Gunnar Decker: Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „geflüster“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Wolfgang Hilbigs Gedicht „geflüster“ aus dem Band Wolfgang Hilbig: STIMME STIMME. –

 

 

 

 

WOLFGANG HILBIG

geflüster

der rote duft der nacht –
die rosen verglühen im dunklen
efeu an trunkenen bäumen

im schlafenden gras
such ich mein herz
wo ichs gelassen find ich
nichts feuchtes im dunkel

ach
ich schmeck mir
so steinern heut

aber irgendwo flüstern
mit meinem herzen
frauen die ich nicht geküßt hab
von der süße der rosen und
wie dunkel der efeu ist.

 

Ein Fest, nicht Klage ungewordener Möglichkeiten

Dabei hätte er doch so recht nach dem Geschmack einer „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ sein können. Kein renitenter Intellektueller, sondern Werkzeugmacher im Bergbau, Hilfsschlosser einer LPG, Heizer… Aber diese irritierende Intensität der Wahrnehmung, von der man nicht wußte, woher sie kam. Hier erfüllte einer das Klischee vom „schreibenden Arbeiter“, und es flog mit Krach auseinander. Den Kulturverwaltern war solch schöpferisches Naturphänomen nicht geheuer. Ließ ortlos den zugewiesenen Ort zurück, umflog federleicht die tonnenschweren Üblichkeiten der Provinz, nannte diese Ruhe Grabesruhe.
Nimmt sich ein Dichter derart als eigenen Existenzgrund, entblättert er die Neurosen eines Staates. Was folgt, ist die Praxis der Abwesenheit. Doch Tücke der Dialektik: Der Zwang zur Abwesenheit intensiviert Anwesenheit, das unberechenbare, strafrechtlich nicht zu stellende Eigenleben der Sprache. In Gestalt eines unvergleichlich grau eingeschlagenen Bändchens dann auch sichtbar in Existenz tretend: Stimme, Stimme (1983).
Darin ein „geflüster“ über das Feuchte und das Trockene. Wollen wir Hilbig über Heraklit interpretieren, was nicht naheliegt, aber reizvoll erscheint, so finden wir im Fragment III (Capelle) den Satz:

Die trockene Seele ist die weiseste und die beste.

Die reinste Substanz, das Feuer, erneuert sich im Brand. Eine feuchte Seele jedoch gleicht dem von einem unmündigen Knaben geführten trunkenen Manne.
Das ist von Heraldit ohne Zweifel alles mit dem großen Ernst antretender Wissenschaft vorgetragen, die vom Mythos eines Hesiod oder Homer nichts mehr wissen will. Auch Kunst kommt so nicht vor:

wo ichs gelassen find ich
nichts feuchtes im dunkel.

Könnte auch heißen: Ach, ich bin unschöpferisch; es fällt mir heut nichts mehr ein – ich bin mir nicht trunken genug. Denn Verwandlung ist da, wo die Intensität am größten. Das verbindet Hilbig mit Heraklit, auch wenn die Narrenseele das Feuer in den Regen stellt: das Mythische wird man nicht los. Wissen um die Würde des Unernsten? Gewiß, aber anders als die „vertrockneten Seelen“. Auch sie wirken am Unernsten jedoch als dessen Gefangene.
Spielerisch macht Phantasie mit den versäumten Gelegenheiten ernst: Poesie als ästhetischer Lebens-Überschuß. Befreiung von der Einzelfall gewordenen Möglichkeit. Utopie, die nichts verspricht, aber alles offen hält. Hilbigs „geflüster“ ist ein Fest dieser ungewordenen, nicht die Klage der versäumten Möglichkeiten. Stoff für grenzenlose Poesie. Normalität, die im Einzelfall erstarrte Wirklichkeit, erfährt sich als Paradox, gräbt man sie tief genug auf. Nicht ohne Zweck, aber auch nicht zweckmäßig im Belanglosen den Belang findend. Es hört aus einem Text nur heraus, wer hineinspricht. Seltsame Wandlung dann. Braucht ein Text den hinzufügenden Leser nicht, ist ihm nicht zu helfen.
Hilbigs „geflüster“ aber will gehört werden. Nicht von jedem, darum so leise. Aber wenn einer wirklich will, nicht nur soll… „Die Poesie wird entweder als ein verspieltes Schmachten und Verflattern ins Unwirkliche verleugnet und als Flucht in die Idylle verneint, oder man rechnet sie zur Literatur. Deren Geltung wird mit den Maßstäben der jeweiligen Aktualität abgeschätzt…“, so Heidegger, immer in der Gefahr einer Sprachmythologie. Doch hier auch das Hinhören, das Ernstnehmen der Wortwirklichkeit. Vernehmen heißt antworten, in das Gespräch hinübergleiten, das der Text ist. Beauftragten Bedeutungssuchern gegenüber bleibt er stumm. Denn sie sprechen ihn ohne Ehrfurcht an und brauchen auf Entgegnung nicht zu hoffen. Der Text sucht sich seinen Leser, stellt die Zensoren unter seine Zensur: die Metapher, das sich verbergende Bild, das nur sieht, wer es weiß. Arbeitet nicht erst in den Buchstaben, sondern immer schon im eigenen Kopf. Mitunter jedoch zerbeißt Gültigkeitsprinzip die zaghaften Räume des Selbst:

ach
ich schmeck mir so steinern heut.

Zornig vibrierender Stimme hielt Franz Fühmann auf die Dialektik der Abwesenheit Hilbigs eine imaginäre Rede. Von einer Kraft, die angesichts geistloser Widrigkeiten nur zunimmt. Klaren Blicks, der nötig ist, der Stärkung bedarf, rückhaltlos:

Ohnmacht heißt ja immer: nichts als Objekt sein, und man erhebt sich aus ihr zum Subjekt nur dadurch, daß man wagt, sich als Objekt anzuschauen; bei diesem Mann in einem Selbstdistanzierungsverfahren, das solches Anschaun ganz wörtlich nimmt. – Abwesenheit auch von sich selbst; aber so, im rigorosen Willen, zu sehen und zu begreifen und zu sagen, „was ist’“, eine gute Abwesenheit, weil nach guter Anwesenheit dürstend.

Gunnar Decker, neue deutsche literatur, Heft 491, November 1993

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