INNERE LANDSCHAFT MIT GRENZE
In der zitternden Luft hängen
Bauernkrieg, Verbrechen
des Adels und alles, was
später noch kam
lassen das Gras verdorren.
STOMPS IN GIESSEN
Es ist zwanzig Jahre her. Im Frühsommer dreiundsechzig machte ich den Versuch, in Gießen zu studieren. Wer die Stadt von damals kennt, weiß, daß der einzige erträgliche Ort das bis spät in die Nacht geöffnete Café Deibel hinter dem Theater war. Die ramponierten Möbel, die fleckigen braunen Tapeten, die löchrigen Lampenschirme stammten aus einer anderen Zeit und gehörten ihr weiter an, während das alte enge Gießen mit der Wohnung Büchners und dem Laboratorium Liebigs im Bombenkrieg beinahe restlos in Schutt und Asche gesunken war, nur der scheußliche Bahnhof blieb stehen.
Draußen wurde eine Stadt der späten fünfziger Jahre aus dem zitternden Boden gestampft, und das Deibel bot seinen Gästen alle Zeitungen der Welt, den Gießener Anzeiger gab es in fünf Exemplaren. Durch die dämmrigen Höhlen tappte ein betagter Ober in Schwarz und servierte das Leitungswasser umsonst. Ich glaube an den Menschen, wenn er allein ist. Mehr hörte man selten von ihm. Die passende Geschichte hatte er immer am Vortag erlebt.
Das Café war die Zufluchtsstätte von alternden Schauspielern, von ausgedienten alleingelassenen Kommunisten in der Wüste des Verbots, von Studenten ohne Stipendium und Wechsel und von vier, fünf Zeichenlehrern und Redakteuren, die an mehr gedacht hatten und dachten; Refugium, über dessen Schwelle das monotone Rasseln des Landes, der trostlose Anhauch der öden Provinz nicht kamen.
Nachmittags ruhten sich an den Tischen gleich neben dem Eingang Frauen aus den Dörfern des Umlands vor dem langen Weg zum Bahnhof aus. Die schweren Taschen und Netze mit den Kleidern und Schuhen für ein Jahr verstellten den Durchgang. Kopftücher, schrille Stimmen, dicke Kinder mit großen Augen. Manchmal saß auch ein Buchhändler da. Sein Laden lag gleich um die Ecke. Gehörte zu den Leuten, von denen man wenig weiß. Aber ein Namensvetter, Buchhändler wie er, war Teilnehmer an Weidigs und Büchners verschworenem Treffen auf der Badenburg über der Lahn gewesen. Das gab ihm Bedeutung.
Hin und wieder lud er Schriftsteller ein. Nach Gießen. Was das heißt, ahnt man erst, wenn man dort gelebt hat. Die Leseabende fanden im Café Deibel statt. Einmal wurde Victor Otto Stomps angekündigt.
Ich kam, um Stomps zuzuhören, am Abend mit dem Schienenbus vom Land, wo meine Eltern wohnten. Bis auf den Fahrer war der Wagen leer. Niemand wollte nach Gießen. Das Zittern des halbdunklen Fahrzeugs, das an jeder Haltestelle mit laufendem Motor stehenblieb.
Als ich die Halle des Bahnhofs durchquerte, fiel mir die Nacht vor sechs Jahren ein. Wir waren aus West-Berlin gekommen und mußten ins Lager am Stadtrand. Es war bis zum Morgen geschlossen. Von elf bis sieben saßen wir im Wartesaal, der große Koffer lag unter der Bank. Bleiche Gesichter von Vater, Mutter und Bruder. Fremder Boden. Zugluft. Schmutz.
Im ersten Stock des Cafés wartete der Buchhändler schon neben der Tür. Schnell, schnell. Im Raum Stille. An den kleinen runden Tischen ältere Frauen, fünf Studenten, ein Studienrat der besseren unsicheren Sorte und die drei alten Schauspieler, die frei hatten wie meist und mit ihren Kaffeetassen nach oben gekommen waren. Ganz hinten sah ich Stomps, auf dem Sofa. Gläser, Bücher, Hefte vor sich. Er schrieb auf ein Blatt. Dann stand er auf und guckte zum Eingang. Ein großer, leicht vornübergebeugter Mann. Längeres Haar als am Ort üblich. Machte auf mich einen alltäglichen Eindruck. Man konnte nicht erkennen, was für eine Art Leben er führte.
Ich meine, wir sollten jetzt anfangen, sagte der Buchhändler und schloß die Tür. Stomps las vor, aus Büchern, von Zetteln. Das war so oder so, ich sah den Zuhörern nichts an. Ihr Kommen, ihre Anwesenheit drückten schon das ganze Einverständnis, alle Zustimmung aus. Nachdem er das letzte Stück Papier weggelegt hatte, ging das Kaffeehausleben seinen nächtlichen Gang. Unter den schweren Schritten des Obers knarrten die Dielen, Gläser klirrten, man hörte das Klimpern von Münzen. Die Frauen brachen auf, Hüte wurden gerückt. Jemand blätterte in der Zeitung.
Ich dachte mir eine Frage aus. So kamen wir ins Gespräch. Er redete langsam, mit Pausen, mit Blicken in den Raum. Über die Eremiten-Presse, das kleine Haus in Stierstadt. Die neuen Autoren, die niemand kannte, interessierten ihn am meisten, sie verlegte er am liebsten. Jede Seite wurde mit der Hand gesetzt. Wenn das Material ausgegangen und kein Geld da war, suchten seine Helfer und er Reste und Abfälle zusammen.
Dann erzählte er von einem Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer aus dem Rheinland, der morgens halb fünf, als man sich gerade hingelegt hatte, vor der Baracke in Stierstadt aufgetreten war, ein dickes Bündel Verse unter dem Arm, und alle halben Stunden an den zugeklappten Fensterladen getrommelt hatte. Das war doch ein Beleg für die Macht der Poesie.
Ich mußte zum letzten Zug. Der Buchhändler führte seinen Gast in Richtung Laden. Vielleicht stand im Hinterzimmer ein Bett.
Am nächsten Tag schickte ich Gedichte nach Stierstadt. Ein Zettel mit vier handschriftlichen Zeilen kam zurück, sein Vorschlag, ein Buch zu machen. Im folgenden Herbst oder Winter hat er die Auswahl besorgt, es gibt einen Brief, in dem er die einzelnen Gedichte aufzählt und sie schon angeordnet hat.
Monate später borgte ich mir ein Auto. Das war im Frühjahr. Ein Sonntagvormittag, und die Straßen leer. Nur in der Auffahrt Gießen standen drei Studenten aus Norwegen mit großem Gepäck. Ich lud sie ein. Sie wollten in den Süden. Und du, fragten sie, wohin fährst du. Zu meinem Verleger.
Ich saß an seinem Matratzenlager. Er kroch immer tiefer unter die Decken. Das Raucherbein. Er sprach vom Krieg, von den ersten Jahren der Rabenpresse in Berlin, den Zugriffen der Nazis, von den Anfängen in Stierstadt. Die Gedichte hatte er viele Male gelesen. Notizen gab es nicht. Wir arbeiteten den ganzen Band durch. Alles, was er vorschlug, endete mit einem Fragezeichen. Der Zweiundzwanzigjährige, der neben ihm auf einer Kiste hockte, hörte das genau.
Als ich ging, nahm ich das Bild eines alten kranken Mannes, die Erinnerung an seine Freundlichkeit und die Last der versteckten Begeisterung mit. Fahrplan erschien im Herbst vierundsechzig als vierter Band der Reihe Paßgänge, wurde nicht besprochen und brachte Stomps nichts ein. Er hatte hundertfünfzig Exemplare gedruckt, irgendwo sind sie geblieben.
Das Café Deibel ist längst abgerissen. Der Buchhändler, vor Zeiten schon pleite gegangen, hat in Gießen die Frau und im Solling sich selber erschossen, seine Leiche zerfiel, bevor man die Reste im Unterholz fand.
Stomps war seit zehn Jahren tot.
Guntram Vespers neuer Gedichtband Frohburg, der hier in einer Originalausgabe vorgelegt wird, spiegelt die inneren und äußeren Stationen einer Kindheit und Jugend und verdichtet die Umbrüche und Vereisungen unserer jüngsten Vergangenheit.
In der Verschränkung des Besonderen mit dem Allgemeinen schließen sich die Gedichte zu einem Doppelbild des Gestern und Heute, zu einem poetischen Dokument von tiefenscharfer eindringlicher Wahrheit zusammen.
Sie sind 1984 und 1985 entstanden und stützen sich auf eine umfangreiche Sammlung von Notizen, Erinnerungen und Aufzeichnungen, an der Vesper seit Jahren arbeitet.
Drei Aufsätze des Autors bilden einen Kontext zu den Gedichten.
S. Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1985
Auf dem Weg in die Schule
durch Thälmannstraße
Schlossergasse, Hintergraben
im fernen Dröhnen aller
Aufmärsche und Umzüge nach
sah ich die Stadt wie
mich selber
halb ja und halb
nein.
Frohburg, eine Kleinstadt in Sachsen, Guntram Vespers Geburtsort, den er 1957, sechzehnjährig, verlassen hat, ist eine der Inseln im Landmeer (so auch der Titel seines vorletzten Gedichtbandes). Das Land als See, als gefährliche, undurchschaubare, bodenlose Lebensgegend, treibt Inseln des Gedächtnisses auf, fast schon im Vergessenen abgesunkene Eilande, die sich plötzlich über dem platten Untergrund des Daseins erheben. Doch:
Wir dürfen unser
Leben
nicht beschreiben, wie wir es
gelebt haben
sondern müssen es
so leben
wie wir es erzählen werden:
Mitleid
Trauer und Empörung.
Wenn ich dieses Gedicht mit dem Titel „Landmeer“ und nun auch Vespers neue Gedichte lese, denke ich auch an den Roman Die Inseln des Schweizers Rudolf Jakob Humm (in der Bibliothek Suhrkamp erschienen), der die Kindheit, die Erinnerung, das Geborgensein als Inseln beschreibt, Inseln der Wirklichkeit, die sich als phantastisch, Inseln der Phantasie, die sich als Wirklichkeiten im Gedächtnis auffinden lassen: halb so und halb so, „halb ja und halb nein“, wie Vesper sagt. Bei Humm heißt es:
Etwas in ihm erzählte. Es hatte angefangen zu erzählen, sich zutage zu erzählen … mit der Zeit wird es Insel
und Vesper sagt:
Das, was ich in Form stark stilisierter, verkürzter und verdichteter Geschichten erzähle, ist keine Widerspiegelung von Erlebnissen, sondern von Empfindungen.
Der Mensch als erzählendes und erzähltes Wesen wird zur Insel im Strom des Vergessens, und so muß immerzu wiederholt werden, daß dem historischen Bewußtsein ein erzählendes entgegengesetzt werden muß, wie Peter Bichsel es formuliert, der Geschichte müssen Geschichten folgen, ein erzähltes Leben sei ein sinnvolles Leben, eine friedliche Gesellschaft sei eine erzählende, keine historisierende Gesellschaft.
Guntram Vesper erzählt in Gedichten. In fest umrissenen Bildern, manchmal kurz, manchmal lang beleuchtet, holt er Bruchstücke aus seiner Erinnerung hervor und setzt sie zu kleinen Ganzheiten zusammen: Es sind Episoden der Wahrnehmung, in denen er sich seines frühen Lebens vergewissert, Kinderglück, Erwachsenengreuel, die Ratten aus den Abfallgruben, die Sommergesellschaft am Kaffeetisch und was alles daraus geworden ist oder hätte werden können.
Vater und Mutter, die Großeltern, die Leute aus der Nachbarschaft treten aus den kargen Zeilen hervor, momentlang, dann sind sie wieder unkenntlich geworden, „weit weg und sehr nahe“. Die Geschichte, die im Gedicht zu Geschichten wird, ist nicht mehr das breit analysierte Geschehen der Historiker: Guntram Vesper sagt vom Jahr zweiundfünfzig, „über Korea streute Ridgway die Pest aus“, und im November sechsundfünfzig hört er „das ungarische Krächzen“: Die genaue Metapher genügt, den historischen Moment zu fixieren.
Guntram Vespers Gedichte sind keine weltfernen poetischen Gebilde, der Dichter läßt mich als Leser nahe an sich heran, ich darf teilhaben an diesem Erinnerungsprozeß. Einige Gedichte sind handgeschrieben, das Kinderzimmer, die Schulmappe, das Klappmesser handgezeichnet, doch engen sie, in ihrer vergilbten Blässe, meine Phantasie nicht ein.
Jedes Wort, jeder Strich wirkt nach, wie die Marschtritte der Umzüge, von denen Vesper spricht; das eingangs zitierte Gedicht hat eine zweite Strophe:
Beim Einschlafen viele Jahre
das Zucken der Beine
und wenn ich aufwachte, ein
Stechen im Ohr.
Ludwig Harig, Die Zeit, 15.11.1985
Guntram Vesper, 1941 in der sächsischen Kleinstadt Frohburg geboren, kam 1957 über West-Berlin in die Bundesrepublik und veröffentlichte seit der Mitte der sechziger Jahre Lyrik und gelegentlich auch Prosa. Für seine Lyrik erhielt Vesper u.a. 1984 den Förderpreis Literatur des Berliner Kunstpreises und 1985 den Peter-Huchel-Preis. In seinem neuen Gedichtband Frohburg sind, auf vier Zyklen verteilt, dreiunddreißig Gedichte aus den Jahren 1984 und 1985 enthalten. Ferner finden sich in diesem Gedichtband einige Zeichnungen des Autors und im Anhang drei kurze Aufsätze, die einen Kontext zu den Gedichten bilden.
Mit ihren Erinnerungsbildern spiegeln diese Gedichte Vespers Kindheit und Jugend in Frohburg, jener Kleinstadt südlich von Leipzig, wobei die (Nach-)Kriegsjahre – „Umbruch und Vereisungen“ – den zeitlichen Horizont bilden. Vesper sei, wie er im Aufsatz „Über Frohburg“ beschreibt, unter Erwachsenen aufgewachsen, „die im Frühjahr dreiunddreißig die Nazis gewählt, die dann die ersten Zwangsmaßnahmen gegen die Juden für angebracht gehalten (…) hatten und denen es fünf Jahre später und für lange Zeit schwerfiel, den Hunger, die Häuser voller Flüchtlinge, die fremden Soldaten (…) als Folgen zu begreifen“. Im Hinblick auf ebendiese jüngste deutsche Vergangenheit, doch in erster Instanz nicht aufgrund eines Schuldgefühls – wie es z.B. Johannes Bobrowski als Motiv für sein Thema anführte –, ruft Vesper Erinnerungen wach und sucht auf Umwegen, den „Riß durch die Erinnerung“ in den Blick zu bekommen.
Nicht nur in der Enthüllung der für die jüngeren Generationen kaum verständlichen Haltung („Aus ihrer Niedertracht waren schnell / spannende oder späßige / Geschichten geworden / staunen sollte man, fragen / durfte man nicht“), nicht nur in der Spannung, die das Verschweigen gerade erzeugt, sondern gewissermaßen auch in der Erfahrung des Hier und des Heute ruft die Vergangenheit in die Gegenwart hinein, zum Beispiel alljährlich, wie das Gedicht „Das Knarren der Tore anfang November“ bezeugt:
Aus den Ulmen
hinter dem Judenhaus
klettert die Nacht
und legt sich
als Erinnerung
schwer vor die Tore
wir wissen und
haben gewußt.
Mit der Vergegenwärtigung und Befragung jener Vergangenheit, und zwar über die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend in Frohburg, ist die Thematik von Vespers Lyrik jedoch noch nicht gänzlich erfaßt. Denn diese Vielfalt von Empfindungen und Erinnerungen, die der Lyriker in seiner Rede zum Dank für den Peter-Huchel-Preis als „Heuwege und innere Landschaft“ bezeichnet, stiften ein „Bewußtsein der eigenen Unwiederholbarkeit und Einmaligkeit“. Sie geben dem Sprechen über öffentliche Zustände, wie Vesper sagt, „Berechtigung und Gewicht“. Die besonderen Erinnerungen thematisieren sozusagen zwischen den Zeilen gleichermaßen die jüngste Vergangenheit wie die zeitlose Frage nach dem Preis der Gerechtigkeit für alle, und zwar im Hinblick auf den einzelnen Menschen in seiner Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit.
Anders als man bei dieser Thematik vielleicht erwarten würde, gibt es in dieser Lyrik keineswegs Tendenzen zur Belehrung; es ist die (Art der) Wahrnehmung selbst, die den Ton angibt und für sich spricht. Der eher nüchterne Erzählstil erhält durch die einfachen, doch eindrucksvollen Bilder eine lyrische Komponente, die den Gedichten die innere Spannkraft und Eindringlichkeit verleiht. Kennzeichnend für diese wirklich lesenswerten neuen Gedichte ist eine zweite, in den letzten Verszeilen der meist drei- oder vierstrophigen Gedichte erfolgende Perspektivierung, mit der zuweilen ein pointierter Schluß verbunden ist, wie z.B. im vorletzten Gedicht des Bandes „Der letzte Winter“:
Ich sah die schäbigen Häuser von Streitwald
die verhungerte Krähe im zugefrorenen Graben
den Rauch am Abendhimmel und
erschrak
das habe ich
schon einmal erlebt
und die Wiederholung muß
reichen für alle Zeit
Paul Sars, Deutsche Bücher, Heft 4, 1985
Harald Hartung: Dunkle Göttin Erinnerung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.5.2001
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