Günter Kunert: Der alte Mann spricht mit seiner Seele

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Günter Kunert: Der alte Mann spricht mit seiner Seele

Kunert/Kunert-Der alte Mann spricht mit seiner Seele

DER ALTE MANN
überlegt: Es ist an der Zeit
für ein letztes Wort,
schriftlicher Nachlaß.
Vielleicht: „Jeder hat die Welt
geliebt…“ Zu verlogen.
„Mehr Licht!“ So was verwerten
nur die Stromerzeuger. „Ich kam, sah
und siegte nicht!“ Zu cäsarisch.
Persönlicher sollte es sein:
„Die Bürde des Menschen ist
unfaßbar!“ Zu verfassungskonform.
„Ich bin der ich bin!“ Zu epigonal.
Dem alten Mann fällt nichts ein.
Wozu überhaupt ein letztes Wort,
wo schon die vorhergehenden
keiner vernahm.

 

 

 

Man kennt den Dichter Günter Kunert

als einen, der die Weltläufte immer skeptisch oder doch zumindest abwartend verfolgt hat. Gewiß war er eher ein Warner als ein Apologet der Zukunft. Nun hat er ein Buch mit Miniaturen geschrieben, stets beginnend mit den drei Worten „Der alte Mann“, in denen er sich in einem hintergründigen, oft heiter-selbstironischen Ton über die Schulter schaut.
„Der alte Mann“ zieht Bilanz, er blickt naturgemäß eher zurück als nach vorn, wehmütig zuweilen, weil die Kräfte nachlassen, mit denen der Alltag gemeistert werden muß. Von vielem heißt es Abschiednehmen. Das Treppensteigen fällt schwerer als früher, aber auch die Rolltreppen im Kaufhaus haben ihre Tücken, und beim Bezahlen läßt sich das Kleingeld nicht mehr so leicht aus dem Portemonnaie abzählen. Daß manche Wahrnehmungen blasser werden, ist betrüblich – allerdings nicht nur, denkt man an die Zumutungen unserer Gegenwart. Nicht wenige Probleme werden andere lösen müssen.
Die Abenteuer finden im Kopf statt, und immer größeren Raum nehmen Erinnerungen ein, die mit den Sehnsüchten und Träumen in einen Schwebezustand gebracht werden, in dem sich Protest und Einverständnis mit dem Unabwendbaren die Waage halten. In dieser Spannung bewegen sich Kunerts „Gespräche“, denen 13 Zeichnungen des Autors beigegeben sind.

Wallstein Verlag, Ankündigung

 

Vorerst eine Made – dann wollen wir weitersehen

− Porträt des Künstlers als alter Mann: Günter Kunerts neue Gedichte siegen über die Resignation. –

Kein Abriß Potemkinscher Dörfer mehr, keine Satire auf den „Sieg der Kulisse über die Realität“ im Kommunismus, keine Sottisen gegen eine deutsche Philosophensprache, die ihren Ruf des Genialen dem Respekt der Leser vor dem Unverstandenen verdankt, kein Protest mehr gegen den Eurozentrismus und die Selbstvernichtung der Menschheit durch die Umweltzerstörung, also keine Kassandrarufe mehr. Der Prophet der planetarischen Katastrophe ist selbst in ein Stadium gekommen, wo sich die kleinen Katastrophen des Alltags ereignen und der altersmüde, schmerzreiche Körper dem nimmermüden Geist zusetzt. Im neuen Band spricht ein „alter Mann“ mit „seiner Seele“.
Obwohl mich früh Altersbildnisse in Malerei und Graphik beeindruckt haben, etwa Dürers Porträt seiner alten Mutter und „Der Man was alt 93 Johr“ oder die erschütternden Selbstbildnisse des alten Rembrandt, sind körperliche Alterserscheinungen kein bevorzugtes Thema von Kunst. Zu den Lieblingsgegenständen der Poesie gehören Schönheit und Jugend. Spiritualistische Bewegungen wie die des Mittelalters suchen das Körperliche zu ignorieren, ebenso der Idealismus. Schiller, dem mit seiner schweren Krankheit schon im „besten“ Mannesalter die Alterserfahrung körperlicher Bedingtheit aufgezwungen wurde, wäre nie auf den Gedanken gekommen, Gedichte über das fatale Leibliche seiner eigenen Person zu verfassen. Freilich fällt dem Körperhaften in unserer mehr am Sinnlichen als an Sinn gelegenen Gesellschaft auch eine andere öffentliche Bedeutung zu. Wo Millionen von Methusalems nach Arzneimitteln anstehen oder in Altersheime drängen, wird die Leibabhängigkeit menschlicher Existenz auffälliger, wo uns das Fernsehen täglich Körperwelten ins Haus flimmert, da schärft sich der Blick für Verfallserscheinungen, gerade weil die alles retuschierende Mode sie nicht mehr verbergen kann.
Die neuen reimlosen und freirhythmischen Gedichte Kunerts beginnen alle mit der Zeile „Der alte Mann“. Gewidmet sind sie seiner Frau Marianne: „Ein alter G. für eine alte M.“ Gewiß ist es ein Rollen-Ich, von dem die Gedichte sprechen, doch werden Übereinstimmungen mit dem Autor, auch in den zwölf über den Band verteilten Zeichnungen Kunerts, signalisiert. Eines der stärksten Gedichte eröffnet den Band. Es handelt vom Zufluchtsort des eingeschränkten Daseins: der Erinnerung.

Was wurde aus meinen
Windspielen? Aus meinen
Schnupftabakdosen und anderen
Preziosen? Aus Preußen?
Aus Schlesien? Aus Potsdam?

Von verschwundenen privaten Schätzen des Sammlers haben sich die Fragen historischen Verlusten zugewandt.

 Auf dem Globus, den er rotieren läßt, entdeckt der alte Mann einen weißen Fleck. Dort möchte er sein Domizil aufschlagen, „wo Kontrast / zur trostlosen Wichtigkeit / die Nichtigkeit Trost offeriert“. Hades und Hölle nimmt schon das Leben vorweg, in den „Qualen der Knie“, der entzündeten Gelenke. Überhaupt: Wie ein Polyp mit seinen vielen Fangarmen greift das Gebrechen nach dem Körper des alten Mannes. Gebrechen werden zum poetischen Gegenstand erst, wenn sie nicht allein als medizinischer Befund mitgeteilt werden, sondern wenn ein künstlerisches Stilmittel sie uns interessant macht. Körperlichen Gebrechen kann auch ein Zug des Komischen anhaften, aber zumeist kommt Mitleid dem Lachen in die Quere. Ein plötzlich stolpernder und fallender Mann kann, weil wir von ihm Beherrschung des Gleichgewichts erwarten, komisch wirken, nicht aber das fallende Kind und nicht der Alte, der durch sein Gebrechen zu Fall kommt. Es bedarf feinerer Mittel poetischer Distanzierung.
Aus dem Repertoire seiner Sprechweisen wählt Kunert die ironische. Ihr kommt die Gedichtform epigrammatischer Kürze entgegen, eine Form, die Konzentration voraussetzt und geistreiche Zuspitzung erlaubt. Sie ist der rechte Rahmen all der kleinen Havarien des Alltags: der Suche nach der verlegten Brille, des Anwachsens der Zehennägel zu Krallen, des „herkuläischen Ringens“ mit den Socken, der fieberhaften, aber unerträglich langen Suche nach Kleingeld bei Einkäufen. Manchmal löst sich das Mißgeschick in Anekdoten auf: Der Mann, der seinen rechten Schuh nicht findet, umwickelt kurzerhand den baren Fuß mit einer Binde und taucht so im Supermarkt als Kranker auf. Doch die Selbstbeobachtung (im Spiegel) kann auch Selbstabwehr auslösen:

Dich akzeptiere ich nicht, du
Dickwanst, du Fettsack, du
Bauchballon, plissiertes
Unding

Schwerer wiegen der Schwund der männlichen Potenz und die Havarien im Gehirn: das Abbröckeln der Erinnerung, das Nachlassen des Gedächtnisses. Der alte Mann weiß das „Schwert des Damokles“ über sich. Der „Count down“ läuft; da kann es geschehen, daß ihn beim Gießen einer Blume das Sich-Öffnen einer Blüte „erschüttert“. Nur kurz hält beim Lesen der Todesanzeigen die Befriedigung darüber an, daß es wieder einen anderen getroffen hat. Und zunehmend werden körperliche Defekte zu symbolischen Zeichen. Der alte Mann, der sich am Geländer die Treppe hinuntertastet, denkt schon an die Sargträger:

Immer geht es
mit uns abwärts. Zuletzt aber
werden wir dabei
von geübten Schultern ertragen.

Nur das Wortspiel am Ende, der Austausch von „getragen“ durch „ertragen“, fängt die Resignation noch einmal ab.
Der notorische Skeptiker Kunert gibt auch jetzt nicht klein bei. Von einem Jenseits her winkt ihm kein Heilsversprechen zu. Und das Goethesche „Stirb und werde“ quittiert er mit Sarkasmus: „Vorerst eine Made – dann / wollen wir weitersehen.“ Manchmal nähern sich Ironie und Selbstironie dem Zynismus, manchmal scheint das parodistische Spiel mit Zitaten von Johann Rist, Paul Gerhardt, Goethe und Brecht zu salopp zu geraten. In Wahrheit aber muß die Ironie einer versteckten Melancholie die Waage halten. Der alte Mann gleicht dem Spaßmacher im Zirkus. Er kauft einen Clown aus Blech, der klappert mit Tschinellen und dreht sich im Kreise.

So
ist das Leben, sagt der Clown
zu dem alten Mann. Wer
daran zweifelt, ist ein
Clown. Wie wir beide.

Mich erinnern manche der Epigrammgedichte an späte Gedichte des gelähmten Heine, der auch unter Tränen noch der Ironie die Treue hält, ja sie braucht, um sich der Umarmung durch die Resignation zu entwinden, sie braucht als Motor des geistigen Überlebens. Aber der Skeptiker Kunert macht sich auch über die Lebensdauer von Literatur keine Illusionen. Beim Verkauf von Büchern zieht der alte Mann Bilanz: „Am Anfang war das Wort, am Ende / das Antiquariat.“

Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine, 4.10.2006

Der treue Doppelgänger

− Alter macht erfinderisch: Neue Gedichte von Günter Kunert. –

Der Dichter ist niemals allein. Kaum dreht er sich weg, schon blickt ihm ein Paar allzu bekannter Augen über die Schultern. Zwar sind es nur „triste / Imitationen“, aber sie halten ihn trotzdem zum Narren. Jene Doppelgänger, die Günter Kunert einst beschworen hat, jene kleinen Unbekannten, die das Ich in die Enge treiben – sie haben auch in seinem neuen Band ihren Auftritt. Nur scheint es, als hätten sie inzwischen reichlich Federn gelassen:

Wo ich auch hinkomme, immer
sind sie schon da, humpelnd
und hinkend, jammernd und
ächzend, verbittert
und verbohrt.

Wenn es so etwas wie einen roten Faden in Günter Kunerts Schreiben gibt, dann ist es der Hang zum poetischen Nachdenken. Wo die Dinge immerfort gespiegelt werden, wo das Ich sich nur gespalten sieht, dort hat die Reflexion ihren Platz. Kunerts Gedichte bauen auf den pointierten Zugriff, der sinnlichen Gewissheit scheinen sie ebenso zu misstrauen wie dem bloß schönen Bild. Mit ihrem erzählenden Grundton sind sie in der Lage, ihre Zeit genau abzutasten. Dabei geht es weniger um vorschnelle Diagnosen als um das Wenden von Ideen, das Aufzeigen feiner Widersprüche und Haken. Seine letzten Gedichte führten ihn zu einem merkwürdigen Phänomen: Je härter der Blick die Gegenwart trifft, desto deutlicher tritt die Geschichte hervor. Und erst recht: die Vergänglichkeit.
Doch so elegisch Kunert auch über die Schatten und den „tückischen Gleichmacher / Gedächtnis“ nachdachte, der Tod wollte ihm etwas Fremdes bleiben:

Immer wieder überrascht
dass sie sterben. Die Gebilde
aus Haut und Knochen und Hoffen
und böser Arglosigkeit

In seinem neuen Buch hat sich das Verhältnis gewandelt. Alles scheint hier auf das Verschwinden ausgerichtet, die Stimme, der Körper, selbst die Wahrheit ist nicht mehr als „bunte Unkenntlichkeit“. Nun spricht der Dichter aus der Reife seiner Jahre, bekennt sich, ein alter Mann zu sein. Was nicht heißt, die Leiden des Älterwerdens würden einfach hingenommen. Immer noch rennt er an gegen die Zeit, und das Bild im Spiegel zeigt ein anderes Wesen.
So wie der Körper sich langsam verabschiedet, wird das Denken sich selbst fremd. Und auch wenn das Wörtchen „Wahrheit“ nach wie vor zur Sprache kommt, darf man dieser alternden Stimme keinesfalls trauen: „Das Alter macht / erfinderisch im Täuschen und / Betrügen“. Die Tücken des Schreibens sind immer deutlicher zu fühlen, am Ende steht der schöne Schein einer gerundeten Lebensgeschichte, die mit den wirklichen Erlebnissen des alten Mannes nicht mehr viel zu tun hat. Dann lieber nur die „halbe Wahrheit” oder die Flucht in die Zweideutigkeit.

Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter!

So schrieb es einst Hans Magnus Enzensberger seinem „Fliegenden Robert“ ins Stammbuch. Auch bei Günter Kunert gibt es eine Figur, die ihren Regenschirm aufspannt, um sich in die Lüfte zu erheben. Auf einer der beigefügten Zeichnungen ist dieser alte Mann dargestellt, glatzköpfig, eingehüllt in einen Mantel. Doch beim genauen Hinsehen scheint es ebenso möglich, dass der Mann fest auf der Erde steht. Es ist diese Offenheit, die Kunerts Gedichte davor bewahrt, in biedere Lehrhaftigkeit abzurutschen. Mit kleinen Volten und Paradoxien rückt er den Dingen auf den Leib. Seine melancholisch angehauchte Ironie sichtet die Formen und Bilder des Vergänglichen, manchmal auch in der Gestalt eines klaren Zynismus.
Wo dieses Changieren fehlt, droht die schnelle Pointe oder gar der Kalauer. Gegen Ende des Bandes hat Günter Kunert einige solcher Wortspiele versammelt. Ob es sich um das „Irrwana“ handelt oder um Formeln wie „verbleibe ich friedhöflich“ – hier wirkt der resignative Tonfall allzu direkt. Das ist ein wenig schade, gelingt es Kunert an anderen Stellen seiner freien Rhythmen doch, die Angst vor dem Vergessenwerden gleichsam erzählerisch zu bändigen. Der Glaube an ein Jenseits ist seinem poetischen Denken fremd. Trotzdem bleibt ein Fünkchen Hoffnung spürbar. Hoffnung, im Gedächtnis der Nachwelt weiterzuleben – und sei es nur als eine Spur Rauch, „zart / und unwiederbringlich“.

Nico Bleutge, Süddeutsche Zeitung, 8.1.2007

Günter Kunert: DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele

Wer 77 Jahre alt ist und ein Buch veröffentlicht, das den Titel trägt DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele, darf sich nicht wundern, wenn der Leser beim Lesen dem „alten Manne“ das Gesicht des Verfassers gibt. Außerdem wird er dabei dann auch noch tatkräftig unterstützt durch den Autor in dessen Eigenschaft als Zeichner, tragen doch fast alle der mit schnellem Strich skizzierten, dem Textkörper zugefügten Porträts nur schwer verkennbar die Züge dessen, der als Urheber zeichnet: Günter Kunert. Ein Buch, vor dem gewarnt werden muß. Und zwar generationenübergreifend: Wer jung ist, erfährt hier über das Alter wahrscheinlich mehr, als ihm lieb sein kann. Und wer selber alt ist, sieht sich möglicherweise genau so bloßgestellt, wie Gott ihn einst erschuf: Als saugefährliche, liebenswerte, schwer verdauliche, alles verdauende und merkwürdigerweise auch alles überdauernde Fehlkonstruktion. DER ALTE MANN spricht mit seiner Seele: Er unterhält sich mit ihr, und er läßt sie für sich sprechen – das ist natürlich eindeutig doppeldeutig. Aber damit nicht genug: Diese 80 kurzen Seelenwanderungen im Schlepptau des Dichters führen über doppelbödiges Terrain, unter dem der interessierte Hobbyarchäologe oder gar der Totengräber auf weitere doppelte Böden stieße, grübe er denn drauflos.

DER ALTE MANN
blättert in seinem Telefonverzeichnis.
Alles Nummern von Toten. Wie
erreiche ich Euch, Freunde.
Die Drähte sind gekappt, die
Sargdeckel versiegelt. Meine Stimme
dringt nicht mehr durch
in den ewigen Frieden. Mit
Antworten rechne ich nicht mehr.
Eure Fotos schweigen herzlich.
Als Schatten treffen wir uns
wieder einmal, ohne daß die
einander etwas zu sagen hätten:
Als daß wir uns
im Hades so verlassen fühlen
wie zu Lebzeiten.

Für diese poetischen Kleinodien benutzte Kunert während der Schreibarbeit noch den Begriff „Un-Gedichte“, ganz dialektisch eingedenk der Tatsache, daß ja auch im „Un-Gedicht“ das Gedicht schlummert oder besser: sich zu Wort meldet. Wer unbedingt eine Genrebezeichnung für diese kurzen, mit gedichtähnlichem Zeilenbruch versehenen, filigranen Gebilde benötigt, der darf sie sich selber ausdenken und mit Bleistift in den freien Raum des Vorsatzes nachtragen. Im Klappentext ist nüchtern-sachlich von „Miniaturen“ die Rede – und Miniaturen sind es ja in der Tat, mit denen wir es hier zu tun haben. DER ALTE MANN, mit dieser in Versalien gesetzten Zeile beginnt ein jedes der selbstironiegeladenen, melancholiedurchflossenen Zauberstücke des zu Kaisborstel-Schenefeld im Schlewig-Holsteinischen residierenden betagten Herrn: DER ALTE MANN erinnert sich, DER ALTE MANN läßt den Globus rotieren, ist vergeßlich geworden, übt vor dem Spiegel Einsteins Mimik, zweifelt an der Kugelgestalt der Erde, ist ein Totschläger, sucht einen Schamanen auf und nach einer Glücksdefinition, tastet sich die Treppe hinunter, sinniert, überlegt, telefoniert, weint und kämpft keuchend mit seinen Schuhen… Und der Leser, neugierig gemacht, darf dem alten Mann unverschämterweise dabei zugucken, wie der, beladen mit seinen Erfahrungen, Zweifeln, Fotoalben, Utopiefragmenten und Bildungsbürden auf sein neunzigstes Lebensjahrzehnt zuschreitet, tappst und wankt. Das ist urkomisch manchmal, voller Witz immerzu – und bewegend für Kopf und Herz. DER ALTE MANN, der entpuppt sich hier als ein Seelen- und Geistesbruder des berühmten Herrn Cogito, dem einst der polnische Poet Zbigniew Herbert Seele und Leben einhauchte. Tatsächlich – und das ist ein Leseeindruck, der sich von Text zu Text, von Un-Gedicht zu Un-Gedicht, von Miniatur zu Miniatur verstärkt – DER ALTE MANN, diese aus dem „Kunert’schen Selbst“ geschöpfte Kunst-Figur ist ein ernstzunehmender Kandidat für das Walhall der literarischen Serienhelden: Da könnte er nämlich gut stehen. Oder noch besser, weil bequemer: Sitzen. Bei einer Flasche Rotwein – mit besagtem Herrn Cogito, neben Henri Michauxs Monsieur Plume und Italo Calvinos Signor Palomar sowie – last not least – dem Herrn Keuner von Bert Brecht… Kunert ist mit diesem Buch in eine feine Gesellschaft geraten!

DER ALTE MANN
weint: Ich esse das Brot
der Ungeborenen. Bitteres Brot.
Aber Hunger tut weh. Und das Alter
macht wehleidig. Ach, Ihr Künftigen,
der Zorn wird eure Stimme
heiser machen, sobald ihr euch
an unsereins erinnert. Dennoch
ess ich euer Brot
mit gutem Appetit. Jeder ist
seines Magens Nächster. Darum
gedenket meiner mit Nachsicht,
wie ich eurer
unnachsichtig gedenke.

Michael Augustin, itech.dickinson.edu | Academic Technology | Dickinson College, Reseñas de libros, Book Reviews

Der deutsche Schriftsteller und Lyriker

Günter Kunert hat einen neuen Gedichtband herausgegeben. Ein Novum: er hat das Büchlein eigenhändig illustriert – was auch erklärt, dass das Buch nicht wie gewohnt bei Hanser, sondern diesmal im Wallstein-Verlag erschien.
Günter Kunert, 1929 in Berlin geboren, 1977 aus der ehemaligen DDR emigriert, hat sich als einer der vielseitigsten Schriftsteller des deutschen Sprachraumes seit langem profiliert. Mit seinem neuen Band Der alte Mann spricht mit seiner Seele beschreibt er die oft nüchterne und wenig Trost spendende Welt eines Mannes, der sein stetiges, nicht aufzuhaltendes Verblühen beobachtet. Die Lektüre ist bedrückend, doch gleichsam von seltsamer Faszination. Das Wissen um das Unausweichliche diktiert den Rhythmus eines Bandes, der unter dem Titel „dokumentierte Einsamkeit“ wohl am besten subsumiert werden könnte. Aufgelockert werden die Gedichtreigen durch die vom Autor eigens hinzugefügten Bleistiftzeichnungen nicht – und dies war wohl auch nie Intention. Im Gegenteil. Das Morbide frisst sich auch hier einen, wie es scheinen mag, stetig nach unten führenden Pfad durch das Buch.
Günter Kunerts neuer Band ist nichts für den wohligen „Fünf-Uhr-Tee der Seele“. Und trotzdem: Das fortgesetzte Zwiegespräch mit dem Tod wie auch mit Gott schafft eine Aura der Selbstreminiszenz, der man sich schwer entziehen kann und will. Ein Buch für nachdenkliche Stunden.

Felix Schneider, David

Souveräner alter Mann

Zeitgleich mit seiner Geschichtensammlung Irrtum ausgeschlossen hat Günter Kunert (geb. 1929) einen Band mit 89 Epigrammgedichten (Der alte Mann spricht mit seiner Seele) vorgelegt, in denen er von den Havarien und Katastrophen des Alters auf die ihm eigene Weise spricht. Natürlich ist das lyrische Ich (alle Texte beginnen mit „Der alte Mann…“) nicht identisch mit dem Autor; doch wird eine gewisse biographische Nähe z.B. durch 13 eigenhändige Zeichnungen signalisiert, die eingestreut gedruckt werden.
Kunert beschäftigt sich z.B. mit den Folgen der zunehmenden Vergeßlichkeit; mit der Unausweichlichkeit der unerbittlich voranschreitenden Zeit; mit dem Erschrecken beim Durchblättern des Adreßbuches, das viele Telefonnummern von bereits Verstorbenen enthält; aber auch mit der klammheimlichen Freude bei der Lektüre von Todesanzeigen … Herrlich die anekdotische Schuhgeschichte, in der der „alte Mann“ seinen linken Schuh nicht finden kann, so daß er kurzentschlossen seinen Fuß bandagiert und als „Verletzter“ in den Kaufladen humpelt.
Zwar gelingt es Kunert nicht immer, einen melancholischen Grundton zu vermeiden, doch zumeist fängt er ihn durch Ironie wieder auf. Fast zynisch wirkt er, wenn er Goethes „Stirb und werde“ parodiert:

DER ALTE MANN
fragt Gott: Wie werde ich
wieder jung? Gott denkt lange nach,
bis er antwortet: Du
mußt dich verwandeln.
Der alte Mann schöpft Hoffnung:
Wie das?
Stirb und werde
vorerst eine Made – dann
wollen wir weitersehen.

Veröffentlichungen zum Thema „Alter“ überschwemmen den Buchmarkt immer mehr. Bisher habe ich jedoch noch keine entdeckt, die derart prägnant und souverän mit den Zumutungen des letzten Lebensabschnittes umzugehen weiß wie Günter Kunert in seinem schmalen Bändchen – wobei er sich über die Wirkung seiner Literatur keinen Illusionen hingibt:

Am Anfang war das Wort, am Ende
das Antiquariat

Reinhard Lahme, amazon.de, 20.12.2006

Der alte Mann von Günter Kunert

Günter Kunert, fast 80jährig legt er einen Gedichtband vor, in dem er beweist, dass er mit seiner Dichtung noch da ist: der skeptische Beobachter der Welt. Hier aber begegnet uns ein Mann, der fast wehmütig auf sein Leben zurückblickt:

Glücklich ist,
wer vergisst, was nicht
mehr verwendbar ist.

Kunert hält sich das Leben offen, gerade so als ginge er aus dem Rückblick weiter ins Offene; heiter, selbstironisch ist er geblieben, aber jetzt kommt die Lebensbilanz hinzu, auch das Abschiednehmen. Blasser werdende Wahrnehmungen scheint der Dichter mehr als zu kompensieren durch sensible Sprachartikulation, durch den sprachlichen Schwebezustand, aus dem heraus er dem Leser begegnet. Erinnerungen und die Abenteuer im Kopf sind es jetzt, die zu Literatur, zu Poesie werden.

Uli Rothfuss, swo.de

„Ich nenne es für mich Pseudogedichte“

Die Suche nach der eigenen Identität ist zentrales Thema in den Texten Günter Kunerts; sie beschäftigt ihn auch in seinem neuen Buch Der alte Mann spricht mit seiner Seele, das im Wallstein Verlag erschienen ist. Kunert musste den Verlag wechseln, weil der Hanser Verlag, in dem Kunerts Bücher ansonsten erscheinen, keine illustrierten Bücher verlegt – und Kunert nicht auf die 13 Zeichnungen, die den Band komplettieren, verzichten wollte.

Dass man Zwiesprache mit seiner Seele hält, ist keine Frage des Alters. Drängen sich allerdings bei solchen Gesprächen Themen wie Vergänglichkeit, Vergessen, Hinfälligkeit und Tod scheinbar wie von selber in den Vordergrund, dann ist das durchaus ein Zeichen dafür, dass sich die Zeiger der Lebensuhr neigen, und Freund Hein nicht mehr in weiter Ferne, sondern aus nächster Nähe winkt. Von den Tücken des Alters weiß auch der 1929 geborene Günter Kunert ein Lied zu singen, und stattet mit diesen Erfahrungen die zentrale Figur seines neuen Buches Der alte Mann spricht mit seiner Seele aus. Dem namenlos bleibenden Alten, der sich der eigenen Seele zuwendet, bleibt keine andere Möglichkeit – er muss mit ihr vorlieb nehmen, und mit ihr reden, da kaum andere Dialogpartner geblieben sind.

Diesen Titel habe ich entnommen einem hochinteressanten Buch […] Gott und die Götter – ist vor vierzig Jahren erschienen, von einem Religionswissenschaftler – über Gläubigkeit und Religion von den Pharaonen bis zu uns. Und es beginnt auch mit den Inschriften der Pyramiden und auf einer dieser Inschriften steht: Der alte Mann spricht mit seiner Seele. Und als ich das gelesen habe, habe ich gedacht: Das ist der Titel: Der alte Mann spricht mit seiner Seele. Es passt wunderbar.

In gedichtähnlichen Texten lässt Kunert einen alten Mann zu Wort kommen, der keine andere Wahl hat, als das Älterwerden zu akzeptieren.

Ich nenne es für mich Pseudogedichte. Es sind keine echten Gedichte – sie sehen so aus. Und jedes dieser Gebilde beginnt mit der Zeile: „Der alte Mann“. Die meisten sind ironisch, melancholisch und auch etwas bitter. Es heißt ja, der alte Mann spricht mit seiner Seele und es sind Selbstreflexionen eines alten Mannes, der mit sich eigentlich gar nicht mehr klar kommt und mit der Welt erst recht nicht.

Angesichts eines beschwerlicher werdenden Lebens wendet der alte Mann häufiger den Blick zurück und findet im Vergangenen jene verlässlichen Koordinaten, die er im Gegenwärtigen zunehmend vermisst. Er beklagt Verluste und bemerkt die Häufung von befremdlich stimmenden Signalen, die vom Alltag und vom eigenen Körper ausgesendet werden. Doch solchen Anzeichen von Vergänglichkeit begegnet Kunerts alter Mann entweder mit einem gewissen Gleichmut oder mit Trotz.

Der alte Mann, der über sich selber reflektiert, nimmt sich unbewusst selber auf die Schippe. Es sind Selbstbetrachtungen, die eigentlich komisch und zugleich trostlos sind. […] Dieses sich in der Welt nicht mehr heimisch fühlen, ausgeliefert sein. Einer dieser Texte […] ist die Verwunderung des alten Mannes, warum seine Zehen- und Fingernägel so schnell wachsen und warum nicht die Haare. Er hat keine Haare mehr, er hätte ja lieber einen großen Haarschopf wie zum Beispiel Beethoven, aber wenn er den hätte, wäre er ja taub – na dann ist es doch besser, die Nägel wachsen, als taub zu sein. Das ist es in etwa, ein bisschen gaghaft und kurz erklärt.

Kunerts alter Mann, oder der alte Mann Kunert verfügt über genügend Humor und reichlich Lebenserfahrung, um bei den Lektionen, die ihm das Älterwerden erteilt, nicht zu verzweifeln. In seinen skurrilen, durchaus philosophisch intendierten Selbstreflexionen steht er in der Tradition des Brechtschen Herrn Keuner. Wie dieser neigt auch Kunerts alter Mann gelegentlich zu einfachen, allerdings paradox anmutenden Lösungen. Doch anders als Herr K. gibt Kunerts alter Mann seltener Rätsel auf. Er spricht vorbehaltlos über sich und wird so zu einem Vertrauten.

Der alte Mann hat natürlich vergessen, wo er gestern gewesen ist, aber er kann sich genau erinnern, was vor dreißig oder vierzig Jahren war – das bleibt haften und taucht auch in diesen Texten hier und da auf. Und die Vergesslichkeit, die auch in diesen Texten bis an die Grenze der Demenz geht, spielt eine Rolle. Und dieser alte Mann, natürlich – es kann gar nicht anders sein −, spricht mit der Stimme des Dichters, der hier auch gewisse Selbsterfahrungen einbringt. Ich bin ja auch kein Jüngling mehr […] und mache mit mir eben auch Erfahrungen, die nicht immer besonders erfreulich sind und versuche, die aber auf ironisch Weise – mehr oder minder heiter – und melancholisch zu formulieren.

Deutschlandradio, 23.10.2006

 

 

Armin Zeissler: Notizen über Günter Kunert, Sinn und Form Heft 3, 1970

 

 

Zum 80. Geburtstag des Autors:

Cornelia Geissler: Die Welt ertragen
Berliner Zeitung, 6.3.2009

Fred Viebahn: Ein unbequemer Dichter wird heute 80
ExilPEN, 6.3.2009

Reinhard Klimmt: Günter Kunert
ExilPEN, 6.4.2009

Hannes Hansen: Ein heiterer Melancholiker
Kieler Nachrichten, 5.3.2009

Renatus Deckert: „Ich bin immer noch naiv. Gott sei Dank!“
Der Tagesspiegel, 6.3.2009

Hubert Witt: Schreiben als Paradoxie
Ostragehege, Heft 53, 2009

Zum 85. Geburtstag des Autors:

Peter Mohr: Die Worte verführten mich
lokalkompass.de, 3.3.2014

Schreiben als Selbstvergewisserung – Dichter Günter Kunert wird 85
Tiroler Tageszeitung, 4.3.2014

Wolf Scheller: Die Poesie des Melancholikers
Jüdische Allgemeine, 6.3.2014

Zum 90. Geburtstag des Autors:

Reinhard Tschapke: Der fröhlichste deutsche Pessimist
Nordwest Zeitung, 2.3.2019

Günter Kunert im Interview: „Die Ideale sind schlafen gegangen“
Thüringer Allgemeine, 4.3.2019

Günter Kunert im Interview: „Die Westler waren doch alle nur naiv“
Göttinger Tageblatt, 5.3.2019

Katrin Hillgruber: Ironie in der Zone
Der Tagesspiegel, 5.3.2019

Benedikt Stubendorff: Günter Kunert – 90 Jahre und kein bisschen leise
NDR.de, 6.3.2019

Matthias Hoenig: „So schlecht ist das gar nicht“
Die Welt, 6.3.2019

Tilman Krause: „Ich bin ein entheimateter Mensch“
Die Welt, 6.3.2019

Günter Kunert – Schreiben als Gymnastik
mdr.de, 6.3.2019

Peter Mohr: Heimat in der Kunst
titel-kulturmagazin.net, 6.3.2019

Knud Cordsen: Der „kreuzfidele Pessimist“ Günter Kunert wird 90
br.de, 6.3.2019

 

 

Studio LCB mit Günter Kunert am 1.4.1993
Lesung: Günter Kunert
Moderation: Hajo Steinert
Gesprächspartner: Ulrich Horstmann, Walther Petri

 

Beim 1. Internationalen Literaturfestival in Berlin, am Samstag, den 16. Juni 2001, lesen im Festsaal der Sophiensäle in Berlin-Mitte die Lyriker Rita Dove (USA), Günter Kunert (Deutschland) und Inger Christensen (Dänemark), gefolgt von einer Podiumsdiskussion und Fragen aus dem Publikum (moderiert von Iso Camartin).

 

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Nachrufe auf Günter Kunert: NDR 1 + 2FAZ ✝ Welt ✝ AA ✝ Zeit ✝ FR ✝
NZZ ✝ Tagesspiegel ✝ SZ 1 + 2MDR ✝ nd 1 + 2 ✝ Sinn und Form

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der G.kunert“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Kunertbiß“.

 

Bild von Juliane Duda mit den Zeichnungen von Klaus Ensikat und den Texten von Fritz J. Raddatz aus seinem Bestiarium der deutschen Literatur. Hier „Kunert, die“.

 

Beitragsbild von Juliane Duda zu Richard Pietraß: Dichterleben – Günter Kunert

 

Günter Kunert bei www.erlesen.tv.

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