Gunther Kleefeld: Zu Georg Trakls Gedicht „An die Verstummten“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Trakls Gedicht „An die Verstummten“. –

 

 

 

 

GEORG TRAKL

An die Verstummten

O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
O, das versunkene Läuten der Abendglocken.

Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen,
Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
O, das gräßliche Lachen des Golds.

Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,
Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.

 

Mutterbilder

– Symbolische Beziehungsfiguren in den Gedichten Georg Trakls. –

Nicht nur der sogenannte ,gesunde Menschenverstand‘ ist bei einer Lektüre der Gedichte Georg Trakls irritiert, auch der Sachverstand des mit den Kühnheiten poetischer Sprache vertrauten Philologen sieht sich oftmals überfordert. Angesichts dunkler Formulierungen wie „magnetische Geißel“ muß selbst der im Decodieren metaphorischer Rede Geübte sich geschlagen geben; unfaßbar bleibt ihm der Sinngehalt so manches recht merkwürdigen Satzes: „Rasend an die Mauer von Stein klopft der kahle Baum“. Absurder noch mutet das Bild an, das Trakl in der 2. Fassung des Gedichts „Abendland“ gebraucht:

In feuchter Bläue leuchtet das Lämpchen
Die Nacht lang

Sind solche Verse überhaupt noch sinnhaltig, haben sie die Grenze zum Un-Sinn nicht überschritten? Die Ähnlichkeit dieser Sprachfiguren mit der verwirrten Rede des Psychotikers ist nicht von der Hand zu weisen; Zweifel an der poetischen Zurechnungsfähigkeit Trakls könnten sich in der Tat stützen auf das Gutachten des Psychiaters, der 1914 in Krakau bei dem Dichter eine „Dementia praecox“, eine Schizophrenie, diagnostizierte. Im Krankenblatt vermerkte er, daß der Patient „in Zivil seinen Beruf nicht ausübt, sondern ,dichtete‘“.
Die Literaturwissenschaft hat nun freilich gegen diese Anführungszeichen schärfstens protestiert und allen voreiligen Ärzten ein Studium der Poetik Baudelaires, Mallarmés und Rimbauds nahegelegt: Dunkelheit der Sprache ist ja doch ein generelles Merkmal der von den französischen Symbolisten sich herleitenden modernen Lyrik, zu deren frühesten und bedeutendsten Vertretern im deutschsprachigen Raum Trakl zählt. Zu einfach macht es sich indessen auch der Interpret, der Trakls Verse in diesen Traditionszusammenhang rückt und damit die Frage nach ihrem Inhalt als überholt abtut, Begriffe wie „absolute Poesie“ oder„ Wortmusik“ als hermeneutisches Alibi vorweist. Sein Alibi bedarf allemal einer genauen Überprüfung: die Literaturwissenschaft bleibt aufgefordert, die weithin so rätselhaften Sprachfiguren Trakls einem inhaltlichen Verständnis zu erschließen. Mit herkömmlichen Deutungsverfahren aber – darin ist die sonst kontroverse Forschung sich weitgehend einig – ist seiner hermetischen Poesie nicht beizukommen. Der Entschluß, Trakls Bilderwelt psychoanalytisch zu erkunden, bedarf in dieser Situation keiner umständlichen Rechtfertigung; die gewählte Interpretationsmethode muß sich legitimieren durch ihre Ergebnisse. Die Psychoanalyse, von Freud entwickelt als ein spezifisches hermeneutisches Verfahren zur Entzifferung der dunklen Sprache des Traums und der Symptome, wird ihre sinnerschließende Kraft unter Beweis zu stellen haben an den enigmatischen Sprachfiguren Trakls – gerade auch an den eben angeführten drei Beispielen.
Das Gedicht, das im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen stehen soll, trägt den Titel „An die Verstummten“; mit dem Thema „Mutterbilder“ hat es auf den ersten Blick recht wenig zu tun:

AN DIE VERSTUMMTEN

O, der Wahnsinn der großen Stadt, da am Abend
An schwarzer Mauer verkrüppelte Bäume starren,
Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut;
Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.
O, das versunkene Läuten der Abendglocken.

Hure, die in eisigen Schauern ein totes Kindlein gebärt.
Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen,
Purpurne Seuche, Hunger, der grüne Augen zerbricht.
O, das gräßliche Lachen des Golds.

Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit,
Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.

Der Anspruch dieses Gedichts auf einen Platz in jeder Anthologie deutscher Großstadtlyrik ist unstrittig. Mit seiner Wendung gegen den „Wahnsinn der großen Stadt“ reiht Trakl sich ein in die breite Phalanx der Autoren, die schon seit dem Naturalismus ihrer Zivilisationskritik dadurch Ausdruck verleihen, daß sie die Unwirtlichkeit der modernen Großstadt vor Augen führen; sozialer Hintergrund dieser Literatur ist das seit der Reichsgründung akzelerierende Tempo der Industrialisierung und das damit verbundene rapide Wachstum der Städte. „Verfluchung der Städte“ ist der bezeichnende Titel eines Gedichts von Georg Heym, und selbst jener Dichter, der es liebt, in seinem Park unter Mandelbäumen auf und ab zu schreiten und sich zu ergötzen an der „reinen Wolken unverhofftem Blau“, selbst Stefan George bringt im Anblick des geschäftigen Treibens in der Stadt einen solchen Fluch über die Lippen: „Euch all trifft tod. Schon eure zahl ist frevel.“ Zu denken ist in diesem Zusammenhang aber auch an die Jugendbewegung jener Zeit, an den Wandervogel und sein programmatisches Lied:

Aus grauer Städte Mauern
Ziehn wir in Wald und Feld…

Von den Mauern der Stadt spricht auch Trakls Gedicht, das allerdings kein realistisches Abbild der Stadt zeichnen, nicht ihre bloße Erscheinung, sondern ihr Wesen ins Bild setzen will. Es kommt zum Ausdruck in dem knappen, markanten Bild der schwarzen Mauer, die einen Baum in seinem Wachstum behindert: die lebendige Natur verkrüppelt in dieser steinernen, todesfarbenen Welt. Der Wahrheitsgehalt des Bildes ist aus heutiger Sicht erschreckend deutlich. Trakl entwirft eine zweite Szene: das kalte künstliche Licht liegt im Kampf mit einer bedrohlichen Dunkelheit. Das Wesen der Stadt ist Unruhe und Streit; in der handschriftlichen Fassung von Zeile 5 spricht er von einer „klirrenden Geißel“: der Kampf zwischen Licht und Nacht wird hier nicht nur optisch, sondern auch akustisch sinnfällig. „Sein Ohr zerriß ein eisernes Klirren“, heißt es von dem Knaben in „Traum und Umnachtung“. Ganz ähnlich schreibt Alfred Lichtenstein in einem Gedicht:

Die wüsten Straßen fließen lichterloh
Durch den erloschnen Kopf. Und tun mir weh.

Der Mensch ist in solcher Umgebung nicht mehr zuhause, er empfindet sie als un-heimlich, bedrohlich: in diesem Großstadtmenschen wird das entfremdete Subjekt kenntlich, das zum Opfer seiner eigenen Geschichte geworden ist, der Mensch, der in der von ihm selbst geschaffenen Welt als heimatloser Fremdling, als ein Kaspar Hauser lebt.
Trakl greift zu einem dritten Bild, einem mythischen: die Stadt erscheint als Hure Babylon, die ein totes Kind zur Welt bringt. Der Preis dieser Hure ist das Gold, von dem in Zeile 10 die Rede ist: „O, das gräßliche Lachen des Golds.“ In dieser Formulierung kehrt das Motiv einer bedrohlichen Akustik („Klirren“) wieder; klanglich und semantisch steht die Zeile in enger Beziehung zur entsprechenden Zeile der ersten Strophe: mit dem fürchterlichen „Lachen“ des „Golds“ korrespondiert und kontrastiert das friedliche „Läuten“ der (Abend-)„Glocken“. Mit der Wendung vom „versunkenen Läuten der Abendglocken“ evoziert Trakl das Gegenbild der von Lärm, Unruhe, Streit und Not erfüllten Großstadt, die verlorene Idylle eines Dorfes, in dem abends „die Glocken Frieden läuten“. Es ist ein Friede in sozialem, psychischem und auch in religiösem Sinn: in dieser Welt lebte der Mensch noch im Frieden mit seinem Gott. Der Großstadtmensch hingegen wird beschrieben als ein vom Bösen „Besessener“, der den Zorn Gottes auf sich zieht. Kurz: die große Stadt, in ihrem Wesen erfaßt, präsentiert sich als ein Szenarium des Schreckens, als Hölle auf Erden; an diesem Ort hausen Dämonen. Unheimlich ist die Stadt – der Dichter begreift sie als Negation von Heimat.
Trakls Gedicht, so hat es zunächst den Anschein, bereitet keine besonderen Verständigungsprobleme. Ein Interpret, der es in der skizzierten herkömmlichen Weise auslegt, der also das Gedicht reduziert auf den Gedanken, auf seinen weltanschaulichen Gehalt, kann sich mit seiner Deutung zudem berufen auf ein biographisches Dokument. Aufgewachsen im eher beschaulichen Salzburg, kommt Trakl 1908 nach Wien, um dort sein Pharmaziestudium aufzunehmen; für den Studenten aus der Provinz hat die erste Begegnung mit der Großstadt offenbar traumatischen Charakter. Er schreibt an seine Schwester Minna:

Als ich hier ankam, war es mir, als sähe ich zum ersten Male das Leben so klar wie es ist, ohne alle persönliche Deutung, nackt, voraussetzungslos, als vernähme ich alle jene Stimmen, die die Wirklichkeit spricht, die grausamen, peinlich vernehmbar, Und einen Augenblick spürte ich etwas von dem Druck, der auf den Menschen für gewöhnlich lastet, und das Treibende des Schicksals. Ich glaube, es müßte furchtbar sein, immer so zu leben, im Vollgefühl all der animalischen Triebe, die das Leben durch die Zeiten wälzen.

Das traumatische Erlebnis, das Trakl hier schildert, gehört ohne Zweifel zu den individuellen Voraussetzungen der poetischen Scheltrede auf die Großstadt, die er im Gedicht „An die Verstummten“ vorträgt. Hat schon dieses persönliche Erlebnis Trakls durchaus exemplarischen Charakter, so ist auch die von ihm formulierte Zivilisationskritik repräsentativ für seine Epoche. Auch Oswald Spengler beschreibt wenig später die „steinerne Stadt“ als eine Todeslandschaft, als ein Symptom für den Untergang des Abendlandes:

Zivilisation sind die äußersten und künstlichsten Zustände, deren eine höhere Art Menschen fähig ist. Sie sind ein Abschluß; sie folgen dem Werden als das Gewordene, dem Leben als der Tod, der Entwicklung als die Starrheit, dem Lande und der seelischen Kindheit… als das geistige Greisentum und die steinerne, versteinernde Weltstadt. Sie sind ein Ende, unwiderruflich, aber sie sind mit innerer Notwendigkeit immer wieder erreicht worden.

Der Interpret, der aus Trakls Gedicht eine religiös gefärbte Zivilisationskritik herausliest, hat also damit sicherlich nicht unrecht – es fragt sich allerdings, ob seine Deutung den Sinngehalt der Verse erschöpft.
Hermeneutische Irritationen stellen sich spätestens dann ein, wenn man das Gedicht im Rahmen von Trakls Gesamtwerk betrachtet. So enthalten etwa auch die beiden Schlußstrophen des im März 1914 wohl in Berlin entstandenen Gedichts „An Johanna“ eine solche Kritik an der „steinernen Stadt“:

Ein friedliches Dorf im Sommer
Beschirmte die Kindheit einst
Unsres Geschlechts,
Hinsterbend nun am Abend-

Hügel die weißen Enkel
Träumen wir die Schrecken
Unseres nächtigen Blutes
Schatten in steinerner Stadt.

Auf den ersten Blick muten diese Zeilen an wie eine poetische Paraphrase des Spengler-Textes. Bei näherem Zusehen aber wird deutlich, daß Trakls eindrucksvolle Verse doch mehr sind als nur lyrisch verklausulierte Weltanschauung. Das Gedicht richtet sich „An Johanna“ – Johanna aber ist eine Figur aus dem etwa zur selben Zeit entstandenen Dramenfragment Trakls, eine Figur, die hier ganz unverkennbar die Züge seiner Schwester Margarete trägt; schon 1911, in den Entwürfen zu „Abendlicher Reigen“, vertauschte der Dichter die Kurzformen „Grete“ und „Hanna“. Das Dramenfragment nun wirft das Problem der inzestuösen Liebe auf – vor diesem Hintergrund gewinnt die Formel von der „Kindheit unsres Geschlechts“ jetzt plötzlich einen Doppelsinn: „Geschlecht“ meint nicht nur „genus“, das Menschengeschlecht, sondern auch „sexus“. Und was hat die Wendung von den „Schrecken / Unseres nächtigen Blutes“ zu tun mit der Kritik an der „steinernen Stadt“? Höchst Privates, ja Intimes ist in diesen Texten enthalten, das sich nicht mit ihrer Ideologie verrechnen läßt. Diesem semantischen Überschuß wird ein Interpret nicht gerecht, wenn er das Gedicht auf einen weltanschaulichen Gehalt festlegen will.
Solche simplen Deutungsmuster werden fragwürdig auch angesichts der Fortsetzung des Briefes, den Trakl 1908 aus Wien schrieb – von den „Schrecken des Blutes“ ist nämlich auch hier schon die Rede:

Ich glaube, es müßte furchtbar sein, immer so zu leben, im Vollgefühl all der animalischen Triebe, die das Leben durch die Zeiten wälzen. Ich habe die fürchterlichsten Möglichkeiten in mir gefühlt, gerochen, getastet und im Blute die Dämonen heulen hören, die tausend Teufel mit ihren Stacheln, die das Fleisch wahnsinnig machen. Welch entsetzlicher Alp!

Die Dämonen treiben offenkundig nicht nur in der „großen Stadt“ ihr Unwesen – sie hausen in der Seele des Dichters selbst. Als beängstigend empfindet Trakl nicht allein die Außenwelt, seine großstädtische Umgebung, sondern zugleich, und viel mehr noch, die Innenwelt: seine Angst hat intrapsychische Quellen. Was Trakl beschreibt, ist die klassische Situation einer „Wiederkehr des Verdrängten“; sein Alptraum wird heraufbeschworen von den „Dämonen des Blutes“, den „animalischen Trieben“, die er in sich verspürt. Wenn er nun im Gedicht „An die Verstummten“ von einem „Besessenen“ und einem „Bösen“ spricht, so ist dieses Porträt des Großstadtmenschen zugleich als ein Selbstporträt des Dichters zu begreifen: die Interpretation muß dem Rechnung tragen.
Die Zweifel an der Angemessenheit herkömmlicher weltanschaulicher Deutungsversuche verstärken sich noch, bedenkt man den eigentümlichen Entstehungsprozeß der Gedichte Trakls. In einem Brief an seinen Freund Buschbeck schreibt er 1910:

Aber ich bin derzeit von allzuviel (was für ein infernalisches Chaos von Rhythmen und Bildern) bedrängt, als daß ich für anderes Zeit hätte, als dies zum geringsten Teile zu gestalten, um mich am Ende vor dem was man nicht überwältigen kann, als lächerlicher Stümper zu sehen, den der geringste äußere Anstoß in Krämpfe und Delirien versetzt.

An anderer Stelle bezeichnet er seine Verse ganz ähnlich als „Rhythmen aus meinem Inferno“. Die Szenerie des Schreckens, die Trakl im Gedicht „An die Verstummten“ entwirft, meint ganz offensichtlich nicht allein die Großstadt: diese infernalische Topographie weist auf psychische Realität, auf eine Seelenlandschaft. Nimmt man die brieflichen Aussagen und eine Vielzahl entsprechender Formulierungen in Trakls Lyrik ernst, so ergibt sich ein anderes Bild von seiner Dichtung, von ihrem Gegenstand und ihrer Intention. Eine psychoanalytische Leseweise des Gedichts drängt sich dann geradezu auf.
Die psychoanalytische Tiefenhermeneutik leitet das Gedicht nun nicht von den Gedanken des Autors, sondern von seinen unbewußten Wünschen und Phantasien her, begreift es als sprachliche Gestaltung, symbolische Artikulation von Vorstellungen, die im Verlauf der seelischen Bildungsgeschichte des Subjekts in Konflikt gerieten mit dem Gefüge gesellschaftlicher Normen, infolgedessen aus dem Bewußtsein verstoßen, exkommuniziert, verdrängt wurden. In der Phantasie des Dichters meldet sich – in Gestalt des „bedrängenden“ Bilderchaos – das Verdrängte zu Wort, und er läßt es zu Wort kommen, er bringt es zur Sprache: verhüllt allerdings nur und ihm selbst kaum kenntlich, gekleidet in symbolische Sprachfiguren. Das Sprachsymbol ist das Instrument, mit dem das bedrohte Ich seine Verteidigung betreibt gegenüber den Gewalten des Es, die Waffe, mit der es die „Dämonen des Blutes“ zu „überwältigen“ sucht.
Der latente Gehalt der Sprachfigur ist eine Beziehungsfigur, eine phantasierte Szene zwischen dem Selbst und einem Objekt. Alfred Lorenzer hat diese Beziehungsfiguren als „Interaktionsformen“ bezeichnet; sie sind die szenische Konkretisation eines unbewußten Triebwunsches:

Phantasien sind nichts anderes als imaginierte Objektbeziehungen, szenische Arrangements, in denen bestimmte Interaktionsmuster ausgelegt werden. Es ist keine Phantasie denkbar, die nicht dieses Wesensmerkmal der Inszenierung hat. (…) Man kann Freuds Bemerkung, daß der Trieb nur in der Vorstellung faßbar ist, so variieren: Triebe sind nur erlebbar in den (in der Realität oder Phantasie inszenierten) Objektbeziehungen, d.h. in einem realen oder phantasierten Spiel mit dem Objekt.

Im poetischen Prozeß werden also unbewußte Phantasien sprachlich in Szene gesetzt, verdrängte Interaktionsformen symbolisch dargestellt, und zwar nicht in der dürren Sprache abstrakter Begriffe, in diskursiver Symbolik, sondern in der bildhaft-konkreten, affektnahen Sprache präsentativer Symbolik, deren Baugesetze der primärprozeßhaften Grammatik des Traums eng verwandt sind. Und wie der Traum, so besitzt auch das Gedicht neben seinem manifesten Gehalt (also etwa dem, was sich als weltanschauliche Aussage aus dem Text destillieren läßt) einen latenten Sinn, der dem Autor selbst nicht bewußt ist: die verdrängten Interaktionsformen, die ins Bewußtsein, zur Sprache drängen, Zutritt erhalten aber nur unter der Einwirkung der Zensur, unter der Bedingung ihrer Verhüllung. Die Tiefenhermeneutik ist bemüht, die unbewußten Beziehungsfiguren zu erfassen, die den Sprachfiguren des Dichters zugrundeliegen; seiner szenisch-präsentativen Kunst begegnet sie mit „szenischem Verstehen“. Dieses Verstehen verlangt vom Interpreten nicht nur den Einsatz des kühlen Intellekts, sondern empathisches Vermögen, die Bereitschaft zur szenischen Anteilnahme an den Interaktionsfiguren des Textes – d.h. den Einsatz der eigenen Subjektivität:

Der Leser/Interpret darf dem Text so wenig distanziert gegenüber stehen wie der therapierende Analytiker seinem Patienten. Beide müssen sich in ein Verhältnis zu dem, was sie verstehen wollen, einlassen, indem sie in das angebotene Drama ,einsteigen‘. Das Verstehen gründet in der szenischen Anteilnahme.

Die psychoanalytische Interpretation kann den Text also nicht verdinglichen, als totes Objekt sezieren, ihn umstandslos subsumieren unter die theoretischen Konzepte der Metapsychologie: das Beziehungsdrama, das sich in poetischen Sprachfiguren entfaltet, bedarf der szenischen Einfühlung und Deutung.
Ein szenisch-dramatischer Zug ist nun in Trakls Gedicht „An die Verstummten“ unverkennbar deutlich. Beginnen wir mit Z. 7, mit dem Bild der Hure, die ein totes Kind zur Welt bringt. Nicht die zivilisationskritische Intention dieses Bildes soll jetzt interessieren, sondern sein latenter Gehalt, seine symbolische Bedeutung. Im Rahmen einer Geburtsszene wird der „Hure“ eine Mutterrolle zugewiesen, d.h. sie fungiert als symbolische Mutterrepräsentanz, während das „Kind“ das Selbst des phantasierenden Dichters (und auch des bei der Lektüre mit-phantasierenden Lesers) repräsentiert. Selbst und mütterliches Objekt stehen in komplementärer Beziehung, gestalten zusammen eine symbolische Szene, eine Beziehungsfigur. Daß es sich bei der Gestalt der Hure um eine symbolische Mutterrepräsentanz handelt, macht ein vergleichender Blick auf eine Strophe des Gedichts „Romanze zur Nacht“ plausibel; hier kontrastiert Trakl nämlich diese Hure mit ihrem positiven Gegenbild, der guten Mutter:

Die Mutter leis’ im Schlafe singt.
Sehr friedlich schaut zur Nacht das Kind
Mit Augen, die ganz wahrhaft sind.
Im Hurenhaus Gelächter klingt.

Die Reimbindung „singt“-„klingt“ unterstreicht die antithetische Beziehung von liebevoller Mutter und Hure; das friedlich schauende Kind ist der Gegenentwurf zur Figur des „Besessenen“ im Gedicht „An die Verstummten“, ein Wunschbild vom eigenen Selbst. In beiden Gedichten steht ein „gräßliches Lachen“ im Gegensatz zu einer friedvollen, von harmonischem Klang (Gesang, Glockenläuten) erfüllten Szenerie. Der Antithese von guter Mutter und Hure in Trakls Vierzeiler entspricht also im Gedicht „An die Verstummten“ der Gegensatz von großer Stadt und idyllischem Dorf – nicht anders in den Zeilen „An Johanna“:

Ein friedliches Dorf im Sommer
Beschirmte die Kindheit einst
Unsres Geschlechts…

Dorf und Großstadt gewinnen insofern mütterliche Konturen: sie fungieren als symbolische Repräsentanzen der guten bzw. bösen Mutter. Ist der guten Mutter ein „friedliches“ Selbst szenisch zugeordnet, so der bösen Mutter ein böses Selbst („Geist des Bösen“), besessen von den Dämonen des Blutes, von „animalischen Trieben“.
Als Hure präsentiert sich die Muttergestalt auch in der zentralen Strophe des Gedichts „Drei Blicke in einen Opal“:

In blauem Schleim und Schleiern tanzt des Greisen Frau
Das schmutzstarrende Haar erfüllt von schwarzen Tränen,
Die Knaben träumen wirr in dürren Weidensträhnen
Und ihre Stirnen sind von Aussatz kahl und rauh.

Ging es bislang um ein szenisches Zusammenspiel von Mutter und Kind, um Entwürfe einer Mutter-Kind-Dyade, so haben wir es hier zu tun mit einem Beziehungsdreieck, mit einer ödipalen Triade: der Knabe – der Greis – des Greisen Frau. Die Vaterfigur wurde aggressiv abgewertet zum „Greisen“, was einer symbolischen Kastration entspricht; das ödipale Thema wird evident, wenn Trakl im Entwurf von „des Toten Frau“ spricht und das Bild des Schleiertanzes durch Reimbindung in Bezug setzt zu der ebenfalls deutlich erotisch getönten Zeile: „In Schlinggewächs wogt Unruh, Stöße lind und lau“. Als ein „Aussätziger“ übernimmt der Knabe die ödipale Rolle des ausgeschlossenen Dritten; in merkwürdiger Weise verschmilzt sein Bild mit dem Bild eines kahlen Baumes (Haarsträhnen/Weidensträhnen). Darauf wird zurückzukommen sein. Die Mutter nun begegnet im Rahmen der ödipalen Szene als eine abstoßende Hure, bedeckt von Schleim und Schmutz: die Mutterimago ist das Objekt libidinöser und aggressiver Regungen. Der Entwertung des Vaters, seiner semantischen Ent-Mannung, entspricht die Verhäßlichung der Muttergestalt, ihre Beschmutzung: anale Aggressivität kommt in diesem häßlichen Bild zum Ausdruck. Nicht zufällig erscheint bei Trakl auch die Stadt in ganz ähnlicher Gestalt: „Der schwarze Kot, der von den Dächern rinnt“; im gleichen Zusammenhang ist die Rede vom „kalten Lächeln einer toten Dirne“. Kot/tot, Dach/Dirne: wieder ist das Bild der Mutter, diesmal auch klanglich, eng assoziiert mit dem Bild der Stadt. Die anale Aggression, die in der Phantasie vom Kot auf den Dächern deutlich genug faßbar wird, verschafft sich in einem Brief Trakls auch in Gestalt einer Verbalinjurie Ausdruck: Wien wird von ihm einmal pauschal als „Dreckstadt“ abqualifiziert. Entsprechend ist auch das häßliche Mutterbild im Gedicht „Drei Blicke in einen Opal“ als ein Produkt des Hasses zu begreifen.
Die Mutter, die eben als „des Greisen Frau“ tituliert wurde, tritt im Gedicht „Geburt“ selbst als eine „Greisin“ auf:

O, die Geburt des Menschen. Nächtlich rauscht
Blaues Wasser im Felsengrund;
Seufzend erblickt sein Bild der gefallene Engel,

Erwacht ein Bleiches in dumpfer Stube.
Zwei Monde
Erglänzen die Augen der steinernen Greisin.

Weh, der Gebärenden Schrei. Mit schwarzem Flügel
Rührt die Knabenschläfe die Nacht,
Schnee, der leise aus purpurner Wolke sinkt.

Das Geburtsmotiv führt uns wieder zurück zum Gedicht „An die Verstummten“; beide Texte stammen im übrigen aus der selben Zeit, von Ende 1913. Die Szenen gleichen sich: die Mutterrolle wird in dem einen Gedicht besetzt mit der Figur der Hure, im anderen mit der Gestalt einer „steinernen Greisin“; als symbolische Selbstrepräsentanz fungiert einmal das tote Kind, dann die Figur des bleichen Knaben, der auch als „gefallener Engel“ bezeichnet wird. Ein gefallener Engel aber ist ein Dämon – damit ergibt sich ein Bezug zur Figur des „Besessenen“ aus „An die Verstummten“. In steinern-abweisender und in abstoßend-häßlicher Gestalt präsentiert sich die Mutter dem Kind, als Hure und als Greisin: in diesen Figuren verkörpert sich die Imago einer bösen, abweisenden Mutter, die mit Aggressionen besetzt ist.
Ein solcher kalt-abweisender Zug kennzeichnet nun vielfach die Muttergestalten in Trakls Werk. Der Dichter, der vom „kalten Lächeln einer toten Dirne“ spricht, dabei „Dirne“ auf „Firne“ reimt, vertauscht an anderer Stelle die Begriffe „kindlich“ und „frierend“. An der „frierenden Hand der Mutter“ geht der Knabe Sebastian am Abend „über Sankt Peters herbstlichen Friedhof“; das frostige Klima dieser Mutter-Kind-Dyade kommt zum Ausdruck auch in den „eisigen Schauem“, die im Gedicht „An die Verstummten“ die Hure als kalte Mutter charakterisieren. Ein ödipales Beziehungsdreieck entwirft der Eingangssatz von Trakls Prosagedicht „Traum und Umnachtung“:

Am Abend ward zum Greis der Vater; in dunklen Zimmern versteinerte das Antlitz der Mutter und auf dem Knaben lastete der Fluch des entarteten Geschlechts.

Dem Vater, der hier einmal mehr zum Greisen abgewertet wird, stellt Trakl eine Mutter in steinerner Gestalt zur Seite; von der Kindheit des „entarteten“ Knaben (wieder ist die Doppeldeutigkeit von „Geschlecht“ zu vermerken) ist gleich im Anschluß die Rede:

Manchmal erinnerte er sich seiner Kindheit, erfüllt von Krankheit, Schrecken und Finsternis…

Zu Beginn des zweiten Abschnitts heißt es lapidar:

Niemand liebte ihn.

Der Hunger des Kindes nach Wärme und Zuwendung bleibt ungestillt; steinern wie die Mutter selbst ist auch die Nahrung, die sie dem Kind reicht:

… der Mutter unter leidenden Händen das Brot zu Stein ward.

Noch prägnanter ist der Satz aus Trakls Dramenfragment:

Von Kindheit an vergebliche Hoffnung des Lebens, das versteinerte Brot.

Eine Formanalyse des Gedichts „An die Verstummten“ wird in der zweiten Strophe die klangliche Beziehung von „Hure“ und „Hunger“ registrieren; diese formale Beziehung läßt sich vor dem Hintergrund der eben betrachteten Variationsketten auch als inhaltlich sinnvolle begreifen: die Hure ist ja die böse Mutter, die ihr Kind hungern läßt, ihm „versteinertes Brot“ anbietet:

Hunger, der grüne Augen zerbricht.

Das vegetative Grün der Augen verweist nun aber nicht nur auf das Kind, dessen Hoffnung auf Leben enttäuscht wird, sondern zugleich auf den Baum in Z. 3: auch er sollte ja eigentlich dieses Grün tragen. Zu konstatieren ist eine Äquivalenzbeziehung zwischen dem verkrüppelten Baum an der Mauer und dem toten bzw. hungrigen Kind der Hure: beide fungieren als symbolische Selbstrepräsentanzen. Die semantische Verwandtschaft von Baum und Kind wird evident, wenn Trakl einmal von „saugenden Bäumen“ spricht, dem Baum also die Rolle eines „Säuglings“ (an der Brust von „Mutter Natur“) zuschreibt. Auch das Bild vom verkrüppelten Baum an der Mauer ist demnach als eine symbolische Szene zu betreifen, als eine Beziehungsfigur zwischen Mutter und Kind: der Baum vertritt das hungrige, frustrierte, abgewiesene Selbst, während die „schwarze Mauer“ als szenisch komplementäre Mutterrepräsentanz fungiert. Die Mutter ist aus Stein: zu erinnern ist an ihr „versteinertes Antlitz“, an die gespenstische Gestalt der „steinernen Greisin“.
Wenn nun der Knabe und der Baum als Selbstrepräsentanzen in paradigmatischer Beziehung stehen, so erhellt sich hieraus auch die Logik der merkwürdigen Zeilen aus „Drei Blicke in einen Opal“, in denen das Bild eines „aussätzigen“ Knaben verschmolz mit dem Bild eines dürren, kahlen Baumes: die paradigmatische Beziehung der Motive erscheint hier als syntagmatische, und zwar nicht als Bilderfolge (wie in „An die Verstummten“), sondern als gleichzeitige Präsenz beider Bilder, nicht als Nacheinander, sondern als Ineinander. Ein solches Vexierbild ist das Produkt einer poetischen Verfahrensweise, die Trakl als seine „bildhafte Manier“ beschrieben hat, die „einzelne Bildteile zu einem einzigen Eindruck zusammenschmiedet“. Die Simultaneität, um die er sich bemüht, ist ein konstitutives Merkmal präsentativer Symbolik, und seiner poetischen Technik entspricht ein fundamentales Verfahren der Traumarbeit: die Verdichtung.
Der szenisch-dramatische Zug von Trakls Gedicht „An die Verstummten“ wird überaus sinnfällig in Z. 5: das Licht liegt im Kampf mit der Nacht. In eigentümlicher Weise kennzeichnet der Dichter hier die Nacht: sie ist „steinern“, gleicht damit ganz auffällig der Mauer, die ihrerseits wiederum schwarz ist wie die Nacht. Diese enge semantische Verwandtschaft legt die Vermutung nahe, daß die „steinerne Nacht“ ebenfalls die Mutter symbolisiert. Die Mutter, die in der dichterischen Phantasie Trakls so häufig in steinerner Gestalt auftritt, wird von ihm tatsächlich auch öfters als eine „nächtige Gestalt“ apostrophiert:

Das blaue Rauschen eines Frauengewandes ließ ihn zur Säule erstarren und in der Tür stand die nächtige Gestalt seiner Mutter.

An anderer Stelle wird die Mutter kurz als die „Nächtige“ bezeichnet. Auch die Figur der „steinernen Greisin“ trägt ja zugleich solch „nächtige“ Züge: wenn dem Kind ihre Augen als „zwei Monde“ erscheinen, so evozieren die im Dunkel leuchtenden Augen die Vorstellung einer Eule. Präsentiert sich die Mutter insofern als eine eulenhafte „nächtige Gestalt“, so wird gleich anschließend auch die Nacht in der Rolle der Mutter und als ein geflügeltes Wesen vorgestellt:

Mit schwarzem Flügel
Rührt die Knabenschläfe die Nacht

Eine „steinerne“ und zugleich „nächtige“ Gestalt also ist die Mutter: „steinerne Nacht“ und „schwarze Mauer“ meinen insofern in der Tat dasselbe, haben ein gemeinsames unbewußtes Signifikat.
Als symbolische Mutterrepräsentanzen bilden die „große Stadt“, die „Hure“, die „schwarze Mauer“ und die „steinerne Nacht“ eine Reihe, sie stehen in paradigmatischer Beziehung. Die komplementäre Reihe der Selbstrepräsentanzen wäre nun entsprechend zu erweitern um das „Licht“, das ja in szenische Beziehung zur Nacht tritt. Im Gedichtentwurf wird das Licht von Trakl noch als „gottlos“ bezeichnet, mithin personifiziert; es steht so in einer klaren Analogiebeziehung zu den Figuren des „Besessenen“ und des „Bösen“. Das Licht gewinnt also tatsächlich menschliche Züge, die Züge dessen, der im Blute die Dämonen heulen hört. Als eine symbolische Szene stellt sich jetzt auch das Bild vom Kampf zwischen Licht und Nacht dar, als eine Interaktionsfigur: das Selbst, vertreten durch das Licht, greift das versagende, steinerne Objekt an, die böse Mutter. Eine unbewußte Aggressionsphantasie wurde hier von Trakl gestaltet, ein Haß, der sich im Rahmen einer defekten Mutter-Kind-Dyade entwickelt hat. Hier wurde das aggressive Licht, ein zerstörerisches Feuer, „entzündet“:

Niemand liebte ihn. Sein Haupt verbrannte Lüge und Unzucht in dämmernden Zimmern…

Der ungeliebte Knabe „brennt“, und in ihm erwacht der „Geist des Bösen“: … in der Tür stand die nächtige Gestalt seiner Mutter. Zu seinen Häupten erhob sich der Schatten des Bösen.

Als symbolische Selbstrepräsentanzen stehen also der „Besessene“, der „Böse“, der verkrüppelte „Baum“, das hungrige bzw. tote „Kind“ und das aggressive „Licht“ in paradigmatischer Beziehung: sie sind latent identisch, insofern austauschbar. Dies zeigt ein vergleichender Blick auf das Rekurrentenmaterial. So stoßen wir bei Trakl auch auf einen Baum, der sein steinernes Gegenüber angreift – zu erinnern ist jetzt an die merkwürdige Zeile, die eingangs als Beispiel für die „unverständliche“ Bildersprache Trakls zitiert wurde: „Rasend an die Mauer von Stein klopft der kahle Baum“. Wir begegnen hier dem hungrigen, verkrüppelten Baum aus „An die Verstummten“ wieder, jetzt in der Rolle des Aggressors, den in diesem Gedicht das Licht übernommen hat. Und wie zuvor das Licht, so trägt auch der Baum anthropomorphe Züge: „Du auf verfallenen Stufen: Baum, Stern, Stein!“. Der Baum tritt ein für den Menschen, fungiert als symbolische Repräsentanz des Selbst; die eigentümlichen poetischen Metamorphosen, die sich in Trakls Gedichten oftmals vollziehen, werden von daher begreifbar:

Jener aber ward ein schneeiger Baum…

In gleicher Weise können sich denn auch die Haarsträhnen eines Knaben in „Weidensträhnen“ verwandeln. Es ist unverkennbar: das Bild vom Licht, das die „steinerne Nacht“ angreift, und das Bild vom Baum, der „rasend“, wie ein „Besessener“, an die Mauer klopft, sind nach dem gleichen Muster gearbeitet. Im Rahmen dieses aggressiven Klischees kann das Selbst in unterschiedlichster Weise symbolische Gestalt annehmen; es tritt auf als „Soldat, der eine schwarze Schanze stürmt“, tritt als ein „finsterer Korsar“ in szenischen Bezug zu „stürzenden Städten / Von Stahl“. Alle diese dramatischen Szenen variieren eine Interaktionsfigur.
Aus der Reihe der Selbstrepräsentanzen im Gedicht „An die Verstummten“ begegnet noch eine dritte Figur, das tote Kind der Hure, in der aggressiven Rolle, die eben schon das Licht und der Baum übernommen hatten; auch der kindliche Leichnam unternimmt einen Angriff auf das steinerne, frustrierende Objekt. Zum bedrückendsten, was deutsche Lyriker je formuliert haben, gehört die Schlußzeile von Trakls Gedicht „Föhn“:

Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe.

Der katastrophale Zusammenstoß, der sich hier ereignet, ist nicht nur auf semantischer, sondern auch auf klanglicher Ebene faßbar, er wird hörbar in dem Gegensatz von langen, tiefen Vokalen („kahle Mauer“) und kurzen, hohen Vokalen („Silbern… kindlich Gerippe“), sowie in der Folge harter Explosivlaute. Ein ähnlicher vokalischer Gegensatz tritt in „An die Verstummten“ auf, wo das „Licht“ zusammenstößt mit der „Nacht“. Wie die „steinerne Nacht“ und die „schwarze Mauer“, so fungiert auch die „kahle Mauer“ im Gedicht „Föhn“ als mütterliches Objekt – nicht nur klanglich korrespondiert sie mit der „Klagegestalt der Mutter“, von der kurz zuvor die Rede ist. Die zunächst so absurd anmutende Zeile Trakls ist also keineswegs „hermetisch“, inhaltlich nicht mehr deutbar; ihr Verständnis verlangt vom Interpreten allerdings die Bereitschaft und die Fähigkeit zur szenischen Anteilnahme an dem symbolischen Beziehungsdrama, nicht nur eine distanzierte Untersuchung von Sprachstrukturen, die „Anwendung“ eines analytischen „Verfahrens“ am Text-Objekt.
Die Mutter, die ihr Kind abweist, ihm „versteinertes Brot“ reicht, sein Begehren nicht erfüllt, wird zum Objekt aggressiver Regungen: diese aggressive Beziehungsfigur setzt Trakl in vielfältigen Variationen in Szene. Schon das früheste Gedicht, das von ihm überliefert ist, gestaltet eine solche Aggressionsphantasie. Im Gedicht „Der Heilige“ (um 1906) steht ein Mönch, bedrängt von „grausam-unzüchtigen Bildern“ – die Formulierung weist schon voraus auf Trakls Poetik-Brief von 1910, das „bedrängende Bilderchaos“ – vor der Madonna; am Schluß heißt es:

Und nicht so trunken tönt das Evoe
Des Dionys, als wenn in tödlicher,
Wutgeifernder Ekstase Erfüllung sich
Erzwingt sein Qualschrei: Exaudi me, o Maria!

Die bewußte Intention dieser pathetischen Zeilen ist natürlich eine Provokation des katholischen Bürgertums von Salzburg, ein Verstoß gegen das herrschende sexuelle Tabu: in Gestalt des Dionysos kehrt zurück, was das asketische Christentum verdrängt hat. Der Einfluß Nietzsches ist in dem Gedicht unverkennbar. Der latente, unbewußte Gehalt der Zeilen aber ist einmal mehr ein Angriff auf die Mutter. In Trakls Dichtung rückt nämlich die Madonna in die Reihe der Muttergestalten – nicht zuletzt insofern, als die Mutter des Dichters tatsächlich den Namen Maria trug. Wenn nun in dem Gedicht des jungen Trakl der Qualschrei eines pubertierenden Ödipus allzu vernehmlich ist, so darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, daß eine lebensgeschichtlich frühere Not diesem sexuellen Begehren erst seinen eigentümlich gewalttätigen Charakter verliehen hat: die sadistische Tönung dieser ödipalen Phantasie leitet sich her von dem Haß, den das Kind schon in der präödipalen Phase, im frühen Austausch mit der Mutter entwickelte.
Nicht von ungefähr versuchte sich Trakl an einem Blaubart-Drama und erging sich dabei in wahren Bluträuschen:

Doch soll ich dich Kindlein ganz besitzen –
Muß ich, Gott will’s den Hals dir schlitzen!
Du Taube, und trinken dein Blut so rot
Und deinen zuckenden, schäumenden Tod!
Und saugen aus deinem Eingeweid
Deine Scham und deine Jungfräulichkeit.

Die bedauernswerte Braut dieses Unholds trug ursprünglich ebenfalls den Namen der Mutter und der Madonna. „Trinken“ und „saugen“ will Blaubart; im Dramenentwurf prägt der Dichter auch die bezeichnende Formel „fressender Haß“. Die orale Gier, die hier zum Ausdruck kommt, steht in enger Beziehung zum hochrekurrenten Motiv des Hungers, zur Vorstellung vom „versteinerten Brot“ in der Hand der Mutter.
Die abweisende Mutter wird also zum Gegenstand sadistischer Phantasien. Trakls Varianten zu einer Zeile aus dem Gedicht „Ein Frühlingsabend“ illustrieren dies eindrucksvoll:

Der Mutter Antlitz hart und voll Schmerz
Der Leib der Magd krümmt sich in rotem Schmerz
Der Schoß der Magd krümmt sich in rotem Schmerz
Ein kahler Baum krümmt sich in schwarzem Schmerz

In der Phantasie des Dichters wird die Mutter gequält, in Gestalt einer „Magd“ (konnotiert ist wieder die Madonna, die „Magd Gottes“) und eines Baumes – dieser fungiert hier, anders als in den bisherigen Beispielen, als symbolische Mutterrepräsentanz. Ein sadistischer Beiklang ist auch in einem anderen frühen Madonnengedicht Trakls, dem Gedicht „Metamorphose“, nicht zu überhören:

Dein bleiches Bildnis ist erblüht
Und dein verhüllter Leib erglüht,
O Fraue du, Maria!

In süßen Qualen brennt dein Schoß,
Da lächelt dein Auge schmerzlich und groß,
O Mutter du, Maria!

Die Szene kehrt noch in Trakls später „Passion“ (1914) wieder; hier ist es der Knabe, der im Anblick der Mutter „erglüht“:

Weh, der schmalen Gestalt des Knaben,
Die purpurn erglüht,
Schmerzlicher Mutter, in blauem Mantel
Verhüllend ihre heilige Schmach.

Mutter und Madonna erscheinen in solchen Szenen als Objekt eines nicht nur erotischen Begehrens: der sexuelle Wunsch ist stark aggressiv gefärbt. Die aggressiven Regungen, die sich in solchen Bildern Ausdruck verschaffen, manifestieren sich andererseits auch in Gestalt einer (analsadistischen) Tendenz, das Objekt herabzusetzen, es buchstäblich in den Schmutz zu ziehen, wie in der schon besprochenen Zeile:

In blauem Schleim und Schleiern tanzt des Greisen Frau

Die Madonna, die sich bei Trakl regelmäßig durch ihr blaues Gewand auszeichnet, stand bei diesem Bild ebenso Porträt („blaue Schleier“), wie bei einem anderen, das die Mutter als personifizierte Seuche, als Pest vorstellt:

Am Abend säumt die Pest ihr blau Gewand

Ein Knabe legt die Stirn in ihre Hand

Es folgen die gespenstischen Zeilen:

Oft sinken ihre Lider bös und schwer.
Des Kindes Hände rinnen durch ihr Haar
Und seine Tränen stürzen heiß und klar
In ihre Augenhöhlen schwarz und leer.

Ein Nest von scharlachfarbnen Schlangen bäumt
Sich träg in ihrem aufgewühlten Schoß.
Die Arme lassen ein Erstorbenes los,
Das eines Teppichs Traurigkeit umsäumt.

Die Imago der bösen Mutter könnte kaum eindrucksvoller dichterische Gestalt annehmen.
Neben die Figur der steinernen, abweisenden Mutter und die Gestalt der häßlichen, abstoßenden Mutter können wir somit ein drittes Mutterbild stellen, das bei Trakl ebenfalls häufig wiederkehrt: die Gestalt der angegriffenen, der gequälten Mutter, eine leidende Mutter – eine Mater dolorosa. Die Aggression gegenüber der Mutter, die in den symbolischen Szenen Trakls allenthalben zum Ausdruck kommt, ist auch in der Biographie des Dichters belegt; Ludwig von Ficker gegenüber äußerte er einmal, er habe die Mutter bisweilen so sehr gehaßt, daß er sie mit eigenen Händen hätte ermorden können. In Gestalt symbolischer Handlungen ereignet sich dieser Muttermord in Trakls Werk häufig genug. So agiert der Knabe aus „Traum und Umnachtung“, von dem es hieß „Niemand liebte ihn“, schließlich als ein Blaubart:

Unter kahlen Eichbäumen erwürgte er mit eisigen Händen eine wilde Katze. (…) O, das graue Antlitz des Schreckens, da er die runden Augen über einer Taube zerschnittener Kehle aufhob.

Auch Blaubart tituliert im dramatischen Fragment sein Opfer als „Taube“. Der Knabe, dessen Hunger nach Liebe ungestillt blieb, wird zu einem wilden Jäger, zu einem „flammenden Wolf“, und so ist es klar, warum er sich vor der Mutter verbergen muß:

Aber in dunkler Höhle verbrachte er seine Tage, log und stahl und verbarg sich, ein flammender Wolf, vor dem weißen Antlitz der Mutter.

Die Wendung vom „flammenden Wolf“ kommentiert noch einmal unsere psychoanalytische Deutung des aggressiven „Lichts“ im Gedicht „An die Verstummten“, erläutert zugleich die Figur des „Besessenen“ und des „Bösen“; einem Wolf, der sich in der Höhle versteckt, gleicht ja doch der „Böse“, der sich unter einer Maske verbirgt:

Aus silberner Maske der Geist des Bösen schaut.

Nicht zuletzt aber dürfte jetzt hinreichend klar geworden sein, was Trakl meint, wenn er von den „Dämonen“, den „Schrecken des nächtigen Blutes“ und von ihn „bedrängenden“ Bildern spricht, die er poetisch „überwältigen“ müsse.
Für ein seltsames Instrument besitzt Georg Trakl das poetische Patent: für eine „magnetische Geißel“. Als einfache Metapher läßt diese Sprachfigur sich nicht auflösen: der Interpret hätte anzugeben, was der Dichter „eigentlich“ damit meint. Ihr Gehalt erschöpft sich keinesfalls im Verweis auf Gegenständliches, auf das künstliche Licht der Stadt; triviale Deutungsvorschläge wie „elektrische Straßenlaterne“ tragen dem doch höchst befremdlichen Charakter der poetischen Formel überhaupt nicht Rechnung. Könnten wir Trakl selbst über ihre Bedeutung befragen, er wäre um eine Antwort verlegen: der Sinngehalt dieser Sprachfigur ist ihm selbst nicht bewußt. Wieder kann die psychoanalytische Hermeneutik ihre sinnerschließende Kraft unter Beweis stellen: fast mühelos erhellt sich die enigmatische Formulierung dem szenischen Verstehen. Das Bild vom Kampf zwischen Licht und Nacht haben wir als szenische Darstellung einer Aggressionsphantasie begriffen; im Rahmen dieser Beziehungsfigur dient die Geißel – nebenbei: ein bevorzugtes Requisit sadistischer Veranstaltungen – dem Selbst als Instrument bei seinem Angriff auf die Mutter. Nun weckt das Adjektiv „magnetisch“ sofort die Assoziation der Anziehungskraft: während die „Geißel“ das Objekt wegtreibt, „verdrängt“, zieht der Magnet es an. Als rhetorische Figur betrachtet, wäre die „magnetische Geißel“ insofern als eine contradictio in adjecto zu beschreiben: die Vorstellungen von Attraktion und Repulsion sind gegenläufig. Dieser Widerstreit des Sinns ist jedoch kein blanker Unsinn, sondern aus psychoanalytischer Sicht überaus sinnvoll: der Streit des Sinns verweist nämlich auf einen Konflikt seelischer Kräfte, auf den Ambivalenzkonflikt in der Beziehung zwischen Selbst und Objekt. In dieser poetischen Sprachfigur streitet der Mutterhaß mit der Mutterliebe, libidinöses Begehren mit aggressiven Regungen: sie stellt eine widersprüchliche Beziehungsfigur symbolisch dar.
Es fällt nun auf, daß das Motiv der Peitsche in dem Gedicht zweimal auftritt, nämlich auch in Z. 8:

Rasend peitscht Gottes Zorn die Stirne des Besessenen

Zur Reihe der symbolischen Mutterrepräsentanzen in Trakls Gedicht tritt mit der Gestalt des zornigen Gottes eine symbolische Vaterfigur: damit ergibt sich eine ödipale Triade. Der Anlaß für den Zorn des Vaters liegt auf der Hand: ist doch in der latenten Bedeutungsschicht des Textes der „Besessene“ identisch mit dem Baum an der Mauer und mit dem Licht, das die Nacht angreift – er ist mithin ein „Rasender“, der gegen die Mutter die Peitsche erhoben hat. Und es gilt, wie immer im Reich des Unbewußten, das Talionsprinzip: mit der Peitsche bestraft der Vater den Angriff des Sohnes auf die Mutter. Das familiale Beziehungsdrama läßt sich reformulieren in den metapsychologischen Begriffen von Freuds Strukturtheorie: das Überich wendet die Aggression, die sich ursprünglich gegen das mütterliche Objekt richtet, zurück gegen das eigene Selbst. Das heißt: der Aggressionswunsch weckt Schuldgefühle, provoziert ein Strafbedürfnis. Dieses Bedürfnis wird symbolisch erfüllt in der dramatischen Szene von Trakls Gedicht, die den „Besessenen“ als von einem zornigen Gott Bestraften vorstellt: bestraft wird er für die Schuld, die sein alter ego, das aggressive Licht, auf sich lädt – eben das Licht, das im Entwurf noch als „gottlos“ bezeichnet wird.
Aggressive Züge entfaltet hat auch der Baum an der Mauer. Prüfen wir nun das Rekurrentenmaterial, so sind wir nicht überrascht, den „rasenden Baum“ ebenfalls in der Rolle des von einer Vaterfigur Bestraften anzutreffen: „Er aber stand ein rasender Baum am steinernen Rand des Himmels, rief den schwarzen Blitz“. Der Blitz in der Hand des Zeus variiert das Bild von der Peitsche in der Hand Gott-Vaters; die Funktion des Baums als symbolische Selbstrepräsentanz wird in diesem Satz klar genug illustriert. Der Baum ruft nach dem Blitz, er wünscht ihn herbei: hier artikuliert sich ein Strafbedürfnis des Selbst. „Daß ein Sturm dies Haupt zerschlüge / Nachts mit Blitzen“, schreibt Trakl an anderer Stelle, und ganz ähnlich heißt es im Entwurf von „An die Verstummten“:

Gottes Sturm peitscht die Stirne des Besessenen

Von hier aus fällt Licht auf die verschiedenen Gewittergedichte Trakls – ihnen geht es nicht nur um das äußere Naturereignis, sondern um die symbolische Erfüllung eines Bestrafungswunsches, um eine Linderung des Schuldgefühls. In einem Brief vom Januar 1914 schreibt Trakl:

… bleibt nur mehr der Wunsch, ein Gewitter möchte hereinbrechen und mich reinigen oder zerstören.

Im Kontext einer solchen Gewitterszenerie begegnet uns auch das Adjektiv „magnetisch“ wieder – es charakterisiert einen „Baum“, der erneut anthropomorphe Züge aufweist:

Magnetische Kühle
Umschwebt dies stolze Haupt…

Der Baum hat Anziehungskraft, er begehrt etwas: seine „Kühle“ verlangt nach Heißem, und diesem Begehren entspricht die „Glühende Schwermut / Eines zürnenden Gottes“. Die ersehnte Bestrafung läßt auch nicht auf sich warten:

Schon zuckt…
Ein rosenschauriger Blitz
In die tönende Fichte

Das von Schuldgefühl gepeinigte Selbst empfindet die Peitschenhiebe des zornigen Vaters als erlösend, die Bestrafung hat kathartische Wirkung:

Da stürzen der Tränen
Wilde Ströme herab,
Sturm-Erbarmen…

Ein ödipales Drama also ist der latente Gehalt von Trakls Gedicht „An die Verstummten“: das Selbst, das die Mutter zugleich begehrt und haßt, zieht dadurch den Zorn des Vaters auf sich; die sexuellen und aggressiven Regungen provozieren ein Schuldgefühl. Dieses ödipale Schuld-Sühne- Thema ist nun auch der Hintergrund, vor dem die beiden Schlußzeilen des Gedichts verständlich werden:

Aber stille blutet in dunkler Höhle stummere Menschheit
Fügt aus harten Metallen das erlösende Haupt.

Das Bild vom Menschen, der sich in eine „dunkle Höhle“ zurückgezogen hat, weist zurück auf die oben zitierte Passage aus Trakls Prosagedicht „Traum und Umnachtung“:

Aber in dunkler Höhle verbrachte er seine Tage, log und stahl und verbarg sich, ein flammender Wolf, vor dem weißen Antlitz der Mutter.

Ist hier die Höhle das Versteck eines Wolfs, so finden wir im Gedicht an seiner Stelle – einen Schmied. „Fügt aus harten Metallen…“: diese Formulierung meint die dichterische Arbeit, die Trakl, wie aus dem Brief an Buschbeck hervorgeht, als ein „Zusammenschmieden“ begriff. Der blutdürstige Wolf hat sich in ein blutendes Opfer verwandelt, der destruktive Blaubart in einen produktiven Schmied: Trakls poetische Schmiedekunst stellt sich dar als eine Sühnehandlung, die der zornige Gott, ein strafendes Überich, dem Selbst abverlangt, als eine Sühnehandlung, die der Besänftigung des quälenden Schuldgefühls dient. Als eine „unvollkommene Sühne“ hat Trakl seine Dichtung einmal bezeichnet. Quelle dieses drückenden Schuldgefühls ist nicht ein umschriebenes biographisches Ereignis, wie die Forschung meist annahm (der verbürgte Geschwisterinzest ist bloßes Epiphänomen), nicht eine einzelne schuldhafte Handlung; das Schuldgefühl gründet sich vielmehr auf Handlungsentwürfe: auf die verdrängten Interaktionsformen, die in der Phantasie des Dichters virulent werden, die ihn „bedrängen“. Das Schuldgefühl wird heraufbeschworen von den „Dämonen des Blutes“, von Triebwünschen, die „fürchterlichste Möglichkeiten“ eröffnen:

Ich habe die fürchterlichsten Möglichkeiten in mir gefühlt, gerochen, getastet und im Blute die Dämonen heulen hören, die tausend Teufel mit ihren Stacheln, die das Fleisch wahnsinnig machen. Welch entsetzlicher Alp!

Trakls poetische Schmiedekunst ist eine Sühnehandlung und zugleich ein exorzistisches Ritual: sie dient zur Beschwörung der Dämonen. Im poetischen Prozeß werden die den Dichter bedrängenden Bilder „überwältigt“, die unbewußten Phantasien sprachlich gestaltet, desymbolisierte, verdrängte Interaktionsformen resymbolisiert: in der präsentativen Symbolik der dichterischen Sprachfigur.
Die psychoanalytische Lektüre des Gedichts „An die Verstummten“ hat gezeigt, wie oberflächlich eine Interpretation bleibt, die den Text nur auf seinen ideologischen Gehalt befragt, aus ihm eine religiös gefärbte Kulturkritik herausliest. Auf der Ebene seiner latenten Bedeutung präsentierte das Gedicht sich als ein komplexes Psychodrama. Die Aufdeckung dieses psychodramatischen Substrats führte zu einem tieferen Verständnis des poetischen Textes, erhellte seine Architektur, die syntagmatischen und paradigmatischen Beziehungen zwischen den Signifikanten, die sich ordnen zu symbolischen Sprachfiguren. Indem diese Sprachfiguren dem szenischen Verstehen sich erschlossen, eröffnete sich zugleich ein Einblick in das Seelenleben des Dichters, in seine verdrängten Wünsche, seine unbewußten Phantasien, seine psychischen Konflikte – ein Einblick in das unbewußte Seelenleben nicht nur Georg Trakls. Die verdrängten Interaktionsformen nämlich, die die Analyse herausgearbeitet hat, sind ja nicht das psychische Privateigentum dieses Autors, sie finden sich im Unbewußten jedes Menschen, der den Prozeß der Sozialisation durchlaufen hat und dabei – von früher Kindheit an – gezwungen war, auf die Erfüllung gesellschaftlich verpönter Wünsche zu verzichten, eine Verdrängungsschranke zu errichten. Das „innere Ausland“ des Unbewußten, das die Analyse erkundet hat, ist der kollektive Besitz einer Kulturgemeinschaft.
Ein Mißverständnis wäre es nun auch, wollte man den unbewußten Gehalt von Trakls Gedicht gegen den manifesten ins Feld führen, der kulturkritischen Intention des Dichters mit dem Verweis auf die infantilen Beziehungsfiguren des Textes ihre Gültigkeit absprechen. Wenn die „große Stadt“ als symbolische Mutterrepräsentanz begriffen wurde, so heißt dies nicht, daß Trakls poetische Scheltrede auf die Stadt „eigentlich“ bloß seiner Mutter, der Maria Trakl gilt. Es heißt vielmehr nur, daß der Dichter die Stadt als Mutter erlebt und in seiner dichterischen Phantasie als solche behandelt – als eine „steinerne Mutter“, die versagt, was sie gewähren sollte: Geborgenheit, Heimat. Eine Auslegung des Gedichts mag – je nach Standort und Horizont des Interpreten – das Bild vom verkrüppelten Baum an der Mauer ökologisch konkretisieren, oder die Gestalt der Hure Babylon, die sich dem Gold verkauft, marxistisch: die Geltung solcher Deutungen und der objektive Wahrheitsgehalt der poetischen Bilder Trakls wird von der tiefenhermeneutischen Analyse nicht bestritten. Sie macht vielmehr nur darauf aufmerksam, daß der Sinngehalt der dichterischen Rede durch diese Deutungen längst nicht ausgeschöpft ist, daß es neben dem manifesten Gehalt im Text noch einen latenten gibt:

Während der manifeste Textsinn sich in der Ebene der sozial anerkannten Bewußtseinsfiguren bewegt, drängt im latenten Textsinn eine sprachlos-wirksame Sinnebene, die Ebene unbewußter Interaktionsformen, zum Bewußtsein. (…) Manifester und latenter Sinn bilden das Widerspruchspaar, das die psychoanalytische Emanzipationsbemühung im Bewußtsein aufzuheben hat.

Der Gehalt von Trakls Gedicht läßt sich also nicht einfach reduzieren auf das infantile Beziehungsdrama, das sich in ihm entfaltet. Das Bild vom verkrüppelten Baum an der Mauer hat als symbolische Szene einen zugleich subjektiven und objektiven Gehalt: sie gehört der seelischen Bildungsgeschichte des Autors ebenso zu, wie der Geschichte einer Zivilisation, deren zerstörerischer Umgang mit der Natur längst offenkundig ist. Und von dieser Zerstörung betroffen ist nicht zuletzt die menschliche Natur selbst, das Subjekt im Prozeß seiner Sozialisation. Diese Beschädigung des Subjekts ist der Gegenstand psychoanalytischer Hermeneutik und Therapie; sie ist aber auch Gegenstand der symbolischen Sprachfiguren Trakls.
Drei Mutterbilder, die im Rahmen der symbolischen Beziehungsfiguren der Dichtung Trakls häufig wiederkehren, wurden bislang erörtert: die steinern-abweisende Mutter, die zur „Hure“ oder „Greisin“ abgewertete Mutter und die Mutter als angegriffenes, gequältes Objekt, als „Materdolorosa“. Das Spektrum mütterlicher Imagines in der dichterischen Phantasie Trakls ist damit aber keinesfalls vollständig beschrieben. Neben einer Vielzahl von deprimierenden Entwürfen einer gestörten Mutter-Kind-Beziehung finden sich auch Bilder mit ganz anderem Charakter:

Ruhig wohnte die Kindheit in blauer Höhle

Es gab Interpreten, die von dieser Zeile (aus dem Gedicht „Kindheit“) auf eine glückliche Kindheit Trakls schlossen – ein fataler Kurzschluß. Nicht um ein Erinnerungsbild, eine autobiographische Reminiszenz des Dichters handelt es sich hier, sondern um ein Wunschbild, eine symbolische Szene: um eine Beziehungsfigur mit primärnarzißtischem Charakter. Hatten wir es in den bisher betrachteten Szenen immer zu tun mit einer mehr oder minder aggressiven Konfrontation von Selbst und mütterlichem Objekt, so geht es in der primärnarzißtischen Phantasie um ein Ineinander, eine Verschmelzung von Selbst und Objekt: das Kind ist geborgen in einer Höhle, im Schoß der archaischen Mutter. Herrschte bislang zwischen Selbst und Objekt eine triebhafte, libidinöse und aggressive Spannung („Rasend klopft“, „Exaudi me“, „magnetische Geißel“) so geht es jetzt um Szenen narzißtischen Gleichgewichts, Bilder paradiesischen Friedens, einer Welt ohne Mangel. Im Schoße der archaischen Mutter empfindet das Selbst Geborgenheit, selige Ruhe, ein Gefühl, das Freud als „ozeanisch“ bezeichnet hat. Die archaische Mutter präsentiert sich dem Selbst nicht als ein konturiertes personales Gegenüber, sondern als ein diffuses umfangendes Objekt:

Das Objekt der Libido wächst über Partialobjektstufen (Brust, Kot, Penis) mit zunehmender Reifung zu einer menschlichen Konfiguration (Ganzobjekt) zusammen, nimmt dabei natürliche menschliche Gesamtzüge an, während die Tendenz des Narzißmus dahin geht, das Objekt ins Grenzenlose auszuweiten, die menschliche Konfiguration ins Unendliche zu verzeichnen und nach vielfachen klinischen Eindrücken durch weltumspannende, kosmische Inhalte oder Elemente wie Wasser, Erde usw. zu symbolisieren. Beide Komponenten – Triebe und Narzißmus – sind innerseelisch in primärnarzißtischen und Triebrepräsentanzen vertreten, gestalten je nach der Entwicklungsstufe mit ihren Objekten eine Szene und behalten die Fähigkeit zur szenischen Verarbeitung in äußeren Beziehungen bei, solange nicht eine Neutralisierung eintritt…

Solchen primärnarzißtischen Charakter hat etwa das Naturgefühl, das sich in Goethes Gedicht „Ganymed“ artikuliert – hier verschmilzt das Selbst mit Mutter Natur („Umfangend umfangen“). Nicht anders der Wunschtraum von Hölderlins Hyperion:

Mein ganzes Wesen verstummt und lauscht, wenn die zarte Welle der Luft mir um die Brust spielt. Verloren ins weite Blau, blick ich oft hinauf an den Äther und hinein ins heilige Meer, und mir ist, als öffnet ein verwandter Geist mir die Arme, als löste der Schmerz der Einsamkeit sich auf ins Leben der Gottheit. Eines zu sein mit Allem, das ist das Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.
Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden…

Der Gegensatz von Selbst und Objekt, von Ich und Nicht-Ich (Fichte), wird in der primärnarzißtischen Phantasie aufgehoben, Selbst und Objekt verschmelzen zu einer Einheit.
Im Rahmen der primärnarzißtischen Szenen Trakls spielt als symbolische Repräsentanz der archaischen Mutter das Wasser eine prominente Rolle: Gestalt, die lange in Stille blauer Wasser gewohnt… Als Varianten zu „Wasser“ erscheinen hier die Begriffe „Höhle“ und „Gewölbe“; dieses Variantenparadigma umschreibt den Ort pränatalen Daseins, die Welt ozeanischen Gefühls – den Schoß der Mutter. Geborgen im mütterlichen Element des Wassers, zugleich umfangen von Mutter Natur, wohnt das Selbst in den folgenden Zeilen in zwei Paradiesen auf einmal:

Als wohnt ich ein sanftes Wild
In der kristallnen Woge
Des kühlen Quells
Und es blühten die Veilchen rings

Wohnt das narzißtische Selbst als ein Fisch im Schoße des Wassers, so kann entsprechend eine Geburtsphantasie sich kleiden in das Bild eines Fischzuges:

… aus dem Sternenweiher zieht der Fischer einen großen, schwarzen Fisch, Antlitz voll Grausamkeit und Irrsinn.

Das Selbst, das hier seiner ozeanischen Welt entrissen wird, begegnet in der postnatalen Welt, der Welt des Subjekt-Objekt-Gegensatzes, nunmehr als ein Hungriger, Besessener, als Blaubart; der schöne Engel, aus seinem Paradies vertrieben, ist zu einem bösen Dämon geworden:

O, die Geburt des Menschen. Nächtlich rauscht
Blaues Wasser im Felsengrund;
Seufzend erblickt sein Bild der gefallene Engel

Geboren aus dem Schoß des „blauen Wassers“, erwacht das Selbst als ein „gefallener Engel“ in „dumpfer Stube“ und sieht sich jetzt konfrontiert mit einer abweisenden, bedrohlichen Muttergestalt, der eulenhaften „steinernen Greisin“. Die Geburt vollzieht sich als ein Wechsel symbolischer Szenen: an die Stelle der archaischen Mutter, die als diffuses umfangendes Objekt gezeichnet wird, tritt die Mutter als ein konturiertes Objekt mit abweisenden Zügen. Ganz ähnlich im folgenden Beispiel:

Stille wohnte in nächtiger Höhle das Kind lauschend in der blauen Woge des Quells dem Geläute einer strahlenden Blume. Und es trat aus verfallener Mauer die bleiche Gestalt der Mutter und sie trug in schlummernden Händen das Schmerzgeborne nachtwandelnd im Garten.

Nachdem im Rahmen der zunächst entworfenen primärnarzißtischen Szene Wasser und Höhle als symbolische Repräsentanzen der archaischen Mutter fungierten, betritt die Mutter in menschlicher Gestalt die Bühne. Sie tritt in diesen wahrhaft phantastischen Zeilen hervor aus einer Mauer – aus eben jener Mauer, in die sie sich im Gedicht „An die Verstummten“ symbolisch verborgen hatte und in der wir sie dort schon aufspüren konnten. Unterziehen wir nun diese Mauer einer genauen semantischen Analyse, so ergibt sich ein überraschender Befund: die „verfallene Mauer“ ist der „steinernen Greisin“ ebenso eng verwandt wie die „schwarze Mauer“ der „steinernen Nacht“. Tritt die Mauer ein für die (steinerne) Mutter, so entspricht der als „Greisin“ gezeichneten Mutter eine „verfallene Mauer“. In der Tat „wohnt“ in dieser Mauer semantisch die Mutter – insofern kann sie auch aus ihr „hervortreten“.
Es ist nun unschwer zu erschließen, welche Wünsche das Kind beherrschen, das aus dem „blauen Wasser“ vertrieben wurde, sich jetzt konfrontiert sieht mit einer „schwarzen Mauer“, einer Mutter mit „frierender Hand“, „versteinertem Antlitz“, einer Mutter, die ihm „versteinertes Brot“ reicht. Da ist einmal der Wunsch, die versagende Mutter anzugreifen, sie zu quälen: ein aggressiver, sadistischer Wunsch. Zum andern aber liegt auf der Hand, daß der enttäuschte Knabe gerne dahin zurückkehren möchte, woher er kam, in die Geborgenheit des pränatalen, ozeanischen Daseins. Genau dieser Wunsch kommt zum Ausdruck in den folgenden Zeilen aus dem Gedicht „Sebastian im Traum“:

Also dunkel der Tag des Jahrs, traurige Kindheit,
Da der Knabe leise zu kühlen Wassern, silbernen Fischen hinabstieg

Dieses Motiv vom Hinabsteigen ins Wasser begegnet bei Trakl sehr häufig. Nicht nur der Sinngehalt des dichterischen Bildes aber hat sich uns erschlossen, sondern auch die Bedeutung eines biographischen Ereignisses, das dem gleichen Muster folgt, dem gleichen regressiven, primärnarzißtischen Wunsch entsprungen ist: schon im Kindesalter versuchte Trakl, sich zu ertränken, und mußte aus einem Teich gerettet werden. Der Wunsch, der sich in seiner Dichtung allenthalben symbolisch artikuliert, wurde hier in die Tat umgesetzt, ausagiert – der symbolischen Szene entspricht das symptomatische Ereignis.
Das Nebeneinander von aggressiven, oft deutlich sadistisch getönten Szenen und von Szenen ozeanischen, primärnarzißtischen Musters ist charakteristisch für das Werk Georg Trakls. Der Dichter, der einerseits von Blaubart-Phantasien „bedrängt“ wird (und mit entsprechenden Schuldgefühlen zu kämpfen hat), gibt sich andererseits ständig regressiven Verschmelzungswünschen, ozeanischen Träumen hin; bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, so erklärte er einmal, habe er von der Außenwelt nichts wahrgenommen als das Wasser. Dieses spezifische Profil seiner dichterischen Phantasie ist das Resultat einer seelischen Bildungsgeschichte, die schon im frühen Stadium der Mutter-Kind-Beziehung beeinträchtigt war; die Beziehungsfiguren seines Werks weisen zurück auf die gestörten Interaktionsformen der Dyade. Die Bedeutung des frühen Austauschs zwischen dem Selbst und mütterlichem Objekt faßt Mendel so zusammen:

Von nun an wird das Subjekt entweder genügend Befriedigung in seinem Austausch mit dem Objekt finden und sein Objekt-Ich stärken, die Versagung ertragen, seine Aggression auf sich nehmen; oder aber, wenn die Befriedigungen unzulänglich sind, einen tödlichen Haß gegenüber dem Objekt, dem großen Versagenden, hegen; dann wird es der von der Realität gewährten Lust die paradiesische Ekstase der Phantasiewelt entgegenhalten und seine Sehnsucht nach ihr nicht unterdrücken können: Sehnsucht nach dem Paradies und Haß auf das Objekt sind dann die beiden Pfeiler des psychischen Lebens.

Aggressive und primärnarzißtische Beziehungsfiguren herrschen vor in der dichterischen Phantasie Trakls; das Selbst, das als ein „rasender Baum“ an die abweisende Mauer klopft, sich Erfüllung erzwingen will, begegnet andererseits als ein Knabe, der zu den Fischen hinabsteigt, zurückkehren will in die paradiesische Welt des Wassers.
Im Zusammenhang mit den ozeanischen Szenerien Trakls verdient die Farbe Blau unsere Aufmerksamkeit. Sie ist uns häufig begegnet: blau war das Wasser, die Höhle der Kindheit, blau war der schmutzige Schleier der Hure, das Gewand der Pest und das Kleid der Mutter:

Das blaue Rauschen eines Frauengewandes ließ ihn zur Säule erstarren und in der Tür stand die nächtige Gestalt seiner Mutter.

Das „blaue Rauschen“ des Kleides läßt zugleich das mütterliche Element des Wassers assoziieren, aber auch das Gewand der Madonna:

Marie thront dort im blauen Gewand
Und wiegt ihr Kindlein in der Hand

Das Blau hat bei Trakl unverkennbar eine mütterliche Aura, eine narzißtische Qualität: es ist eine Farbe, an die sich ozeanische Gefühle knüpfen. Dieses Blau war zuerst aufgetaucht in dem dritten Textbeispiel, das einleitend vorgestellt wurde:

In feuchter Bläue leuchtet das Lämpchen
Die Nacht lang

Auch diese zunächst so kryptisch anmutende Sprachfigur erschließt sich dem szenischen Verstehen ohne Mühe. In einer Umgebung, die als „feucht“ und als „blau“ definiert ist, in ozeanischer Umgebung also, im „blauen Wasser“ (vgl. die Reziprozität von „schwarzer Mauer“ und „steinerner Nacht“), finden wir ein „Lämpchen“; dieses tritt damit in paradigmatische Beziehung zum Fisch und zu dem Knaben, der im Wasser wohnt: es fungiert als symbolische Selbstrepräsentanz. Als ein „kleines Licht“, das friedlich „leuchtet“, weist dieses Lämpchen aber auch auf sein aggressives Pendant, das im Gedicht „An die Verstummten“ die Peitsche gegen die Mutter erhoben hat:

In feuchter Bläue leuchtet das Lämpchen
Die Nacht lang Licht
mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt

Eine aggressive und eine primärnarzißtische Beziehungsfigur stehen sich gegenüber; als archaische Mutterrepräsentanz ist die „feuchte Bläue“ (bzw. das „blaue Wasser“) der Gegenentwurf zur „steinernen Nacht“ (bzw. „schwarzen Mauer“), während „Licht“ und „Lämpchen“ als szenisch komplementäre Selbstrepräsentanzen fungieren. In ozeanischer Umgebung leuchtet das Licht noch friedlich – hier gibt es noch keinen Knaben, der im Anblick der Mutter „purpurn erglüht“, noch keinen „flammenden Wolf“. Symbolisiert die „feuchte Bläue“ den Schoß der Mutter, so wird das folgende Bild als szenische Darstellung einer Geburt begreiflich:

Seufzend hob sich das saugende Haupt
Aus feuchter Bläue.

An die Stelle der primärnarzißtischen Einheit tritt die orale Objektbeziehung; das Kind, dessen Bedürfnisse jetzt nicht hinlänglich befriedigt werden, das hungern muß, entwickelt starke orale Aggressivität, „fressenden Haß“, und regressive, ozeanische Bedürfnisse.
Karl Kraus, der Trakl persönlich kannte, hat den Dichter einmal als „Siebenmonatskind“ bezeichnet und ihm den Wunsch in den Mund gelegt:

Zurück zu dir, o Mutter, wo es gut war

Genau diesen regressiven Wunsch artikulieren die Sprachfiguren Trakls permanent, in vielfältiger Variation. Nun hat aber der primärnarzißtische Verschmelzungswunsch eine Kehrseite. Das Kind, das diesen Wunsch aus agierte und tatsächlich hinabstieg zu den Fischen, geriet in eine tödliche Gefahr. Der physischen Gefahr entspricht eine psychische; die Imago der archaischen Mutter hat nämlich nicht nur den beschriebenen anziehenden, umfangenden, bergenden Charakter, sie hat auch bedrohliche Züge. Die Motive, die in Trakls Werk als symbolische Repräsentanzen der archaischen Mutter fungieren, lassen diesen Doppelcharakter deutlich erkennen. So ist das Wasser nicht nur ein sanft umhüllendes Element, eine blaue Höhle, ein bergender Schoß, sondern auch ein bedrohliches, verschlingendes Element:

Angst, grünes Dunkel, das Gurgeln eines Ertrinkenden; aus dem Sternenweiher zieht der Fischer einen großen, schwarzen Fisch, Antlitz voll Grausamkeit und Irrsinn.

Das Bild des Fischzuges hatten wir als symbolische Darstellung einer Geburtsphantasie begriffen; unmittelbar daneben steht nun dieses Bild der Todesangst, des Ertrinkens. Die archaische Mutter hat hier bedrohlichen Charakter: sie droht das Selbst zu verschlingen, zu vernichten. Mit dem poetischen Symbol konkurriert das psychopathologische Symptom: Trakls biographisch verbürgte Klaustrophobie, seine Angst, lebendig begraben zu werden, ist die Kehrseite seines primärnarzißtischen Wunsches, in den Schoß der Mutter zurückzukehren.
Wie das Wasser, so fungiert bei Trakl auch immer wieder die Nacht als archaische Mutterrepräsentanz. Im frühen „Gesang zur Nacht“ schreibt der Dichter:

Du bist in tiefer Mitternacht
Ein Unempfangner in süßem Schoß,
Und nie gewesen, wesenlos!
Du bist in tiefer Mitternacht.

„Nacht“ ist das in Trakls Werk am häufigsten begegnende Substantiv; dieser Kultus des Dunklen ist zwar von Novalis deutlich beeinflußt („Hinunter in der Erde Schoß / Weg aus des Lichtes Reichen…“), aus den romantischen Einflüssen jedoch nicht mechanisch abzuleiten: Rezeption ist nicht passive Aufnahme, sondern aktiver Zugriff auf Tradiertes, eine Aneignung vom Fremdem, in dem Eigenes gestaltet erscheint. Die Wirkung des Novalis auf Trakl beruht auf einer Verwandtschaft psychischer Disposition. Wurde nun in der eben zitierten Strophe Trakls die Nacht als ein bergender Schoß vorgestellt, so hat sie andererseits auch einen bedrohlichen, verschlingenden Charakter:

Rote Gesichter verschlang die Nacht,
An härener Mauer
Tastet ein kindlich Gerippe im Schatten
Des Trunkenen…

Der abweisenden Mutter, die einmal mehr in einer „Mauer“ sich verbirgt, steht als archaische Mutterrepräsentanz die „Nacht“ gegenüber, allerdings nicht als ein umfangender Schoß, sondern als ein verschlingender Mund: der Verschmelzungswunsch hat sich verkehrt in Vernichtungsangst. Als verschlingende Mutter präsentiert sich die Nacht auch in den folgenden Zeilen:

O ihr zerbrochenen Augen in schwarzen Mündern

Dunkle Deutung des Wassers: zerbrochene Stirne im Munde der Nacht
Seufzend in schwarzem Kissen des Knaben bläulicher Schatten

Nacht: ein Schiff stürzt mit zerbrochenen Masten ins Dunkel

In den letzten beiden Beispielen wird die Bedeutungsverwandtschaft von „Nacht“ und „Wasser“ sinnfällig – die paradigmatische Beziehung der Signifikanten erscheint als syntagmatische. Deutlich wird auch, daß der Vorstellung vom Verschlungenwerden eine andere entspricht: die Vorstellung vom Zerbrechen, der Zerstückelung, der Fragmentierung des Selbst.
An dieser Stelle ist ein Rückblick geboten auf die schon eingehend analysierte Szene im Gedicht „An die Verstummten“:

Licht mit magnetischer Geißel die steinerne Nacht verdrängt.

Als eine symbolisch gestaltete Aggressionsphantasie und zugleich als ein Bild libidinösen Begehrens haben wir diese Zeile verstanden, als eine ambivalente Beziehungsfigur zwischen Selbst und mütterlichem Objekt. Nun greift aber das Kind die begehrte Mutter nicht nur an – sie wird, genauer, mit der Peitsche „verdrängt“, ausgetrieben wie eine bedrohliche, dämonische Gestalt. In diesem sadistischen Angriff auf die Mutter wird also ein defensives Element spürbar, ein Bemühen des Selbst, sich vor einer Gefahr zu schützen. Das heißt: als symbolische Mutterrepräsentanz trägt die „steinerne Nacht“ nicht nur die Züge des abweisenden, damit Aggression weckenden Objekts, sie läßt vielmehr auch selbst aggressive, gefährliche Züge erkennen – sie gewinnt so die Konturen der archaischen verschlingenden Mutter. Diese Nacht könnte „hereinbrechen“ und das Selbst vernichten, das Licht auslöschen. „Die Schatten der Nacht fielen steinern auf ihn“, schreibt Trakl im Prosagedicht „Traum und Umnachtung“. Noch eindrucksvoller ist diese Szene gestaltet in den Entwürfen zu „Offenbarung und Untergang“:

… die Schatten der Ulmen fielen auf mich, das blaue Lachen des Quells und die steinerne Nacht. Hexenhaar umflatterte mein Haupt, sinkende Nähe nachtete um mich…

Mütterliche Gewalten brechen hier über das Selbst herein: Mutter Natur („Ulmen“), das Wasser, die Nacht. Die begehrte Madonna hat sich verwandelt in eine bedrohliche Hexe, die blaue Höhle der Kindheit in ein finsteres Grab:

… in steinerner Hölle mein Antlitz erstarb

Bei der Überarbeitung dieser Passage übernimmt nun das von der Mutterimago bedrohte Selbst seinerseits eine aggressive Rolle, die Rolle eines sadistischen Blaubart, eines Jägers:

Schwarze Kühle der Nacht, da ich ein wilder Jäger aufjagte ein schneeiges Wild, in steinerner Hölle mein Antlitz erstarb.

Die lange Reihe femininer Objekte, die im Rahmen der sadistischen Szenen Trakls die Rolle des Opfers, des „Wildes“, übernehmen, wird angeführt von der Gestalt der Mutter; das erste Opfer des Blaubart trägt ja in der Tat den mütterlichen Namen Maria. Die Schwester, in der die Forschung bislang das Vorbild des „Wildes“ sah, erweist sich als die Erbin einer Rolle, die ursprünglich der Mutter zugeschrieben ist. Die sadistische Phantasie richtet sich auf das mütterliche Objekt, und sie hat eine starke defensive Komponente: der Blaubart, der das Wild erlegt, sucht dadurch archaische Ängste abzuwehren, sich zu schützen vor einer bedrohlichen Mutterimago, vor einer „nächtigen Gestalt“ mit „Hexenhaar“ und Eulenaugen. „Bläulich schwirrt der Nacht Gefieder“, schreibt Trakl in einem Gedicht, und in einem handschriftlichen Entwurf setzt er den „Schatten der Mutter“ in Beziehung einerseits zum „Schatten der Eule“, andererseits zu dem „Schatten einer Hirschkuh“. Verkörpert die Eule die bedrohliche Mutterimago, so rückt die Mutter als „Hirschkuh“ in die Rolle des Wildes, das vom Jäger bedroht wird, sie wird zum Objekt einer sadistischen Phantasie:

Leise erstarrt am Saum des Waldes der Schrei der Hirschkuh…

Die Logik der Varianten „Mutter/Eule/Hirschkuh“ erhellt sich ebenso aus der Psychodynamik des sadistischen Wunsches, wie die Logik der Sätze, die im Dramenfragment die Blaubart-Gestalt Kermor spricht:

Wo bin ich. Einbrech ich in süßen Schlummer, umflattert mich silbernes Hexenhaar! Fremde Nähe nachtet um mich.

Zwei Szenen, die psychologisch aufs Engste zusammenhängen, wurden hier „zusammengeschmiedet“, eine Szene sadistischen Musters (das Selbst greift das feminine Objekt an) und eine Szene der Verschmelzungsangst (das Selbst wird verschlungen von einem archaischen mütterlichen Objekt). In der sadistischen Phantasie (oder Aktion) geht es um die Abwehr archaischer Verschmelzungsängste.
Die Angst, die sich in den Bildern des Verschlungenwerdens vom Wasser oder der Nacht szenisch artikuliert, und die in der sadistischen Beziehungsfigur abgewehrt werden soll, hat psychotischen Charakter. Es ist eine Angst vor dem Wahnsinn, eine Angst vor der „Umnachtung“ oder dem Ertrinken:

Der Wahnsinn, der den sanften Menschen faßt.
Die alten Wasser gurgeln ein blaues Lachen.

Ein solches Gefühl, zu ertrinken, tritt in akuten psychotischen Zuständen häufig auf. Der primärnarzißtische Wunsch provoziert Vernichtungsangst, eine Angst, die auch als Angst vor dem Selbstverlust, vor der Fragmentierung des Selbst, sich äußert, wie in den folgenden Zeilen:

Und manchmal öffnet sich ein dunkler Schacht.
(…)
Und ein Antlitz zerfällt in schwarzer Nacht.

Noch eindringlicher kommt diese psychotische Angst vor dem Verschlungenwerden und dem Verlust des Selbst zum Ausdruck in einer Passage des Prosagedichts „Offenbarung und Untergang“:

Aber da ich den Felsenpfad hinabstieg, ergriff mich der Wahnsinn und ich schrie laut in der Nacht; und da ich mit silbernen Fingern mich über die schweigenden Wasser bog, sah ich daß mich mein Antlitz verlassen. Und die weiße Stimme sprach zu mir: Töte dich!

Wie zuvor der Knabe Sebastian, enttäuscht von der Mutter mit der „frierenden Hand“, so steigt hier das lyrische Ich hinab zum Wasser, hinab in die Nacht. Der Regressionswunsch verkehrt sich jedoch unversehens in Todesangst, in eine Angst vor dem Wahnsinn. Psychotische Angst aber – jeder Psychiater kennt solche Fälle – wird oftmals abgewehrt durch eine letzte verzweifelte Maßnahme: den Selbstmord.
Georg Trakl schrieb diese Zeilen im Mai 1914; sie nehmen symbolisch vorweg, was im Herbst des Jahres zur biographischen Realität wird. Ende August rückt Trakl als Medikamentenakzessist ins Feld; konfrontiert mit den Schrecken des Krieges, erleidet er wenige Wochen später einen psychischen Zusammenbruch und wird daraufhin zur Beobachtung seines Geisteszustandes in das Garnisonshospital Krakau eingewiesen, wo die Ärzte bei ihm eine Schizophrenie diagnostizieren. In der Krankenzelle des Spitals nimmt der Dichter sich am 3. November 1914 das Leben. Ein erschütterndes Bild des Schiffbruchs steht am Ende seines Lebens und seines Werks:

KLAGE

Schlaf und Tod, die düstern Adler
Umrauschen nachtlang dieses Haupt:
Des Menschen goldnes Bildnis
Verschlänge die eisige Woge
Der Ewigkeit. An schaurigen Riffen
Zerschellt der purpurne Leib
Und es klagt die dunkle Stimme
Über dem Meer.
Schwester stürmischer Schwermut
Sieh ein ängstlicher Kahn versinkt
Unter Sternen,
Dem schweigenden Antlitz der Nacht.

Ein Kreis schließt sich: schon als Kind mußte Trakl vor dem Ertrinken gerettet werden. Der primärnarzißtische Wunsch, der den Knaben zu den Fischen hinabsteigen ließ, ist die Kehrseite des Angstbildes, das Trakl im Gedicht „Klage“ entwirft, dieser Szene des Ertrinkens im Meer. Der Dichter, der seine regressiven Verschmelzungswünsche nicht zu zügeln vermochte, verfällt der Macht der archaischen bösen, der verschlingenden Mutter. Der Vorstellung vom Verschlungenwerden entspricht die Angst vor der Fragmentierung des Selbst:

An schaurigen Riffen zerschellt der purpurne Leib…

Ein anderes, nicht weniger bedrückendes Bild des Zerschellens bringt sich in Erinnerung:

Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe

Der hungrige, enttäuschte Knabe, dem wir zuerst begegnet sind in Gestalt eines verkrüppelten Baumes an schwarzer Mauer, erscheint im Gedicht „Abendland“ als eine „Gestalt / Geformt aus kristallenen Tränen“ und als „kristallne Woge / Hinsterbend an verfallner Mauer“; wiederum konfrontiert mit einer abweisenden Mauer (oder „steinernen Greisin“), träumt er sich in den „kühlen Schoß / Der Nacht“, doch hat dieser Wunschtraum katastrophale Folgen – am Ende des Gedichts steht ein Bild, das den Untergang des Knaben symbolisch in Szene setzt:

Bleiche Woge
Zerschellend am Strande der Nacht

Gleichermaßen steinern, repräsentieren „Mauer“, „Riff“ und der „Strand der Nacht“ im Rahmen dieser drei deutlich analogen Szenen das Objekt, an dem das Selbst zugrundegeht: die Mutter.
Eine Schizophrenie wurde bei Georg Trakl diagnostiziert. Die traditionelle Psychiatrie rechnet diese Krankheit zu den endogenen Psychosen, den Geistesstörungen mit unbekannter innerer Ursache – vermutet wird ein obskurer organischer Krankheitsprozeß, der das psychotische Syndrom setzt. Ein anderes Bild entwirft die Psychoanalyse von dieser Krankheit: die Tiefenhermeneutik erklärt die Psychose nicht aus physiologischen Ursachen, sondern versteht sie als Ausdruck und Folge gestörter Interaktionsformen, als Endresultat einer seelischen Bildungsgeschichte, die schon auf der Stufe der frühen Austauschprozesse zwischen Mutter und Kind gravierend beeinträchtigt war. Charakteristisch für die Schizophrenie sind also eben die Konflikte, die die Analyse der poetischen Sprachfiguren Trakls aufgedeckt hat: Konflikte des Selbst mit den mütterlichen Imagines. Die Krankheit, die das Leben und das Werk Trakls verdüstert, ist kein Morbus im Sinne der Medizin, sondern eine Störung der frühen Objektbeziehungen. Einem Verständnis dieser „Krankheit“ kommen wir näher, wenn wir uns bemühen, die seelische Bildungsgeschichte und die psychischen Probleme eines Kindes nachzuvollziehen, das vertrieben wurde aus dem „blauen Wasser“ und sich jetzt konfrontiert sieht mit einer „schwarzen Mauer“, einer Mutter, die ihm „versteinertes Brot“ reicht: ein solches Kind verstrickt sich in schwere Konflikte mit seinen mütterlichen Imagines, es ist beherrscht von Haßgefühlen, Strafbedürfnissen und gefährlichen regressiven Wünschen. Der Macht des Regressionswunsches entspricht der Druck psychotischer Angst; der Dichter, der die Imago der bösen verschlingenden Mutter nicht mehr abzuwehren vermag – und sei es durch einen Exorzißmus mit der Peitsche – präsentiert sich dem Arzt als psychotischer Patient. Wenn eine seelische Bildungsgeschichte, die so katastrophal begonnen hat mit einer verfehlten Synthese von Mutter und Kind, schließlich ihr Ende findet in der psychiatrischen Abteilung eines Garnissonsspitals, so macht es sich der Arzt doch wohl zu einfach, wenn er nur nach den physiologischen Ursachen dieser Katastrophe forscht. Die Fragen, die hier zu stellen sind, sind psychologischer und letztlich sozialer Natur – die Mutter, die ihr Kind den emotionalen Hungertod sterben läßt, ist ja doch auch ein Produkt ihrer eigenen verzerrten Sozialisation.
Zu einfach macht es sich aber andererseits auch der Literaturwissenschaftler, wenn er sich nur für die Weltanschauung des Dichters interessiert oder – im Gegenzug gegen solche traditionelle Praxis der Exegese – Trakls Gedichte zur absoluten Poesie erklärt und damit die Frage nach dem Sinngehalt der Texte als verfehlt abtut. Gerecht wird der Dichtung Trakls nur eine Interpretation, die der seelischen Not, die sich hier poetisch artikuliert, Aufmerksamkeit schenkt, eine Interpretation, die sich um ein Verständnis der Katastrophe bemüht, die sich in den oft so beklemmenden Sprachfiguren Trakls deutlich genug abzeichnet:

Silbern zerschellt an kahler Mauer ein kindlich Gerippe

Ein Interpret, der in solchen Zeilen nur kunstvolle Klangfiguren wahrnimmt, tritt dem Dichter selbst als eine abweisende Mauer gegenüber – ohne szenische Anteilnahme.
Die psychoanalytische Hermeneutik, die von der Literaturwissenschaft lange als Häresie bekämpft wurde, konnte ihre sinnerschließende Kraft an den Sprachfiguren Trakls hinlänglich unter Beweis stellen. So haben sich die eingangs vorgestellten drei Beispiele hermetischen Textes nicht nur individuell einem inhaltlichen Verständnis eröffnet, klar wurde auch der auf den ersten Blick kaum zu vermutende enge Sinnzusammenhang, in dem sie zueinander stehen. Der rasende Baum an der Mauer, die magnetische Geißel, das Lämpchen in feuchter Bläue: dem szenischen Verstehen gaben diese zunächst so kryptisch anmutenden Sprachfiguren einen überraschenden Sinngehalt preis. Auch die psychoanalytische Lektüre des Gedichts „An die Verstummten“ hat gezeigt, daß unter der Oberfläche des manifesten Textsinnes ein reicher latenter Gehalt sich verbirgt: Trakls poetische Scheltrede auf die „steinerne Stadt“ inszeniert zugleich ein komplexes Psychodrama. Die Aufdeckung des psychodramatischen Substrats in dem Gedicht eröffnete zugleich einen Einblick in das unbewußte Seelenleben des Dichters, in seine unbewußten Phantasien, seine Wünsche und Ängste – den Einblick in die psychische Problematik eines Dichters, den die Psychiatrie als Geisteskranken abgestempelt hat. Der Dichter Georg Trakl ist ein Patient, ein Leidender: woran er leidet, das sollte die psychoanalytische Erkundung seiner Gedichte wenigstens in Umrissen deutlich machen.

Gunther Kleefeld, aus Hans Weichselbaum (Hrsg.): Trakl-Forum 1987, Otto Müller Verlag, 1988

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