DER ENTTÄUSCHTE ERFINDER
Ihre Briefe sahen nicht aus
als wären sie um die halbe Erde
gereist, der Sonne
verbissen entgegen.
Wenn ich um zehn oder um zwei
die Klappe über dem Schlitz
fallen hörte:
plötzliches Verstummen in jedem Gespräch
Beiseitetretenmüssen
Schwindelgefühl.
Ws zog ich beinahe immer aus dem Umschlag:
seitenlange Ermahnungen hinsichtlich dessen
was sie
meine zermürbenden Spleens nannte.
So verging das Leben 1976 bis 1978
in restloser Abhängigkeit von ihren Launen
und der Willkür des Briefträgers.
„Wenn ich Gedichte schreibe, kann ich am genauesten denken, am tiefsten fühlen und über beides am freiesten sprechen. Oder am tiefsten denken, am freiesten fühlen, am genauesten sprechen“, notiert Guntram Vesper, der sich als Lyriker nach längerer Pause wieder zu Wort gemeldet und mit Die Illusion des Unglücks und Nordwestpassage zwei stark beachtete Gedichtbände veröffentlicht hat.
Vespers Gedichte, ihr eigenartigen Bilder und erstaunlichen Sätze, wirken ganz ungewöhnlich: vertraut und fremd zugleich, klar und doch voller Fragen, streng und genau und in der Anmut des Zögerns vor Antworten dann wieder sehr weit.
Die Texte „umkreisen, formulieren, schöpfen das Unglück als Grunderfahrung aus, und zwar kein abstraktes der Allerweltsweisheit, sondern das erlebte der Erinnerung und Gegenwart“ (Dominik Jost, Neue Zürcher Zeitung). Sie erzählen voll „Bekenntniszwang mit Kunstgewinn“ (Jochen Hieber, Süddeutsche Zeitung) vom Leid und vom Schmerz, vom Fiasko der Kindheit und vom Älterwerden, von der Vergangenheit unseres Landes und von „deutschen Deformationen“ (Yaak Karsunke, Frankfurter Rundschau), von Gewalttaten, Blutbädern, der scheintoten Provinz, vom gnadenlosen Alltag, von Eroberungsträumen und der Sehnsucht nach Liebe, vom Starren auf Bilder, in Bücher, die uns so viel bedeuten, „von der Unruhe des Kopfes“ (Peter Rühmkorf, Frankfurter Allgemeine Zeitung).
Kann eine zerfallende Welt noch erkannt, ein zerfließendes Leben festgehalten, eine verrottende Sprache neu gesprochen werden? Der Schmerz, das Unglück als Rettung, als Weg zu uns selbst? Welcher Sache darf, welcher soll man sich verschreiben, von der eigenen abgesehen? Lange balladeske Poeme und die trägen explosiven Stillleben der kürzeren Gedichte umkreisen diese Fragen in immer neuen Anläufen, versuchen in ihren Kern einzudringen, der wie ein kompliziertes Rätsel auf unsere Redlichkeit, auf Wahrheit und Schönheit erscheint.
Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, Oktober 1982
Setzt Gedichte schreiben voraus, anders und anderes zu sehen? Anders als wer, anderes als was? Anders als die Norm, anderes als das Genormte. Wenn nun Guntram Vesper (geboren 1941) auf die zweite Broschur seiner Gedichte den Titel Die Illusion des Unglücks setzt, deutet er beides an: Fixierung auf das Unglück und Entgrenzung des Unglücks in die Illusion hinein.
Nicht der Modus des Unglücks ist nämlich Illusion, der Dichter zittert vielmehr nach Betäubungsmitteln, „in unserem Alter große / Angelegenheiten, weil sie / die Wohltat der Verstümmelung / das Glück der Unterwerfung / die Illusion des Unglücks bedeuten“. Das Unglück stellt hier die Hauptmelodie des Lebens und des Dichtens.
Vespers neue Gedichte umkreisen, formulieren, schöpfen das Unglück als Grunderfahrung aus, und zwar kein abstraktes der Allerweltsweisheit, sondern das erlebte der Erinnerung und Gegenwart. Sein Unglück ist konkret und bedarf keiner Philosophie. Das Unglück kleidet sich in ein Kunstwerk, das Kunstwerk ist gefälliges Unglück:
Es gibt kein Kunstwerk, das nicht eine schöne
Lüge wäre. Wer selber schreibt,
weiß es am besten (Stendhal).
Die Gedichte der ersten Seiten holen denn auch Kindheitsangst und Knabentrauer zurück, mit plötzlichem Aufblitzen von Liebeskraft:
Erzähle mir niemals
niemals, wenn ich dir etwas bedeute
von einem verschwundenen Ring
oder von zerbrochenem Meissner Porzellan
ich würde
auf allen vieren kriechen
und mich unter die Möbel zwängen.
Doch den Eros haben erweist sich schon als Wurzelstock für neues Unglück. Denn: im Fiasko der Kindheit ist bereits das schlimmste Leben vorweggenommen. Der große Schmerz ist stumm. Entweder sieht man den andern von sehr weit oder viel zu nahe.
Überall Menschen
die etwas Totes
in sich verstecken.
Die Geschichtsbücher erzählen sadistische Träume. Schweigen schmerzt als ohrenbetäubende Stille. Ein Gesicht verdeckt das Massengrab totgeschlagener Wünsche. Heldentaten kommen aus Liebe zum Unglück.
Nicht über Randgeschehnisse also, sondern über die Grundsituation des Menschen machen Vespers Gedichte autobiographisch geschärfte Aussagen. Sie sind seiner Absicht gemäß nicht zu hören als Botschaft aus fremder Erfahrung, sondern als Wort der immer wieder verdrängten, verleugneten, übertönten allgemeinen und eigenen Wahrheit.
Diese kühle, unterkühlte Lyrik will ausschließlich nennen, sagen. Nie fällt sie in den Leser oder Hörer ein; das wäre unfair, unreinlich. Vespers klare, feste Stimme redet mit eigener Sprache. Er schützt sich nicht durch Vulgarität gegen erlebte Vulgarität rundum.
Dominik Jost, die horen, Heft 125, 1. Quartal 1982
(Unter dieser Überschrift auch einen Beitrag in Neue Zürcher Zeitung, 31.1.21980)
Hieße das Buch „Die Illusion des Glücks“, könnte der Titel bestimmt mit einem einverständnisvollen Kopfnicken rechnen, denn „Glück und Glas“, so macht sich schon der Volksmund seinen Reim auf haltlose Augentäuschungen, „wie leicht bricht das?!“. Trotzdem – kenne einer die täuschungsgierige Menschheit – haben selbstverständlich auch der Schmerz und die Schwermut und die bitternisvolle Entsagung ihre schillernden Schauseiten, anders wir unsere Helden nicht so herzlich gern scheitern sähen und literarische Trauerfälle wie Tragödien gar keinen Spielboden in unserer Seele fänden. Ein stromlinienförmig von Erfolg zu Erfolg voraneilender Erfinder und Entdecker, ein bruchlos zu Ruhm und Anerkennung kommender Dichter, Maler, Musikus scheinen beinah schon Widersprüche in sich, denn unsere höhere Heldenkunde bedarf notwendig eines dunklen Hintergrunds aus Leiden und Entbehrung, eine Rührmechanik, der wir uns anscheinend gar nicht entziehen können.
In solcher Hinsicht ließe sich Guntram Vespers Illusion des Unglücks mit dem attraktiven Feuerbachbild Medea auf der Flucht auf dem Cover durchaus als Traktat über sentimentalisches Mitempfinden bezeichnen. Was zur Debatte steht, beziehungsweise sich als Leitmotiv empfiehlt, ist die schier unbegreifliche Anziehungskraft des Elends auf unsere Partizipationsnerven – weiß der Himmel, warum es uns immer wieder zu solchen herzlichen und nie ganz ernst gemeinten Anteilnahmen drängt. Eine Zwischenbemerkung scheint freilich vonnöten – die Leser, die wir diesem Gedichtbuch dringend wünschen möchten, könnten sich sonst bald enttäuscht von ihm abwenden. Was sich bis hierher ganz plausibel anhört, entschlüsselt sich auch bei der wiederholten Lektüre weitaus schwieriger und – leider erst richtig – unter der Zuhilfenahme eines gleichzeitig und andernorts erschienenen Privatdrucks mit dem Titel Nordwestpassage. Warum der Autor uns diese unverzichtbare Entzifferungshilfe nur im nebenbei vergönnt hat, bleibt dabei schwer begreiflich, zumal sich Verbindungsfäden die Fülle entdecken lassen und eine in beiden Büchern vertretene Textpassage sogar einen direkten Übergang bahnt.
Das Versäumnis ein wenig wettzumachen, sei uns also verstattet, zunächst auf dieses nicht im Handel erhältliche Heft zu sprechen zu kommen und dem Erkenntnistransfer von einer Wahrnehmungsebene zur anderen – sprich vom Erkennen ziemlich banaler Dreckswahrheiten zu ihrer Verklärung ins Mythische – ein wenig zuzuarbeiten. Was Vesper in diesem Balladenzyklus exemplifiziert, ist nämlich zunächst nichts anderes als die Vergeblichkeit, ja Nichtigkeit unserer kühnsten Entdeckermühen und Eroberungsphantasien. Am Beispiel des leidensvollen Kampfes um eine schiffbare Polarroute führt er uns die Helden eines Jahrhunderte währenden Abenteurerzuges noch einmal einzeln vor Augen, ihre phantastischen Träume und ihre namenlosen Niederlagen, und was bleibt – als eine gewissermaßen idealische Hinterlassenschaft –, ist eigentlich nur ein absolut demotivierender Vanitasschauder. „Franklins Mannschaft“ zum Beispiel (Vesper spricht von dem englischen Polarforscher John Franklin) verkommt am Ende im undurchdringlichen Packeis, „halb totgeschlagenen Robben ähnlich“, die „kraftlos am Besatz der Pelzmäntel kauten“ – ein Bild von infernalischer Frostigkeit und kaum der Stoff, aus dem die Träume sind. Auch das Expeditionskorps des Kapitäns De Long – auf den Spuren Franklins nach dessen sterblichen Überresten forschend – gerät nur wieder auf die gleiche Unheilsfährte mit der allenfalls dramaturgisch überraschenden Pointe am Schluß: De Long „verhungerte als letzter“. Folgt der schwedische Ballonpionier und Polarforscher Salomon Andrée mit ganz neuen technischen Mitteln und einer eigenen, bereits durch die Schule der Desillusion gegangenen Abenteurerphilosophie „Von allen Lügen wähle ich den Ruhm“), aber auch dieser Höhenflug gipfelt nur wieder in einem besonderen, heißt besonders grotesken Theatereffekt:
Auf Sachalin sahen Verbannte Andrées Ballon
zehn Jahre nach dem Verschwinden
als winzigen Punkt unbeweglich
zwischen Erde und Sternen stehen.
So also geht es weiter, Ballade für Ballade, Zug um Zug und Niederlage nach Niederlage, bis am allerletzten Schluß dann doch noch so etwas wie ein erbaulicher Sinn aufscheint: der Eispalast einer zeitgenössischen Arktisstation mit allem nur denkbaren technischen Komfort und Klimbim, allein, wo verliert sich schließlich unser erlöstes Aufatmen, beziehungsweise „Wo enden die Drähte? / Im Nichts“. Da rückt das eigene unbewegte Leben („Höchstens auf einer Harzreise einen Ausweis verloren“) ja beinah schon zu einem Bild von eisern behaupteter Selbstbescheidung auf und das stille Dasein eines „Privatgelehrten“ (so die öfter verzeichnete Berufsangabe Vespers) zu einer hieronimeischen Stillhaltevorstellung.
Beinah – denn so eindeutig beruhigt lesen sich die in Entsagung gefaßten Verse Guntram Vespers auch wieder nicht. Zwischen den mit stoischem Gleichmut verbuchten Abenteurerfährten glückloser Bahnbrecher und Entdecker und der Friedlosigkeit eines sich selbst Überlassenen Kopfes bestehen geheimnisvolle Durchlässe, Übergänge, „Passagen“, wenn man nicht überhaupt von Wesensverwandtschaft sprechen will.
Erst gegen Abend wache ich auf
nach tiefem Schlaf voller schwerer Bewegung
in einer verwüsteten Wohnung
in der jeder übervolle Aschenbecher
jedes Blatt auseinandergerissener Zeitungen
alle fremdgewordenen Kleidungsstücke mir
die Geschichte der Nordwestpassage als
ganz vertraut einflüstern
lauter Verwirrung, Gewalt
Unmut und das
Gurgeln des Alltags
der grausamen Gewohnheit:
ewiges Eis zwischen Felseninseln
der falsche Weg.
Wem das zu schwierig ist, dem hilft vielleicht der Hinweis, daß sich mancher Poet schon so tief ins Unglück gedichtet hat, daß er von seiner ständigen Begleiterin, der lieben „Frau Sorge“ nun gar nicht mehr lassen mag. Die Frage „Zu welcher Göttin betest du?“ wird von unterschiedlichen Dichtern ja immer sehr unterschiedlich beantwortet. Während der eine vielleicht an oberster Stelle die „Schönheit“ nennt, hält es ein anderer eher mit der „Wahrheit“, ein Dritter mit der „Freiheit“, und ein professioneller Melancholiker wie Vesper eben mit der „Tristitia“, die wird bei ihm ja gar nicht zum erstenmal besungen, obwohl selten vor ihm so schön und mit so viel systematischem Bedacht. Obwohl der verlockende Sog der „Nordwestpassage“ in der „Illusion des Unglücks“ mittlerweile Überwunden scheint, wird der aussichtslose Versuch von Gedicht zu Gedicht aufs neue gewagt („neue Gedichte decken / immer die alten zu“), bemerkenswerterweise in dramatisch bewegten Balladen. Worin sich der dumpfe Bewegungstrieb gerade noch zu fangen vermag, sind freilich keine gemeine irdischen Tröstungen und schon gar keine ungemeinen himmlischen, sondern so bedenkliche Kunstfiguren wie das Stilleben, die „nature morte“.
Ich meine, das kann man natürlich auch, und sollte es sogar, politisch lesen: ein dem Sog der Zeitströmungen lange genug ausgeliefert gewesener Autor hat mit anderen seinesgleichen versucht, dem Fortschritt Beine zu machen und eine gangbare Passage zur gesellschaftlichen Utopie zu finden, das erscheint ihm nun auf einmal als besonders verfängliche Sinnestäuschung. „In meiner hübschen Wohnung / einfach und sauber“, lesen wir in einem lakonisch bilanzierenden und gleichzeitig nostalgiekritischen Sinngedicht,
mit herrlichen Stichen geschmückt
die den Aufruhr als Heldenlied malen
versuche ich, die Freunde auf dem Foto
mit der Stimmung von 1972 zu sehen.
Alles
unerbittliche Liebhaber
des Wortes
vorwärts.
Erkaltete Zukunftsprospekte von Anno Dunnemals, dahin ist es also gekommen, obwohl sich das trauerumflorte Stimmungsbild, mit den Hoffnungen von gestern verglichen, natürlich schon ein bißchen bescheiden ausnimmt, Ob nur idyllisch oder eher auf eine selbstheroische Art zurückgenommen, das ist natürlich eine bleibende Gewissensfrage, und die Antwort wird immer davon abhängen, wem wir mehr vertrauen wollen: den guten alten Fiktionen von Aufbruch und Auflehnung oder dem furchtlos-ohnmächtigen Blick ins Auge der Medusa:
Wenn man nicht mehr
geradeaus lebt, bekommt alles ein neues
doppeltes Gesicht.
Damit berühren wir zum Schluß noch einmal den empfindlichsten Nerv der Vesperschen Leidens-Ästhetik. Wo unsere weit ausgreifenden Weltumsegler = Weltumwälzerphantasien sich im Rückblick schon nur noch wie ein perspektivischer Bluff ausnehmen, gewinnt die trügerische Ruhe des Stillebens fast den Anstrich einer neuen Glaubwürdigkeit. Zwar scheint es zunächst durchaus im Sinne dieses fanatischen Buches, schlechthin jede im Medium der Kunst geoffenbarte Wahrheit als Blendwerk zu betrachten, die vorgespiegelten Leidenswahrheiten von Kreuzabnahmen, Märtyrerszenen und dramatischen Schiffsuntergängen sowohl wie die scheinbar restlos geklärte Oberfläche einer „nature morte“. Wer uns indes mit einer an Besessenheit grenzenden Desillusionswut auch der Scheinbarkeit der eigenen künstlerischen Hervorbringungen versichert, der steht – so paradox es anmutet – am Ende völlig entsichert vor uns und gibt schon wieder Anlaß zu einer eigenen Verläßlichkeit. Zu einem Trugschluß fürs Leben taugen Vespers in voller Irritation zur Ruhe gekommenen Balladen ohnehin nicht recht. Wer genau genug hinblickt, liest ja aus jeder Zeile, jeder Strophe, jedem dichterischen Vergleich den immensen Kunstaufwand mit heraus, dessen es bedurfte, die Unruhe des Kopfes nur für einen Augenblick zu stillen. Aber er spürt auch die wirkliche und gar nicht mehr eingebildete Angst vor der Tatsachenwelt, die der Dichter manchmal nur mit wahrhaftigen Wahnsinnbildern von sich abhalten konnte.
Wort für Wort
ist es die Angst
vor der Macht gewesen.
Im Tod sich
an das Leben klammern, indem man
auf die Kolben
ihrer Gewehre beißt.
Peter Rühmkorf, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.3.1981
„Wie hältst Du’s mit der Solidarität?“ gilt immer noch als Gretchenfrage unter schreibenden Genossen. Bei Malkowski sagt das lyrische Ich:
Aber wie leben
mit der Sehnsucht nach einer Brüderlichkeit,
die erst
unter der Erde beginnt.
Bei Guntram Vesper:
Ich glaube
an den Menschen, wenn er
allein ist.
Das Vertrauen in die Mitmenschlichkeit ist offenbar beiden geschwunden.
Guntram Vesper schreibt von seiner Autobiographie her strenge Erzählgedichte, in denen die Verletzungen der Kindheit und die Ängste der Jahre erregt nachvibrieren.
„Ich habe Angst – nur von ihr kann ich reden“, schrieb er in seiner autobiographischen Prosa Nördlich der Liebe und südlich des Hasses. Der 1941 im sächsischen Frohburg Geborene kam bereits 1957 in die Bundesrepublik. Er lebt in Göttingen und in Steinheim am Vogelsberg.
Die Illusion des Unglücks ist nach 15 Jahren sein zweiter Gedichtband. Die Kritik hat den scheu zurückgezogen lebenden Autor nicht hofiert, die Leserschaft nicht rezipiert. Hat das mit der Mitteilung seiner traumatischen Lebensgeschichte zu tun? Mit einer lyrisch-erzählerischen Strenge, deren Subjektivität sich in kein Programm, deren melancholische Grundierung sich vor keinen politischen Karren spannen läßt! Dieser, an seinen Gefühlsgrund geheftete Pathetiker von der traurigen Gestalt, schreibt Gedichte als Bewältigung seiner Vergangenheit, „Verstehst du / mit welcher Mischung aus Genuß und Entsetzen / ich von jeher zu kämpfen habe“, sagt das lyrische Ich im argumentativ sich rechtfertigenden Erzählgedicht „Aus meinem Leben“. Vesper sieht in seinen Gedichten „die äußerste Möglichkeit der Selbstverwirklichung“. „Wenn ich Gedichte schreibe“, sagte er im Lyrik-Katalog Bundesrepublik, „kann ich am genauesten denken, am tiefsten fühlen und über beides am freiesten sprechen… O diese Wahnsinnsträume von unserer Kraft. Aber ohne die Träume wäre ich tot.“ Vespers Erzählgedichte sind zugleich Selbstgespräche und Beschwörungen der Angst; Versuche auch, einem verletzten, an Nichtbeachtung leidenden Ich Gestalt zu verleihen. Vesper arbeitet Augenblicke zu statuarischer Gestalt, Verletzungen des Ichs in Bildnisse des Schmerzensmannes. Indem er sein Leben erzählt, konversiert er mit Dichtern, mit Baudelaire und Rimbaud, Verlaine und Stendhal, mit Goethe und Lichtenberg, mit Balzac, Bürger und Börries von Münchhausen. Wie manche Ordensleute sich fortlaufend in Beziehung setzen zu Heiligen, stilisiert (und tröstet) sich das lyrische Ich durch Konversation mit den Dichtern. In diesen, formal dialogischen, real monologischen Selbststilisierungen steckt eine Gefahr: die Gefahr der rhetorischen Verschiebung und Erhöhung der eigenen Substanz.
Das siebenteilige Nachtgedicht „Der tiefe Schlaf“ will „die letzten Ungeheuerlichkeiten zu Papier bringen“ und „die Farben der Nazizeit / wie das funkelt / bis ans Ende aller Tage / in uns hinein und aus uns heraus“. Wenn es diesem lyrischen Sprecher gelingt, sich von Ressentiments zu befreien, könnte die Klage Traklsche Gestalt annehmen. Aber noch mischt sich das ichhafte Ich in die lyrische Kundgebung.
Paul Konrad Kurz, aus Paul Konrad Kurz: Zwischen Widerstand und Wohlstand. Zur Literatur der frühen 80er Jahre, Verlag Josef Knecht, 1986
Jochen Hieber: Bekenntniszwang mit Kunstgewinn
Süddeutsche Zeitung, 8. 10. 1980
Paul Kersten: Leise Gedichte im Sog der Angst
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 12. 10. 1980
Yaak Karsunke: Deutsche Deformationen
Frankfurter Rundschau, 6. 12. 1980
Heinz Ludwig Arnold: Vergewisserungsversuche
Frankfurter Hefte, Heft 2, 1981
Karl Krolow: Zeigen, was ist
Der Tagesspiegel, 14. 11. 1982
Harald Hartung: Dunkle Göttin Erinnerung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.5.2001
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