Guillaume Apollinaire: Bestiarium oder Das Gefolge des Orpheus

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ted Berrigan: Guillaume Apollinaire ist tot

Apollinaire/Dufy-Bestiarium oder Das Gefolge des Orpheus

DIE SIRENEN 

Weiß ich, Sirenen, woher eure Trauer rührt,
Wenn ihr überall in der Nacht eure Klagen führt?
Voll zarter Stimmen, Meer, muß ich mich gleich dir bekennen
Und meine tönenden Nachen die Jahre nennen.

 

 

 

Guillaume Apollinaire – er lebte von 1880–1918 –

war zeit seines Lebens nicht nur ein großer Leser, sondern auch der Liebhaber entlegener Bücher. Er trug so etwas wie eine unsichtbare Bibliothek in sich, und zweifellos war er jemand, der sich in den Bestiarien, den Tierbüchern des Mittelalters, auskannte. Sie können jedenfalls als das Muster seines Bestiariums oder Das Gefolge des Orpheus gelten, das der etwa Dreißigjährige zu Holzschnitten von Raoul Dufy schrieb. Diese spielerischen Schreibübungen, die so virtuos andeuten und mit Zeitgenossen und Mythen Versteck spielen, bringen auf engem Raum, in wenigen Zeilen Pointen und Charakter einer ganzen Dichtung zum Ausdruck: Witz, Grazie, Geselligkeit und virtuosen Verstand.

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1978

 

Metamorphosen des Dichters im Werk Apollinaires1

[…] le dieu de l’impuissance, dieu moderne et hermaphrodite, – impuissance si colossale et si énorme qu’elle en est épique!
Baudelaire, La Fanfarlo

[…] cette créature frêle, chez laquelle le sexe avait dû hésiter […] hermaphrodite étrange venu à son heure dans une société qui pourrissait […] il était le dieu de cet âge […]
Zola, La Curée

Et l’Androgyne aux grands yeux verts phosphorescents
Fleurit au charnier d’or d’un monde en pourriture.
……………………………………………………………………………
Voici, voici venir les temps de l’Androgyne.

Albert Samain, Vision

 

Admirez le pouvoir insigne [nämlich des Orpheus] – diese Worte eröffnen die erste kleine Sammlung von Gedichten, mit denen Apollinaire im Jahre 1910 an die Öffentlichkeit trat: Le Bestiaire ou Cortège d’Orphée.2 Eine Frühfassung erschien bereits 1908 in der Zeitschrift La Phalange – zwei Jahre vor der endgültigen Ausgabe, die zu 30 Holzschnitten von Raoul Dufy mit Darstellungen des Orpheus und einer Anzahl offenbar auf ihn bezogener Tiere jeweils epigrammartige Kurzstrophen brachte, fast ausnahmslos Vierzeiler, die jedenfalls von fern an mittelalterliche Bestiarien erinnern mochten, wie das auch der Titel nahelegte – mehr aber an die emblematische Literatur von Renaissance und Barock gemahnten –3 in ihrer Verknüpfung von Bild und Inschrift, ihren Anspielungen und nicht offen zutage liegenden Sinnbezügen.
Eine hintergründige Naivität spricht aus den Versen, die erst nach und nach, in der Addition der verschiedenen Anspielungen durch den Leser und beim gleichzeitigen Blick auf die vom Autor angefügten kurzen Notes4 ihre Hauptabsicht preisgeben: Orpheus wird, und das ist angesichts einer jahrhundertealten, auch im 19. Jahrhundert durchaus lebendigen Tradition5 an sich nichts überraschendes, Verkörperung des Dichters. Augenfällig ist aber der Nachdruck, mit dem die allgewaltige, übernatürliche Macht des mythischen Sängers hervorgehoben wird. Er ist der Erfinder sämtlicher Wissenschaften und Künste und kennt als mit der Magie Vertrauter die Zukunft. Auch solche Auffassungen sind nicht unbedingt neu, und man könnte ihre Ursprünge bis in die Antike, das Mittelalter6 und besonders die Renaissance7 zurückverfolgen. Hier soll uns allein die Vorstellung von Orpheus im Bestiaire selbst beschäftigen, für deren Quellen das gilt, was Apollinaires Rezeptionsverhältnis zur literarischen Tradition überhaupt kennzeichnet: Es ist ein durchaus eklektisches, bei dem der Gedanke an die Adaptationsmöglichkeiten an das eigene Weltbild alle möglichen Überlegungen hinsichtlich einer Überlieferungstreue zurücktreten läßt.
In den Notes am Ende des Bestiaire, dort, wo das mythische Gewebe dieser kleinen Gedichte scheinbar vor allem durch einen sich wissenschaftlich gebenden Kurzkommentar dokumentiert und verfestigt werden soll, wird ein weiterer wichtiger Aspekt dieser Sammlung offenbar: Apollinaire spricht wie selbstverständlich von der Gottähnlichkeit derer die dichten. Wie kann es kommen, daß dieser alte Topos der Literatur8 ausgerechnet bei diesem entschlossenen, oft radikalen Vertreter der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts symbolträchtig aktualisiert wird?
Zunächst: Die Angleichung des Orpheus an den Dichter schlechthin geschieht keineswegs absichtslos oder als gelehrter Schnörkel. Gerade der frühe Apollinaire liebt es, seine Aussage in raffinierter Kürzung und in Andeutungen zu verschlüsseln.9 Der Orpheus des Bestiaire wird in zwei Bildunterschriften scheinbar beiläufig mit jenen sagenhaften Sirenen in Verbindung gebracht,10 die der griechischen Sage zufolge ihre körperlichen Vorzüge mit der verzaubernden Kraft ihres Gesanges verbanden, um vorbeifahrende Schiffer anzulocken und sie dann zu töten. Nun tauchen an verschiedenen Stellen von Apollinaires frühester und bekanntester Gedichtsammlung Alcools [1913] und anderswo abermals ganz beiläufig Formulierungen auf wie

Moi qui sais
[…] des chansons pour les Sirènes
11

Es ist also das lyrische Ich selbst, das den Sirenen ihre übermächtigen Gesänge erst liefert und sich, wie der thrakische Sänger,12 mit ihnen messen kann. Orpheus, dazu eine allgemeine Vorstellung vom Dichter und das sich hier produzierende literarische Individuum werden eins in der Suggestivkraft ihrer Kunst; der einleitende Vers des Bestiaire: „Admirez le pouvoir insigne“ bekommt als Aufforderung an das Publikum, die Fähigkeiten des Dichters zu würdigen, seinen Sinn. Es ist die Leserschaft, die offensichtlich einer Ermunterung bedarf, dem Dichter den ihm zukommenden Rang einzuräumen. Im Rückgriff auf den antiken Orpheus-Mythos, das kann als allgemeines Ergebnis dieser ersten von insgesamt fünf skizzenhaften Analysen, die hier vorgestellt werden sollen, notiert werden, offenbart sich bereits im Bestiaire eine Reflexion auf die Stellung der pauvres poètes13 und des schreibenden Ich in der Welt.
Gegenüber dem schmalen Bändchen mit seiner beinahe miniaturenhaft-verspielten Anlage und der offenen Form der Bilderreihung präsentiert sich das andere Frühwerk Apollinaires, der 1909 erschienene Enchanteur pourrissant,14 in episch-dialogischer Ausführlichkeit. Auch hier verweist der Titel auf eine Gestalt des Mythos, genauer: der altfranzösischen Sage – den Zauberer Merlin nämlich. Wie sehr häufig bei Apollinaire, so spielt bei der Wahl dieser Figur eine traumatische Kindheitserfahrung eine wichtige Rolle – seine Geburt als uneheliches Kind einer polnischen adligen Lebedame in Rom.15 Im Enchanteur ist Merlin wie in der literarischen Überlieferung Sohn des Teufels und eines armen Edelfräuleins. Von daher ergibt sich seine doppelte Natur: er ist Mensch und Dämon zugleich, er besitzt umfassende magische Fähigkeiten, darunter die Kraft der Weissagung, fällt aber den Zauberkünsten der Viviane, der dame du lac, zum Opfer, die diese ihm abgelauscht hat. Merlin legt sich in das vorbereitete Grab mitten im Wald,16 das von Viviane mit einem Stein verschlossen wird, und stirbt: 

Mais, comme il était immortel de nature et que sa mort provenait des incantations de la dame, l’âme de Merlin resta vivante en son cadavre.17

Die Vorgeschichte und der Akt der Verzauberung umfassen als Exposition nur einen kleinen Bruchteil des Werks. Sein eigentlicher Gegenstand ist, wie der Titel sagt, der verwesende Zauberer. In einer Kette von ineinander übergehenden dialogisch-szenischen Sequenzen spricht die Stimme des enchanteur mit der das Grab bewachenden dame du lac, vor allem aber mit der Fülle der Wesen und Gestalten, die, oft paar- und gruppenweise, scheinbar ganz unvermittelt an seinem Grab auftauchen. Dabei ist die Grundaussage, die sich leitmotivisch durch den ganzen Text zieht, nämlich die Einsicht in die éternités différentes de l’homme et de la femme, wohl auch vor einem biographischen Hintergrund zu sehen, sie verweist aber im literarischen Kontext darüber hinaus generell auf die Unmöglichkeit einer Beziehung zwischen Zauberer und Umwelt.18 Das sich in Viviane verkörpernde allgemeine Konzept des Weiblichen, die traditionelle Adresse dichterischen Kommunikationsstrebens, wird hier Kristallisationspunkt eines universalen Mißverstehens und damit Ursache von Merlins Qual und körperlichem Tod. Es braucht nicht daran erinnert zu werden, daß die tödliche Bedrohung und Gefährdung durch die geliebte Frau in der französischen Lyrik mindestens seit der Renaissance – man denke an Maurice Scèves Délie – ein bekanntes Bild für das Versagen des Dichters ist.19
Nun sind da aber noch die anderen Gestalten, die auftauchen, ihren Part aufsagen, um dann wieder im Dunkel des Waldes zu verschwinden. Jean Burgos hat in seinem umfassenden Kommentar zum Enchanteur pourrissant zahlreiche wichtige Einzelhinweise zu Quellen und auch zur Rolle vieler Figuren gegeben, die über den Enchanteur hinaus in das Gesamtwerk Apollinaires ausstrahlt.20 Die große Zahl und die Vielfalt des sich am Grabe des Zauberers einfindenden Personals werden sicher noch lange die Forschung beschäftigen, zumal da Apollinaire ein Meister der kryptischen Anspielung ist; der in unseren Tagen reichlich strapazierte Begriff „Code“ hätte, auf sein Werk angewandt, einen gut zu rechtfertigenden Sinn.
Das Spektrum der Erscheinungen schließt historische und erfundene Gestalten ein, das Alte Testament ebenso wie den antiken Mythos, die mittelalterliche Welt der Artusromane21 ebenso wie etwa Ariosts Orlando Furioso22 und vieles andere, männliche und weibliche Chöre, aber auch beispielsweise die Engelshierarchien.23
Es bereichert sich um Kategorien, die es in der Geschichte wie in der Literatur gar nicht gibt: die falschen hl. drei Könige (les trois faux Rois Mages),24 die falschen Hirten von Bethlehem (les faux santons).25 Hier deutet sich eines der zentralen Themen des Werkes an: die persönliche und allgemein-kulturkritische Abrechnung mit dem Christentum. Merlin als Sohn des Teufels ist auch der Antichrist, und sein Grab bildet das Zentrum einer in christlichem Sinne vollkommen negativen Welt.26 Solch eine Auseinandersetzung mit der überkommenen Religion begegnet bei Apollinaire auch sonst – man denke nur an eines seiner bekanntesten Gedichte aus dem Jahr 1912: „Zone“, wo die Sinnentleerung des Glaubens in die pressegerechte Bewältigung der Himmelfahrt Christi mündet:

il détient le record du monde pour la hauteur.27

Christus und Christentum sind aber in dem Gedicht wie auch in dem Prosawerk Inbegriff und Verkörperung der überkommenen kulturellen Werte, in deren schmerzhaften Desintegrationsprozeß der Dichter geraten ist: „A la fin tu es las de ce monde ancien“, lautet der Eingangsvers von „Zone“,28 der sich cum grano salis als Motto für den Enchanteur pourrissant denken ließe.
Ein solcher Kulturüberdruß hat im Fin de Siécle und in der Ära des beginnenden Futurismus einen, fast möchte man sagen, vertrauten Klang. Wenn er im Enchanteur trotz der eklektischen Hineinnahme eines umfangreichen Bildungsreservoirs nicht zur kalten akademischen Auflistung gerinnt, sondern über weite Strecken eine geradezu lyrische Intensität erlangt, so liegt das nicht zuletzt an den immer bestehenden persönlichen Bezügen zwischen dem Zauberer und dem auftretenden Personal. Der tote Merlin und seine Besucher kennen sich aus meist nur angedeuteten Vorstufen ihrer jetzigen Existenz, sie weisen offenkundige Berührungspunkte auf, die sich im Sinne einer (Teil)identität29 oder auch Teilnegation begreifen lassen, wobei es der Textanalyse gelingen muß, die einzelnen Schichten eines sich als kompakt und kohärent darstellenden Aussage- und Handlungszusammenhanges voneinander zu lösen.
Eine solche, auf den ersten Blick wenig bedeutende kurze Szene haben wir beispielsweise bei dem unvermittelten Auftritt der Sphingen vor uns – jener fabulösen Ungeheuer der griechischen Sage, die hier überraschend einen kollektiven Selbstmord inszenieren, nachdem Merlin diesen als Akt einer rituellen Selbstverwirklichung rechtfertigt, um mit der dunklen Apostrophe zu schließen:

Vous qui fûtes toujours sur le point de mourir.30

Wenig später entfaltet der aus dem Alten Testament transponierte Tierdämon Béhémoth31 seine Macht an der Grabstätte, um die anwesenden Tiere in einen Rausch selbstzerstörerischer Exzesse zu treiben. Neuere Untersuchungen haben wahrscheinlich gemacht, daß in diesem animalischen Mikrokosmos maßloser Gefräßigkeit und unaufhörlicher fruchtloser Begattungsorgien, schematisch ausgedrückt, eine kulturkritische Projektion von Apollinaires Dekadenzerfahrung zu sehen sei, und sein Bild von einer todessüchtigen, dem hemmungslosen Genuß ergebenen zeitgenössischen Gesellschaft wiedergäbe.32 Um so mehr verdient dann eine eher beiläufige Episode auch in diesem Rahmen Beachtung. Bei Merlin präsentieren sich auch Magier, Hexen und Wahrsager der verschiedensten Kulturkreise, darunter auch der blinde Seher Tiresias. Er ist eine der ganz wenigen Gestalten, die ausdrücklich als enchanteur qualifiziert wird und schon von daher einen assoziativen Bezug zum Titelhelden nahelegt:

Tirésias, l’aveugle que les dieux firent parfois changer de sexe.33

Tiresias ist, darin stimmen die Lesarten überein, einer der bedeutendsten Hermaphroditen der griechischen Sage. Sein vielfach belegter Ruhm rührt von seiner Sehergabe her, die er beispielsweise bei der Weissagung der Schicksale des Ödipus unter Beweis gestellt hatte.34 In Apollinaires Enchanteur bleibt dies die einzige Erwähnung des Tiresias. Als allerdings kurze Zeit später Béhémoth auf den Plan tritt, um sich die anwesenden Tiere im Sinne seines Negationsprogrammes gefügig zu machen, erteilt er ihnen einen wiederum scheinbar beziehungslosen Befehl:

Quant à ceux qui sont hermaphrodites il est juste qu’on les tue, car depuis longtemps déjà ils n’ont plus de raison d’étre.35

Die Tiere stürzen sich sogleich auf die Zwitter, die, so heißt es weiter, „se laissèrent tuer sans résistance, tant ce qu’avait dit le dictateur leur paraissait raisonnable.“36 „Raison d’être, raisonnable“ – wie hat der Interpret zu begreifen, was auf der Ebene des am Grabe Merlins anwesenden Personals von den Betroffenen sofort als einleuchtend akzeptiert und doch nicht erklärt wird?37 Warum trifft die Hermaphroditen dieses Schicksal, wer sind sie überhaupt? Der einzige Zwitter, der zuvor aufgetreten war, ist Tiresias, und den einzigen Akt einer Tötung, kollektiver freiwilliger Selbsttötung, um genau zu sein, hatten zuvor die Sphingen an sich vollzogen. Der Überlieferung nach werden diese Fabelwesen als männlich oder weiblich, wenn nicht als doppelgeschlechtlich verstanden.38 Im Enchanteur pourrissant tragen sie Züge, die äußerlich durchaus auf den antiken Mythos zurückverweisen – sie erscheinen als poseurs d’énigmes39 – stehen aber, wie gesagt, unerklärlicherweise ständig im Begriff zu sterben.40 Die geschlechtliche Ambivalenz teilen sie mit Tiresias, aber auch mit Merlin, der sich, wenn auch weniger offenkundig, ebenfalls im Dunstkreis des Hermaphroditismus und der Androgynie bewegt.41 Wenn man akzeptiert, daß Tiresias, der einzige bis dahin ausdrücklich genannte Hermaphrodit, zwangsläufig zu den Opfern Béhémoths gehört, so würde sich eine Übereinstimmung auch im von außen veranlaßten, dann aber bereitwillig hingenommenen Tod ergeben. Auch Merlin hatte sich am Anfang conscient, wohl um sein Schicksal wissend, es gleichwohl hinnehmend, in sein Grab begeben.42
Warum aber wird Tiresias zum enchanteur, zum „Verzauberer“ – wie Merlin, dessen Kennzeichnung er damit gleichsam spiegelbildlich aufnimmt – und wie der Orpheus des Bestiaire?43 Wie sie beide ist er ein Seher. Orpheus verkörpert in dem lyrischen Frühwerk den Dichter und wird übrigens gerade in dieser Ausdeutung in einem zentralen Gedicht der Alcools (Le Larron“) kaum noch latent als doppelgeschlechtlich verstanden.44 Merlin wiederum wird im Enchanteur pourrissant beiläufig, aber unüberhörbar poète genannt.45 Warum aber steht ihrer aller Einheit, ja Identität im verschwiegenen Zeichen des Hermaphroditen? Kein Zweifel, daß in Apollinaire die Faszination vor jenem Konzept „autistischer“ Vollkommenheit und Quasi-Göttlichkeit fortwirkt, das zahlreiche Autoren des 19. Jahrhunderts in Frankreich gefangen hielt.46 Auch die Identifizierung der dichterischen Persönlichkeit mit dieser prekären Idealvorstellung war bereits seit Rousseau47 denkbar geworden; wenn sich etwa Chateaubriand in den Mémoires d’outre-tombe einen androgyne bizarre nennt,48 so handelt es sich um eine (Selbst-)Stilisierung des Dichters im Sinne dieses Modells ebenso wie in Baudelaires Novelle La Fanfarlo, wo der Autor Samuel Cramer analog charakterisiert wird.49 Das enthusiastische Negativportrait, das Baudelaire in seiner Erzählung liefert, gibt aber zugleich das untrennbare Korrelat solch überirdischer Perfektion preis, das diese fortan bis hin zum Fin de Siècle begleiten wird: Der sich selbst genügenden Vollkommenheit, die die getrennten Bereiche der Natur eint, Immanenz und Transzendenz verbindet, entspricht zwangsläufig das Versagen im Alltäglich-Natürlichen, im Bereich des Erotischen vor allem50 und damit in der Grundsituation menschlicher Soziabilität. Es ist der nur in der Tonhöhe variierte Grundakkord lyrisch-dichterischer Selbstdarstellung im 19. Jahrhundert, der hier angeschlagen wird – die Frage nach der Stellung des künstlerischen Individuums in der es umgebenden Welt.
Um auf den Enchanteur pourrissant zurückzukommen: So wie Dichter und Seher identisch gesehen werden,
51 so rechtfertigen sich der Tod Merlins und der des Hermaphroditen Tiresias in figuraler Identität: Merlin geht im Bewußtsein nicht erwiderter Liebe und der Unmöglichkeit der Kommunikation zugrunde, so wie die Existenz der vollkommenen Zwitter in den Todesorgien einer dem Untergang geweihten Gesellschaft nicht geduldet werden kann. Tiresias ist das Spiegelbild Merlins, in ihm verdeutlicht sich die Vorstellung vom Tod der Dichtung in der Gegenwart.52
Die These, daß Apollinaire nicht nur in Orpheus und Merlin, sondern auch in dem doppelgeschlechtlichen Tiresias Zeichen für die Not der Dichtung in einer ihrer unwürdigen, unangemessenen und feindlichen Umwelt gesetzt hat, ist auch durch den Blick auf die Grobstrukturen späterer Werke zu erhärten. Vorausgeschickt werden muß, daß die pathetische Selbstinszenierung im Gewande des Mythischen, die die beiden Frühwerke Le Bestiaire ou Cortège d’Orphée und L’Enchanteur pourrissant (und übrigens auch eine Reihe von Gedichten aus dieser Epoche)53 prägt, in den danach veröffentlichten Texten von Apollinaire zunehmend gebrochen erscheint; überhaupt zeigt sich nach etwa 1912 ein viel deutlicherer thematischer und stilistischer Bezug zur Gegenwart, ohne daß dies freilich den Verzicht auf jene Technik, gelegentlich geradezu Manie einer hermetischen Zeichensetzung bedeutet, die den Rückverweis auf die eigene biographische Existenz gleichsam als Paradigma einsetzt.
So bringt denn auch die dritte Etappe der hier zu erörternden Metamorphosen nicht länger eine Verschiebung ins idealische Nirgendwo, sondern sie ist im Gegenteil großenteils im zeitgenössischen Mitteleuropa angesiedelt, an jenen Stationen übrigens, die der junge Apollinaire durchwandert hatte, Belgien, Frankreich, Deutschland zumal. Gemeint ist die Titelerzählung des 1916 erschienenen Novellenbandes Le poète assassiné.
54 Der Held trägt einen ausgefallenen Namen, Croniamantal, was Michel Décaudin als Kontraktion von Cro-Magnon und Neandertal gedeutet hat: Der Dichter sei der ursprüngliche Mensch, der zugleich innerhalb und außerhalb der Zeit stehe, damit sowohl eine Figur der Geschichte sei als auch mythischer, zeitloser Held.55 Die Angrenzung an den Mythos wird tatsächlich bereits im ersten Absatz der Geschichte erreicht, wenn der über die Erde reichende Ruhm des Dichters ebenso erwähnt wird wie der Umstand, daß 123 Städte in sieben Ländern auf vier Kontinenten sich heute darum stritten, sein Geburtsort zu sein. Es schließt sich eine burlesk-philologische Übersicht über die Namen des Croniamantal in den verschiedenen Regionen der Welt an. In einer Reihe von Ländern handele es sich, so der Erzähler, erstaunlicherweise um Ausdrücke, die die Männlichkeit bezeichnen – was er sich nur als Euphemismus – korrekter vielleicht: als kompensatorische Überhöhung eines Sachverhalts erklären kann, den der Autopsiebefund bei dem toten Dichter erbracht habe.56 Dann aber, so fährt der Eingangsbericht fort, gebe es Völker, denen die Erinnerung an die Männlichkeit Croniamantals vollkommen abhanden gekommen sei und die deshalb, das wird in umständlichen Wortwiederholungen betont, den Dichter verweiblicht hätten:

ils ont féminisé Croniamantal.57

Ein besonderes Charakteristikum der Novelle58 ist ihre enge Verquickung mit dem Enchanteur pourrissant: Verkürzend gesagt, sind größere Textpartien, die ursprünglich für die Merlin-Darstellung vorgesehen waren, in sie eingegangen,59 was an sich schon Anhaltspunkte für die Verwandtschaft beider Dichtungen liefert. Auch die Titel beider Werke weisen ja in Inhalt und Konstruktion offenkundige Analogien auf. Die Wörter Poète assassiné könnte man, da man um die Identität des   weiß, geradezu als sachliche Reduktionsform des mythisch-verklärenden anderen Titels begreifen. Der Gegenstand des Poète assassiné ist der kurze, sich dennoch vollendende Lebenslauf des Croniamantal – kein Bildungsroman, aber die Travestie einer Bildungsnovelle mit vielen burlesken, komischen und phantastischen Elementen, die offensichtlich wiederum eine Fülle von autobiographischen Schlüsselsignalen enthalten. Aus ihnen entsteht, und das ist hier kein Widerspruch, ein sentimental-satirisches Gemälde der zeitgenössischen geistigen Landschaft. Man wird darin sehr rasch bestimmte thematische Strukturen des Enchanteur pourrissant verdeutlicht wiederfinden:60

So wie Merlin an seiner Liebe zu Viviane scheitert, so geht Croniamantal an seiner Leidenschaft für Tristouse Ballerinette und damit an einem existenziellen Mißverständnis zugrunde: Während das Mädchen für ihn den Sinn seines Dichtens, überhaupt seine Verbindung mit der Welt verkörpert, optiert sie für den utilitaristischen, dichtungsfeindlichen Zeitgeist, dessen zynische Variante sich in dem Modepoeten Paponat verkörpert. Die sich über die Welt ausbreitende Forderung nach dem Tod der Dichtung, die in dem Auftreten des glatzköpfigen Deutschen Horace Tograth kulminiert, erfüllt sich an Croniamantal, als er einer fanatisierten Menge zum Opfer fällt. An seiner Ermordung wirkt Tristouse mit, die ihn unmittelbar zuvor an Horace Tograth verraten hatte – gleichsam Judas, die Mänaden (der Tod des Orpheus wird in diesem Zusammenhang beschworen) und die Dame du Lac in einem.

Der ebenso triviale wie Züge des Rituellen tragende Tod ist das Ergebnis einer Herausforderung des Pöbels durch Croniamantal. Hier einige Sätze aus seiner Ansprache: 

Ton héros, populace, c’est l’Ennui apportant le Malheur […] C’est l’Ennui et le Malheur, le monstre ennemi de l’homme, le Léviathan gluant et immonde, le Béhémoth souillé de stupres, de viols et par le sang des merveilleux poètes. Il est le vomissement des Antipodes, ses miracles ne trompent pas plus les clairvoyants que les miracles de Simon le magicien n’en imposaient aux Apôtres […]
Je suis Croniamantal, le plus grand des poètes vivants. J’ai souvent vu Dieu face à face. J’ai supporté l’éclat divin que mes yeux humains tempéraient, J’ai vécu l’éternité. Mais les temps étant venus, je suis venu me dresser devant toi.61

Die Selbsterhöhung des Dichters wird hier verstanden als seine doppelte Annäherung an das Göttliche – eine räumliche, aber auch sogar eine identifikatorische, die ja durchaus christliche Züge trägt.62 Orpheus, der schon im Bestiaire christlich gedeutet und mit dem Kommen des Heilands in Verbindung gebracht wurde,63 scheint für Augenblicke in die Rolle des Erlösers zu schlüpfen; extremes Sendungsbewußtsein findet im extremen Leiden seine ironische Verklärung. Im synkretistischen Quasi-Mythos überschreitet der Dichter die Endlichkeit einer ihm nicht genügenden Zeit. Der Tod der Seher und Hermaphroditen Merlin-Tiresias im Enchanteur pourrissant nimmt zugleich kryptisch das Schicksal des doppelgeschlechtlichen göttlichen Dichter-Sehers64 Croniamantal vorweg – in einer Welt, die hier wie da im Zeichen des Béhémoth steht, in dem sich jetzt deutlicher noch als in dem Frühwerk die Barbarei eines kunstfeindlichen Zeitalters konstituiert. Die Botschaft von Croniamantal-Orpheus-Christus wird aber „zurückgenommen“; der tote Dichter erhält eine profonde statue en rien, comme la poésie et comme la gloire.65 Die die Erzählung einleitende Beschwörung von Croniamantals Ruhm bildet dazu nur den ironischen Kontrapunkt, denn jener beruht nicht auf einer integralen Vorstellung vom Dichterindividuum.66
Die Novellensammlung Le poète assassiné markiert den entscheidenden, die private wie die schriftstellerische Existenz gleichermaßen prägenden Bruch im Leben Apollinaires. Was der Autor unter dem Eindruck der Kriegserfahrungen geschrieben hat, verdeutlicht im nachhinein, daß die Gestaltung der Dichtungsproblematik im Enchanteur pourrissant und mit Einschränkungen selbst noch im Poète assassiné in der mythischen Identifizierung der Helden auch ihre Wendung ins Poetisch-Verklärende, stellenweise wohl gar ins Versöhnliche findet. – Indem Apollinaire das Schicksal des modernen lyrischen Dichters mit den Gestalten aus Mythos und Sage zusammenbringt, rückt er es in den Schutzbereich des schon anderwärts Durchlittenen, wenn nicht Idealtypischen: die veranschaulichte Desintegration wird in den Bildern kultureller Integration gestaltet und damit als letztlich nicht hoffnungslos verstanden.
Dann aber bricht das Erlebnis der Vernichtungsschlachten des Ersten Weltkrieges über Apollinaire hinein.67 Ein Blick auf die Bibliographie seiner Werke vermittelt den Eindruck einer nahezu ungebrochenen dichterischen Produktivität, die auch in den Jahren des Lebens an der Front kaum beeinträchtigt scheint. Die letzten Jahre entfalten eine breite Skala von kritischen Schriften, lyrischen und Prosatexten, dramatischen Entwürfen, selbst Filmdrehbüchern. Was ist in diesem Umkreis aus der alten Dichterthematik geworden? Das berühmteste Produkt der letzten Schaffensphase Apollinaires ist zweifellos jenes Bühnenstück mit dem verheißungsvollen Titel Les Mamelles de Tirésias68 und einer aufschlußreichen, wenn auch mißverständlichen Gattungsbezeichnung: drame surréaliste. Mit der sich wenige Jahre später formierenden surrealistischen Bewegung hatte es nämlich, außer daß es ihr den Namen verschafft hatte, wenig gemein – eher mit dem im 19. Jahrhundert entwickelten Super-Naturalismus-Konzept, das die Literatur in strikter Unabhängigkeit von jedem Abbildungsverhältnis begriff.69 Theatergeschichtlich ist das Stück mit seinem partiellen Unsinncharakter am Ende doch relativ leicht einzuordnen: das Spiel mit der Sprache, die permanente Illusionsaufbebung, die Personifizierungen von Kollektivabstrakta (so wird das Volk von Sansibar handelnd von einem einzigen Schauspieler dargestellt), die Marionettenhaftigkeit der Gestalten – all das und manches andere weist dem Stück eine Übergangsstellung zwischen dem Theater Alfred Jarrys und der dadaistischen Bühne zu.70 

Auf dem zeitgenössischen Sansibar begehrt Thérèse gegen die traditionelle Rollenfunktion als Hausfrau auf und nennt sich fortan Tirésias. Dem Mari (er hat keinen Namen) obliegt die Sorge um die Nachkommenschaft, die er in futuristischer Androgenese,71 nämlich ohne die Hilfe seiner Frau, in phantastischer Zahl (40049)72 an einem Tag hervorbringt. Erst in der letzten Szene des zwei Akte kurzen Stücks erscheint Thérèse Tirésias wieder, zunächst in der Gestalt einer cartomancienne, die einem Zuschauer weissagt:
Vous Monsieur prochainement,
Vous accoucherez de troisjumeaux,
was der
Mari resignierend kommentiert:
Déjà la concurrence
Dann aber erkennt er
Thérèse ou bien Tirésias, bedient sich eines bouquet de ballons, um Thérèse vollends zu ihrer Weiblichkeit zurückzuverhelfen. Die wiedergewonnene Ehefrau wirft die Ballons ins Publikum:
Envolez-vous oiseaux de ma faiblesse
Allez nourrir tous les enfants
De la repopulation
73

In dem letzten Wort stoßen vorgeblicher Sinn und Unsinn des Stückes zusammen. In seinem Vorwort hat Apollinaire behauptet, das Ganze sei als literarische Propaganda für einen neuen Kinderreichtum Frankreichs zu verstehen, und selbst neueste Untersuchungen haben das wenigstens nicht ausschließen wollen, so als ob der Autor nicht an derselben Stelle rabelaisisch mit der Frage der Ernsthaftigkeit jongliert hätte: 

il m’est impossible de décider si ce drame est sérieux ou non.74

Nun, sérieux ist es jedenfalls nicht, und wenn Ernsthaftigkeit dabei eine Rolle gespielt haben sollte, so dann nur derart, daß Apollinaire einen ursprünglich in anderer Form geplanten „ernstgemeinten“ Bühnenentwurf in einer späteren Phase überarbeitet und parodistisch aufgehoben hätte. Seine Angabe, daß er das Stück in wesentlichen Teilen bereits 1903, also 14 Jahre vor der Erstaufführung niedergeschrieben habe, könnte einen Anhaltspunkt für ein solches Verständnis bieten.75
Was macht Tirésias auf Sansibar? Ist der Name nur, wie es den Anschein hat, Bestandteil und Ergebnis eines Wortwitzes, wie sie sich in dem kurzen Stück zu Dutzenden finden? Über den Theaterort Sansibar kann man sich beruhigen; eine Nebenfigur sagt wiederholt beiläufig: [Zanzibar n’est pas en question] vous étes à Paris.76 Und Thérèse-Tirésias? Ihr Mann nennt sie einen homme-madame.77 Warum packt Thérèse der Drang, ihre bisher schlummernden Möglichkeiten zu nutzen? Aus dem Begründungswirrwarr der Eingangsszene lassen sich die folgenden Verse herauspräparieren:

Après tout je veux aussi aller me battre contre les ennemis
J’ai envie d’être soldat une deux une deux
Je veux faire la guerre
– Tonnere – et non pas faire des enfants 

Und wenig später sagt Thérèse 

Qu’après avoir été soldat je veux être artiste78

womit sie, nebenbei bemerkt, die Absichten des Kriegsfreiwilligen Guillaume Apollinaire kopiert. Der Krieg spielt in den Unterhaltungen der Personen, am deutlichsten wohl im rituellen Duell zweier marionettenhafter Nebenfiguren und ihren dazugehörigen Kommentaren, eine Rolle: 

aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaPRESTO
Je commence à en avoir assez d’être mort
Dire qu’il y a des gens
Qui trouvent qu’il est plus honorable d’être mort que vif

Décidément on regarde la mort
D’un oeil trop complaisant
79

Das Soldatentum Thérèses wird im übrigen nur kurz erwähnt. Sie sei General, erfährt man, und stehe an der Spitze der Armee. Das letztere sagt die Kartenlegerin, als sie sich als Thérèse zu erkennen gibt.80

Bei dem Ausbruch aus der bürgerlichen Ordnungswelt ruft Thérèse-Tirésias in einem dadaistischen Rausch der Freiheit aus:

Maintenant à moi l’univers81

Der hochgemute Optimismus erweist sich als trügerisch. Thérèse-Tirésias, die auszog, als Künstler die Welt zu gewinnen, endet als die banale Variante des Dichter/Sehers, nämlich als cartomancienne.82 Wie es ähnlich schon Croniamantal widerfahren ist,83 so wird ihr hier, vom Polizisten als Vertreter der öffentlichen Ordnung, die Wertlosigkeit, ja die Gefährlichkeit ihrer Existenz bestätigt:

Vous n’ignorez pas Madame
Que vous exercez un métier illicite
C’est étonnant ce que font les gens
Pour ne point travailler
84

Die Rückkehr Thérèse-Tirésias’ an die Brust des Gatten, die in dem drame surréaliste wie das meiste keiner logischen Kausalität unterliegt, bezeichnet die Einsicht in das Scheitern eines Rollenverständnisses. Der Einsatz im Krieg hat die Identitätskrise nicht bewältigen helfen. In den Augen der Welt degeneriert der Dichter zu jenem Charlatan, den Apollinaire schon früher in einem Gedicht gezeichnet hatte.85
Für das Verständnis der Mamelles de Tirésias als Paraphrase eines modernen Dichterlebens86 gibt es andere Anhaltspunkte, die hier nur angedeutet werden können. Dem Stück geht ein „Vorspiel auf dem Theater“ voraus, bei dem der Directeur de la troupe, der sich kaum verhüllt als der aus dem Krieg zurückgekehrte Apollinaire zu erkennen gibt,87 eine Poetik des modernen Theaters entwirft, die sich zugleich als Muster einer immanenten Selbstbewährung des Dichters versteht:

Son univers est sa pièce
A l’intérieur de laquelle il est le dieu créateur
88

Die Eroberung des Univers, von der Thérèse-Tirésias träumt, ist nur im Mikrokosmos der eigenen Imaginationskraft möglich. Die zerlumpte Kleidung der Kartenlegerin beschreibt demgegenüber eine Degradation des Künstlers, der endgültig aus der Sphäre des Heroischen herausgeraten ist: der Name des mythischen Sehers dient nur noch zur Erzeugung des komischen Kontrasts zwischen der einstigen Erhabenheit und seiner jetzigen Existenz.
Ist damit die Endstufe dichterischer Selbstreduktion erreicht? Unmittelbar vor seinem Tod vollendet Apollinaire ein weiteres drame: Couleur du temps, das noch im November 1918 seine Uraufführung erlebt.89 En 1918 ist auch die seltsam gestelzte und zeremoniöse Handlung angesiedelt, deren Textur hier nur teilweise freigelegt werden kann.

Eine Gruppe von Menschen in einem Land, das noch im Frieden lebt, will dem immer näher rückenden Krieg und der sich ausbreitenden Vernichtung entgehen; als geeignetes Mittel zum Ausbruch aus der beklemmenden Welt bietet sich eine damals viele Träume stimulierende technische Neuentwicklung an, das Flugzeug. Man fordert Nyctor auf, mitzukommen. Nyctor – der Name findet sich schon bei Lukian in der Wahren Geschichte und bezeichnet dort eine eher unbedeutende Nachtgottheit – zögert, denn er ist Dichter.90 Es ist der kaum variierte alte Grundakkord, den er zunächst anschlägt: Platon habe die Dichter aus dem Staat verbannt; tatsächlich sind sie aber über Gesetz und Moral erhaben, stehen dafür in der Verpflichtung:
d’exprimer
Tout ce que les autres citoyens
Peuvent ressentir de sublime
91
Der Gedanke an die Zukunft als Aufgabe des Künstlers läßt Nyctor schließlich an der Reise teilnehmen.

Der Flug führt in zunehmend abstrakte und phantastische Räume. Dennoch rückt die Biographie des Autors auf makabre Weise ins Bild, wenn eine der mitfliegenden Frauen mit der kaum verhüllten Namensassoziation Giraume, das Grab ihres Sohnes auf dem Schlachtfeld aufsucht. Nyctor, der Dichter mit dem nächtlichen Namen, wird zum Giraume redivivus, dies allerdings nur, um wie die anderen schließlich doch unausweichlich mit dem allgemeinen Untergang konfrontiert zu werden. Zu Beginn des dritten Aktes, Entre ciel et terre,92 geraten die Flieger an das Pantheon aller Kulturreligionen, wo ein Chor der Götterstimmen in der apokalyptischen Umkehrung der traditionellen Hierarchie die Götter von den Menschen abhängig erscheinen läßt und sie damit auch implizit ihrer Schutzfunktionen entledigt: 

Les Dieux qui vont mourir
Si l’humanité meurt
.93

Am Südpol schließlich entdeckt Nyctor in einem Eisblock die Gestalt einer Frau. Ekstatisch sieht er in ihr die Inkarnation seines, mehr noch: eines universalen ästhetischen Ideals, und zwar als Produkt seiner Einbildungskraft:

O beauté je te salue au nom
De tous les hommes de tous les hommes
C’est moi qui t’avais imaginée
C’est moi qui t’ai enfin inventée
Je t’ai créée fille de mes rêves
Je t’adore ma création
94

Es ist wie eine spiegelbildliche Entsprechung: hatte im Enchanteur pourrissant Merlin, der Seher-Dichter, mort et froid in seinem Grab gelegen, während die Dame du lac, die geliebte Frau, Zauberschülerin, sein Geschöpf, lebendig vor ihm stand, so scheinen jetzt die Rollen vertauscht. Die Frau scheint am Ende gebändigt in der vom Dichter geschaffenen Form, die ihr die Ewigkeit sichert und sie zur Göttin erhebt.
Es ist ein gutes Stück Voyeurtum in dieser ebenso makabren wie unfreiwillig komischen Szene, da Nyctor und die anderen Protagonisten um den Eisblock herum stehen und ihn betrachten, ja ihn in ein gut gekühltes Museum bringen wollen. Freilich: das Eis strahlt Kälte aus, und die Frau darin ist unerreichbar, unnahbar. Man ist an das Baudelairesche Bild der Schönheit erinnert:

Je trône dans l’azur95

Selbst die erstarrte, leblose Erscheinung beweist noch einmal ihre männermordenden Fähigkeiten: im Streit darüber, was sie verkörpere, die Schönheit, die Wissenschaft, vielleicht gar den ewigen Frieden96 – im Streit darüber duellieren sich die Männer und kommen allesamt zu Tode. Am Schluß des Stückes wird die Verdüsterung allgemein.97
Hier mag, wir sagten es schon, ein gut Teil Autobiographisches mitschwingen. Soll man aber auch den Negativmythos des Weiblichen98 aus solchen Wurzeln erklären? Dann würde man beispielsweise übersehen, daß sich das Thema der göttlichen, statuarisch entrückten Frau, um das anschaulich zu machen, in der Zeit um den Ersten Weltkrieg auch auffällig in der bildenden Kunst häuft. Einige Werke mögen für viele stehen: Picassos Deux Femmes nues assises (1920), Fernand Légers Femme tenant un vase (1924) und Die Tennisspielerin von Anton Räderscheidt (1926).99
Kein Zweifel, daß auch die Figur der ihr Menschenopfer heischenden Salome in diesen Zusammenhang gehört – der in der Literatur der Zeit häufig anzutreffende Typ der femme fatale.100 Auch der disprezzo della donnat101 der Futuristen beschreibt (kompensatorisch) dieses Phänomen, dessen kultur- und sozialgeschichtliche Wurzeln wie die fortschreitende Frauenemanzipation oder der Integrationsverlust des Christentums hier nicht erörtert werden können.102
Überlagert wird bei Apollinaire die Vorstellung von der Nutzlosigkeit, ja Schädlichkeit der Frau und von der geradezu tödlichen Bedrohung des Künstlerischen durch sie von dem gegenläufigen, archaischen Konzept einer in der Vereinigung von Männlichem und Weiblichem sich darstellenden einzigartigen Integrität und Vollkommenheit,103 die den Dichter als „übernatürlichen“ Zauberer und Seher aus der Menge heraushebt, ihn aber auch – im Zeichen einer epochenspezifischen Kulturfeindlichkeit – von ihr isoliert. Unter diesem Aspekt kann der mythische Seher Tiresias zur verschwiegenen Identifikationsfigur des modernen Dichters werden.
Auch wenn er nur im mittleren Bereich der hier kurz skizzierten Texte nachzuweisen ist, macht Tiresias die Entwicklung deutlich, die die Darstellung des Dichters im Werk Apollinaires durchläuft. Von den frühesten Werken an ist eine Reflexion auf die herausgehobene Sonderexistenz des Künstlers zu beobachten. Die notorische Endzeitstimmung, die sein Bild von Anfang an umwölkt,
104 setzt im Grunde das Modell hieratischer dichterischer Selbststilisierung fort, das besonders in der französischen Lyrik des 19. Jahrhunderts in wechselnder Intensität begegnet.105 Die krisenhafte Zuspitzung der Künstlerproblematik zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dazu die persönliche Erfahrung mangelnder Integration,106 führt zur Verwendung mythischer Heroenmodelle, deren Glanz und zeitlose Gültigkeit den Visionen vom Tod und Untergang der Dichtung entgegenwirkten. Orpheus ist der antike Sänger, aber er ist auch – gemäß einer Vorstellung der Renaissance107 – ,poeta theologus‘ und immerwährendes Bild des Dichters. Merlin ist das Gravitationszentrum eines Reigens der verschiedensten kultur- und religionsgeschichtlichen Erscheinungsformen. Das ist Croniamantal, der poète assassiné, nicht mehr. Die Konfrontation von Vollkommenheit des Dichters und defekter Welt transponiert die mythischen Elemente erstmals ausdrücklich auf die Ebene des zeitgeschichtlichen Paradigmas. Orpheus und Merlin waren noch „figurale“ Identitäten, im Poète assassiné ist der Mythos vorwiegend in der Assoziation gegenwärtig.
Das Denkmal aus NICHTS, das die Freunde dem toten Croniamantal errichten, ist beredtes Zeugnis der Umorientierung, die sich vollzogen hat. Das hohe Selbstverständnis, das der Dichter dem Unverständnis der Masse entgegensetzt, wird in den folgenden Texten nicht aufrecht erhalten. Therese in den Mamelles de Tirésias kann ihre künstlerischen Ambitionen nicht erfüllen und bringt es nur zur Trivialvariante des Künstler-Sehers. Couleur du temps verdrängt den Dichter gar aus der Zentralperspektive und bietet die Kunst nur noch als Alternative zu anderen Konzepten wie Wissenschaft und Frieden an. In seiner tödlichen Ratlosigkeit unterscheidet sich der Dichter hier nicht mehr von der übrigen kriegsgezeichneten Welt.
In der kurzen Scène nocturne du 22 avril 1915, einem der Korrespondenz mit Lou beigefügten Stücke, heißt es:

L’avenir m’intéresse et mon amour surtout
Mais l’art et les artistes futurs ne m’intéressent pas
108

In dem Selbstverständnis von Künstler und Kunst wird bei Apollinaire innerhalb einer begrenzten Zeitspanne von etwa 10 Jahren eine entscheidende Desintegration erkennbar, wie bei kaum noch einem anderen Autor der Zeit. Sind es zum Anfang die traditionellen kulturellen Inhalte, die verneint werden, so wird am Ende die Kunst selbst fragwürdig. Es hat, das soll wenigstens gesagt werden, bei Apollinaire, wenn auch kaum noch am Ende seines Lebens, gegenläufige Tendenzen zu solch einem pessimistischen Verständnis gegeben, deren Erörterung unseren Rahmen sprengen müßte.109 Auf etwas anderes sei aber abschließend ausdrücklich hingewiesen: wenig Sinn hätte es, die vorgezeichnete Entwicklung allein aus der Vita des Dichters erklären zu wollen. Zur Zeit von Couleur du temps war in Zürich bereits Dada als Modell einer Antikunst gegründet worden; die Vision von der Forderung nach dem Tod der Dichtung sollte unerwartet rasch an Realität gewinnen. Im Jahr 1917 schreibt der legendäre Dadaist Jacques Vaché, der bei der Uraufführung der Mamelles de Tirésias das Publikum durch Pistolenschüsse hatte anfeuern wollen.110

L’ART n’existe pas, sans doute – Il est donc inutile d’en chanter […] Donc nous n’aimons ni l’ART ni les artistes (à bas Apollinaire) ET COMME TOGRATH A RAISON D’ASSASSINER LE POÈTE! […] Nous ne connaissons plus Apollinaire111

Die auf Apollinaire und Dada folgenden Surrealisten sahen sich außerstande, ihre Bewegung allein auf der Ebene der Literatur oder Kunst zu verstehen: diese konnten ihnen als Mittel der Weltbewältigung nicht ausreichen, und sie versuchten sie deshalb in ein von ihnen umfassend gedachtes Erkenntnissystem einzubringen. In einer solchen letztlich skeptischen Beurteilung der Möglichkeiten von Kunst treffen sich Leute wie Breton und Aragon mit den Futuristen und Dadaisten, aber auch mit Apollinaire.112

Eberhard Leube, aus Apollinaire. Eine Vortragsreihe an der Universität Bonn in Zusammenarbeit mit Walter Pabst, Michel Décaudin und Jean Burgos herausgegeben von Eberhard Leube und Alfred Noyer-Weidner, Franz Steiner Verlag, 1980

 

 

 

 

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Michael Braun: Die Defäkation Dasein
Frankfurter Rundschau, 23.6.1999

Harald Hartung: Algebra der reifen Früchte
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Charitas Jenny-Ebeling: Dichter der Abschiede
Neue Zürcher Zeitung, 23.6.1999

Kurt Oesterle: Aufzuschreiben, daß ich lebe
Süddeutsche Zeitung, 23.6.1999

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Krolowandel“.

 

Zum 100. Todestag des Autors:

Nico Bleutge: Die Strassen von Paris las Guillaume Apollinaire als wären es Bücher
Neue Zürcher Zeitung, 9.11.2018

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Nachruf auf Guillaume Apollinaire: Tumba

 

Guillaume Apollinaire: „Un siècle d’écrivains“, Nummer 175, ausgestrahlt am 18. November 1998 in Frankreich unter der Regie von Jean-Claude Bringuier.

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