AN EINEN IKARUS
Dein Traum vom Fliegen aber bleibt
bestehn obschon die anderen vergehn.
Weil dich die Erdenschwere treibt
im Schlaf ihr einmal zu entfliehn,
den Stunden, die nach unten ziehn.
Geschloßnen Auges steigt und flieg
und spüre stürzend deinen Sieg
über die Schwerkraft deines Leibes.
Schon flügellos aus Zufallsbauch
des Irgendjemandweibes. Halte fest
an diesem allerletzten
dir zugestandnen Götterrest.
− Welttag des Buches. Schriftsteller Günter Kunert über Gedichte und Günter Grass.
Kunert (82) hat mit Geschichten, Gedichten und Essays die deutsche Nachkriegsliteratur geprägt. Er kritisiert die geringe Aufmerksamkeit, die Lyrik in Deutschland erfährt. −
Reinhard Tschapke: Was halten Sie vom Tag des Buches, der alljährlich am 23. April begangen wird?
Günter Kunert: Es gibt hoffentlich auch einen Tag der Zahnbürste.
Tschapke: Darf man dem entnehmen, dass Sie nicht viel vom Tag des Buches halten?
Kunert: Stimmt genau. Mir wäre es viel lieber, wenn sich nicht alles auf diesen einen Tag fokussieren würde. Als wenn man da in ein paar Stunden alles Versäumte nachholen könnte!
Tschapke: Was fehlt Ihnen denn als Autor, der vor allem durch Lyrik hervorgetreten ist?
Kunert: Man könnte mal in eine heutige Buchhandlung gehen und fragen: Haben Sie auch Gedichtbände? Dann wird der Buchhändler wahrscheinlich eine Art Schlaganfall bekommen oder verlegen mit den Achseln zucken.
Tschapke: Ein paar Gedichtbände werden sich in einer wohlsortierten deutschen Buchhandlung schon finden lassen, oder?
Kunert: Ja, wird der Buchhändler sagen, dahinten in der Ecke, gleich neben der Toilette im untersten Fach.
Tschapke: Das Dasein als Lyriker scheint nicht erhebend zu sein.
Kunert: Seit längerer Zeit ist es noch schlechter geworden. So haben die Großbuchhandlungen kaum noch echte Buchhändler, sondern nur noch viele unausgebildete Hilfskräfte. Die suchen vielleicht nach Schniller und Klöte, wenn Schiller und Goethe gemeint sind. Wahrlich, die Situation der Lyrik ist nicht die beste.
Tschapke: Gedichte als solche sind nicht gerade in Mode. Manche halten moderne Lyrik für schwierig.
Kunert: Sicher ist die Lyrik hermetischer geworden. Sie kann sich nicht mehr auf ein bestimmtes ästhetisches Schema stützen wie im 19. Jahrhundert. Ringelnatz und Morgenstern waren die letzten reimverliebten deutschen Lyriker. Der Tiefgang ließ sich aber so nicht mehr ausdrücken oder vermitteln. Da begann die schwierige Zeit der Lyrik.
Tschapke: Weil das Leben an sich komplizierter wurde?
Kunert: Ja, ein kompliziertes, differenziertes, intellektuelles Leben verlangt eben nach komplizierter, differenzierter, intellektueller Lyrik, die das Leben auch reflektiert. Da kann der moderne Dichter das Vögelchen nicht mehr einfach über die Auen fliegen lassen. Aber zum Glück gibt es eine – allerdings immer kleiner werdende – Gruppe von Lyriklesern.
Tschapke: Warum liest man denn heute noch Gedichte?
Kunert: Weil sich in den Gedichten etwas von den Gedanken und Gefühlen der heutigen Menschen widerspiegelt.
Tschapke: Hat denn Günter Grass mit seinem jüngsten Gedicht „Was gesagt werden muss“ über Israel und einen möglichen Militärschlag gegen den Iran etwas für die deutsche Lyrik getan?
Kunert: Es ist ja gar kein Gedicht!
Tschapke: Sind Sie sicher? Links und rechts ist aber mehr Platz als bei anderen Texten!
Kunert: Das ist bei Grass doch nur Hackfleisch aus Worten. Es fehlt dem Text von Grass alles, was ein Gedicht ausmacht. Es ist ein Pamphlet, das in zerbrochenen Zeilen daherkommt.
Tschapke: Gibt es denn, um auf den Welttag des Buches zurückzukommen, in Deutschland wenigstens eine große Lust an schönen Büchern?
Kunert: Der normale deutsche Leser, der etwa die Schoßgebete von Charlotte Roche liest, kauft sich garantiert keinen Goethe-Band, der in Halbleder gebunden, in Fraktur gesetzt und besonders illustriert ist.
Armin Zeissler: Notizen über Günter Kunert, Sinn und Form Heft 3, 1970
Cornelia Geissler: Die Welt ertragen
Berliner Zeitung, 6.3.2009
Fred Viebahn: Ein unbequemer Dichter wird heute 80
ExilPEN, 6.3.2009
Reinhard Klimmt: Günter Kunert
ExilPEN, 6.4.2009
Hannes Hansen: Ein heiterer Melancholiker
Kieler Nachrichten, 5.3.2009
Renatus Deckert: „Ich bin immer noch naiv. Gott sei Dank!“
Der Tagesspiegel, 6.3.2009
Hubert Witt: Schreiben als Paradoxie
Ostragehege, Heft 53, 2009
Peter Mohr: Die Worte verführten mich
lokalkompass.de, 3.3.2014
Schreiben als Selbstvergewisserung – Dichter Günter Kunert wird 85
Tiroler Tageszeitung, 4.3.2014
Wolf Scheller: Die Poesie des Melancholikers
Jüdische Allgemeine, 6.3.2014
Reinhard Tschapke: Der fröhlichste deutsche Pessimist
Nordwest Zeitung, 2.3.2019
Günter Kunert im Interview: „Die Ideale sind schlafen gegangen“
Thüringer Allgemeine, 4.3.2019
Günter Kunert im Interview: „Die Westler waren doch alle nur naiv“
Göttinger Tageblatt, 5.3.2019
Katrin Hillgruber: Ironie in der Zone
Der Tagesspiegel, 5.3.2019
Benedikt Stubendorff: Günter Kunert – 90 Jahre und kein bisschen leise
NDR.de, 6.3.2019
Matthias Hoenig: „So schlecht ist das gar nicht“
Die Welt, 6.3.2019
Tilman Krause: „Ich bin ein entheimateter Mensch“
Die Welt, 6.3.2019
Günter Kunert – Schreiben als Gymnastik
mdr.de, 6.3.2019
Peter Mohr: Heimat in der Kunst
titel-kulturmagazin.net, 6.3.2019
Knud Cordsen: Der „kreuzfidele Pessimist“ Günter Kunert wird 90
br.de, 6.3.2019
Studio LCB mit Günter Kunert am 1.4.1993
Lesung: Günter Kunert
Moderation: Hajo Steinert
Gesprächspartner: Ulrich Horstmann, Walther Petri
Beim 1. Internationalen Literaturfestival in Berlin, am Samstag, den 16. Juni 2001, lesen im Festsaal der Sophiensäle in Berlin-Mitte die Lyriker Rita Dove (USA), Günter Kunert (Deutschland) und Inger Christensen (Dänemark), gefolgt von einer Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum (moderiert von Iso Camartin).
Günter Kunert bei www.erlesen.tv.
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