser Perversion erfolgt eine widerspruchslos-freiwillige Abdankung aus dem gesellschaftlich-politischen Zusammenhang, eine aktive, den Wirklichkeitsverlust sanktionierende Aufkündigung der Beziehung zur Realität: Konsequenz verinnerlichter Zensur, einer automatisch-reflexhaften Selbstexekution. Wo dies in den folgenden Gedichten stellenweise nachweisbar der Fall ist, handelt es sich tatsächlich um schlecht-apolitische, ihrer zensorischen Vermittlung nicht bewußte Poesie. Die Poetisierung des Konflikts mit der Zensur geht nicht mehr ungeteilt aufs Konto der offiziellen, die – Indiz funktionierender Selbstzensur – innerliche, metaphorisch-verschleierte Gedichte immer anstandsloser zuläßt, sondern auch zu Lasten des Autors, dessen Wachsamkeit und Reflexion hier versagt. Weil die notwendige Rücküberprüfung der Zensur, die Rezension ihrer verinnerlichten Folgen hier in einer Phase zu kurz kommt, in der wenn auch beschränkt kritisch-realitätsbezogene Rückkehr aus dem vormals oppositionellen Ausweichquartier Innerlichkeit möglich wäre, verfallen die Gedichte gelegentlich einem sich selbst genießenden Ressentiment und verpassen den Anschluß an die veränderte Taktik der Zensur. Damit laufen sie Gefahr ihre mögliche und notwendige Funktion: konkret-indizierende Reibereien mit den subtileren Spielarten der Zensur zu verfehlen.

Günther Schulz, Vorwort

 

Günther Schulz läßt seine Gedichte

mit einem ausführlichen Vorwort erscheinen; denn diese Gedichte wurden von ihm in den Jahren 1968/69 in Rumänien geschrieben. Schulz war damals rumänischer Staatsbürger, der der deutschen Minderheit angehörte. Seine Gedichte entstanden also unter Bedingungen, die einer Erläuterung bedürfen, da sie hier erscheinen, „herausgelöst aus dem spezifischen Produktions-Rezeptions-Zusammenhang, der sie nach Beweggrund und Zielrichtung bestimmte“. Schulz will diese Gedichte denn auch in erster Linie als Dokumente verstanden wissen, und er betont:

Sie sind nach Maßgabe der Notlage, aus der sie hervorgingen, bis hinein in die Fehler ihrer Qualitäten untrennbar reaktiv verbunden mit folgenschweren ideologisch-politischen Faktoren.

Obwohl diese Gedichte von Günther Schulz in einem Zeitraum von weniger als zwei Jahren entstanden sind, zeigen sie deutlich eine Entwicklung von sich hermetisch darstellender Metaphorik hin zur Reflexion auf die Sprache, der durch Wiederholungen und Variationen Bedeutungsnuancen abgefordert werden. Ein großer Teil der Gedichte, chronologisch betrachtet und auch in dieser Anordnung der mittlere Teil, sind von elegischem Ton und konfrontieren oft Sprachbewußtsein mit Natur-, Landschafts- und gelegentlich auch Kulturzitaten. Das literarische Bewußtsein von Schulz drückt sich typisch in dieser kurzen Strophe aus:

heimlich verspielen die worte
unter dem schnee
die unnatürlichen bilder
den eisernen tod

Diese „rezensierten Gedichte“ sind im Zusammenhang mit des Autors gründlicher Stellungnahme zu ihrer Entstehungssituation zweifellos Dokumente, sie markieren aber auch eine individuelle Ausgangsbasis von Literatur und können, ihrem historischen Kontext entzogen, durch eigene Suggestivkraft ihrer Existenz befestigen.

Literarisches Colloquium Berlin, Klappentext, 1971

 

Rezensierte Gedichte

Ebenfalls in der Reihe der LCB-Editionen ist der Band Rezensierte Gedichte des 25jährigen Günther Schulz erschienen, der in Rumänien geboren wurde und 1970 in die Bundesrepublik ausgewandert ist. Seine Texte sind interessant vor allem als Dokumente einer ganz spezifischen, aber auch über das Spezifische hinaus charakteristischen Situation. Denn diese Gedichte wurden noch in Rumänien geschrieben von einem Angehörigen der dort seit Jahrhunderten lebenden deutschsprachigen Minderheit. Welche Probleme diese zwischen Integration und Emigration lebende Volksgruppe hat. Welche „Konjunktiv-Existenz“ sie im Hinblick auf den utopischen Traum einer Auswanderung nach Westdeutschland führt, und in welcher Weise die rumänien-deutschen Schriftsteller die westdeutsche Literatur als „Refugium, Resistenz, Antithese“ benutzten in einem „politischen Privat-Akt“ – das alles macht Günther Schulz in seinem ausführlichen Vorwort deutlich.
Vor allem aber macht er sehr eindrucksvoll klar, unter welchen ideologisch-politischen Bedingungen diese Gedichte geschrieben wurden, wie Zwang und Zensur die lyrische Produktion direkt beeinflussen, wie Gedichte in einer Diktatur aus Not privat, innerlich, metaphorisch werden, um die feinen Maschen des Zensur-Siebs passieren zu können. Verweigerte Stellungnahme; wird hier zur Absage an die Konformität, Skepsis zur Opposition gegen verordnete Schönfärberei, Natur-Metaphorik zur Umschreibung politischer Tabus, formale Spielerei wird zur Absage an den Sozialistischen Realismus. Und Schulz, aus dessen Texten wir lernen können, wie Dichtungen aus totalitären Staaten zu lesen sind, schreibt:

Schweigen, Verstummen, unterdrücktes Flüstern und Chiffren kündeten in dieser Schreib- und Lese-Kondition zwar oft vermeintlich von existentiellen Rätseln oder gar metaphysischen Geheimnissen, aber doch wohl verständlicher von einem durchaus offenkundigen politischen Redeverbot, das den Autor gewaltsam von der Realität trennte und in die metaphorisch-surreale Flucht schlug.

J.P. Wallmann, Die Tat, 3.6.1972

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Alea Torik: Rezensierte Gedichte und andere: „wesentlich aufgelöst und gebildet“
aleatorik.eu, 10.7.2011

 

Fakten und Vermutungen zum Autor

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