Gunnar Decker: Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Rainer Maria Rilkes Gedicht „Der Panther“ aus Rainer Maria Rilke: Ausgewählte Gedichte. –

 

 

 

 

RAINER MARIA RILKE

Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

 

„Der Panther“ als Sinnbild der Neuen Gedichte

Paris und Rodin, nun auch Cézannes Bilder haben sein Sehen verändert. Davon zeugen die Neuen Gedichte, die, zumeist in Paris geschrieben, 1907 im Insel Verlag erscheinen. Aber gerade deren vielleicht berühmtestes Gedicht, „Der Panther“, entstand bereits Ende 1902 bei seinem ersten Paris-Aufenthalt. Also gleich nach dem Stunden-Buch.
Das zeigt zweierlei: zum einen, wie schnell die Begegnung mit Rodin auch sein eigenes Verständnis von Dichtung verändert. Er kommt sich nun selbst wie ein Plastiker des Wortes vor, der Konturen aus dem widerständigen Material „herausmeißelt“. Zum anderen aber verdeutlicht dies, dass das, was die „Ding-Gedichte“ zur neuen Form erhebt – den sachlichen Ton, das kühl-distanzierte Beobachten –, immer schon bei Rilke da war, wenn auch vom Gestus des Bekennens und direkten Ansprechens des Lesers überdeckt.
Davon zeugt ein anderes wichtiges Gedicht Rilkes, das in seiner nüchternen Knappheit bis heute frappiert, aber bereits 1900 oder 1901 entstand – und im Buch der Bilder (des zweiten Buches zweiter Teil) enthalten ist. Es heißt: „Schlußstück“ und besteht aus sechs Zeilen, die den Tod als etwas zeigen, das nicht nach dem Leben kommt, nicht dessen Gegenteil darstellt:

Der Tod ist groß
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten unter uns
.1

Dennoch ist für Rilke der Tod zugleich das ganz andere zum Leben, wie er 1915 in seinem Gedicht „Der Tod“ formuliert:

Da steht der Tod, ein bläulicher Absud
in einer Tasse ohne Untersatz.

Dieses Paradox ist es, das den Ausdruck seiner Gedichte so stark sein lässt. Sie reichen bis an den Grund unserer Existenz. Marie von Thurn und Taxis hat wohl recht, wenn sie meint, Rilkes Dichtung sei im Ganzen immer vom Tod bestimmt. Er ist der Hintergrund von allem, was Leben bedeutet. Am deutlichsten tritt dies in der Liebe zutage – ebenso wie in der Kunst.
„Der Panther“ mit der Unterzeile „Im Jardin des Plantes, Paris“ gilt als Inbegriff der Neuen Gedichte, der „Ding-Gedichte“. So richtig das ist, zur Größe Rilkes gehört eben auch, dass man selbst dieses wie Ich-lose Gedicht noch als Bekenntnis deuten kann. Man sollte es gewiss auf einer philosophischen Ebene lesen, von Nietzsche und Bergson oder auch von Hofmannsthals Chandos-Brief beeinflusst. Das ist zweifellos richtig: Die Koordinaten der Welt haben sich verändert. Was Sein war, ist Schein geworden. Aber Dichtung muss faszinieren, weiß Rilke, den Leser mit einem Bann belegen, sonst ist es keine. Ohne Magie kein Gedicht, erst recht nicht „Der Panther“.
Die Größe dieses Gedichts, das Rilke immer für exemplarisch hielt, zeigt sich auch darin, dass es auf sehr verschiedenen Ebenen funktioniert. Auch einer psychologischen. Denn nicht nur die Realität löst sich auf, auch das Bewusstsein, diese zu fassen:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
2

Es lässt sich in „Der Panther“ durchaus der vollkommene Ausdruck einer Depression erkennen. Etwas, das Rilke wie ein dunkler Schatten durch sein Leben begleitet. Alles entgleitet dem, der sich in sich eingesperrt fühlt und nicht mehr zur Welt durchzudringen vermag. Seine Kraft reicht nicht aus, sein großer Wille steht wie betäubt. Nur manchmal noch „schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf“, die Szenerie lichtet sich für Augenblicke. Ein ebenso starkes wie dunkles Bild einer inneren Lähmung.
Interpretiert man „Der Panther“ auf einer gleichsam höheren Abstraktionsstufe, dann kommen andere Motive ins Bild. Transzendenz, verstanden als ein Überschreiten dessen, was da ist. Aber der metaphysische Raum ist verschwunden. So geht die Bewegung ins Leere.
Man kann auch auf die griechische Mythologie zurückgreifen, in der der Panther – als Symbol einer ungeheuren, aber ziellosen Kraft – an der Seite von Dionysos, zusammen mit anderen Raubtieren, dessen Wagen zieht.3 Der Panther, aus der einem wilden Tier gemäßen Umgebung entführt in einen Zoo und degradiert zum Ausstellungsstück, zeigt Verhaltensstörungen. Der Ausbruchswille erlahmt, er tänzelt auf erbarmungswürdige Weise wie betäubt im Kreise. Ein Gefangener von viel Schwächeren, die ihn, das starke Tier, mit List und Masse überwältigt haben. Die Welt, seine Welt, scheint verschwunden.
Sein Blick begegnet sich selbst in der Leere des angeschauten Ortes. Er ist mit sich allein im Nirgendwo.
Ein Abgrund gewiss, aber wie gilt es sich diesen vorzustellen? Als bloßes Nichts oder als die unseren Augen verborgen bleibende Tiefe einer ungewissen Verwandlung, die auch endgültige Zerstörung bedeuten kann? Gewiss, ein Laboratorium des Neuen. Dieses trägt monströse Züge, wenn es niemand zu zähmen vermag. Zu zähmen aber gilt es jene, die einen so starken Solitär wie den Panther gefangen setzen wollen. Vielleicht vermag dieser dann, sich auf seine Kraft besinnend, sich selbst zu befreien.

Gunnar Deckeraus Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier, Siedler Verlag, 2023

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