LICHT IN DAS LEBEN
Der Ort irgendwo im Land, abseits und
allem augesetzt.
Eine Straße, ein Haus.
Halbleeres Zimmer im ersten Stock
mit vierzig Jahre alten Tapeten
die hohen nackten Fenster
gehen auf den Hof, dort
erzählen zwei Kinder bei Sonne und Regen
blutige Geschichten
die Nachmittage hindurch
in immer
dunkleren Farben.
Es ist Sommer und vormittags elf Uhr. Steinheim am Vogelsberg. Das Dorf ist noch still.
Was für ein Buch mag das sein, das mit solchen Worten anfängt? Und wie wird sie weitergehen, die Geschichte, wenn sich nichts ereignet, nichts sich ereignen darf an diesem 4. August des Jahres 1978, das die Ordnung stören, die Welt für einen Augenblick aus den Fugen geraten lassen könnte?
Wir sollten wissen, was um uns ist, was geschieht, wer wir sind, das vor allem. Daher ein Versuch. Das Festhalten an ihm. Daher der Versuch, seit vier Jahren immer wieder begonnen und immer wieder abgebrochen, einen Katalog von Stichworten aufzustellen, die ich mir auf Bahnfahrten, Spaziergängen, nachts im Bett überlegt habe, und meine dauernde Hoffnung, es könnten die Gedanken, Erinnerungen, Erlebnisse, Befürchtungen, Geschichten, die ich unter diesen Stichworten aufschreibe, schärfere Wiedergaben der Wirklichkeit werden. Wahr oder banal. Wahr und banal. Weder wahr noch banal. Wie ein Kaleidoskop eine annähernd unendliche Reihe verschiedener Bilder erzeugt, die aber aus immer gleichen Teilen bestehen und deshalb ähnlich sind, gehe ich in Gedanken mit den Wörtern meiner Liste um. Schreibfehler. Heimat Göttingen. Ich. Schubladen. Stadtrand. Novalis. Aus einer kleinen Stadt. Heimat und Fortschritt. Eine Wolfsjagd. Caruso. Das Dorf entlang. Reise in eine verhangene Landschaft voller Katastrophen. Eduard. Geräusche beim Entsichern der Pistolen. Weiße, schneeweiße Zimmer. Ein blinder Passagier steigt zu. Die Kette der tagtäglichen Luft- und Bodenkämpfe und die tödliche Ermüdung durch sie.
Eine rätselhafte Abfolge von Namen, Wörtern, Sätzen. Einige („Stadtrand“, „Ein blinder Passagier steigt zu“, „Eduard“, „Geräusche beim Entsichern der Pistolen“) finden sich im Inhaltsverzeichnis als Kapitelüberschriften, andere („Heimat Göttingen“ zum Beispiel) erklärt uns die Biographie des Autors, die meisten sind auf Anhieb nicht zu entschlüsseln. Ein Katalog von Stichworten, deren Bedeutung uns verschlossen bleibt, obwohl wir zu ahnen beginnen, daß in diese Notizen Partikel einer Lebensgeschichte zur Sprache kommen, Existenzsplitter gleichsam, die sich wie die Steine eines Mosaiks zu einem Bild zusammenfügen: zum Selbstporträt des Schriftstellers Guntram Vesper.
Wissen wollen, wer man ist. Es sagen wollen. Man muß weit ausholen. Das war der Impuls fürs Schreiben, von Anfang an. Vieles bleibt rätselhaft. Vieles vermute, errate, ergänze ich auf Verdacht, auf gut Glück. Wie nähert man sich der Wahrheit. Und wie beschreibe ich diese Annäherung und die Wirklichkeit selbst.
Koketterie ist das nicht. Wahrheit? Wie soll die zu ermitteln sein, wenn schon die Wirklichkeit solche Probleme macht, sich dem Zugriff entzieht, zurückweicht vor dem Versuch, sie dingfest zu machen, sie in Worte zu kleiden?
Das dauernde Bemühen um Zusammenhänge. Die nutzlose Kraftvergeudung. Wissen wollen, endgültig, woran man ist.
Eine nicht anders als verzweifelt zu nennende Anstrengung, sich Gewißheit zu verschaffen: Gewißheit über die eigene Person, die eigene Geschichte.
Die Träume muß man abschütteln. Das sagt man uns nicht, es wird uns auf wortlose Art beigebracht. Womit sich wehren. Mit unseren Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühlen, Wünschen. Wäre das möglich. Könnte man sie als Reste und Bruchstücke einer privaten und allgemeinen Geschichte verstehen. Der Versuch, sie nachzuerzählen und dabei die Lücken zu schließen, Stichworte für die neue Fassung unserer Berichte und Fabeln zu finden, das Kaleidoskop in Bewegung zu setzen.
Der Versuch also, die Vielzahl von Bildern, an die man sich zu erinnern vermag und in denen Erfahrungen, Gefühle, Wünsche sich widerspiegeln, zueinander in Beziehung zu setzen, so daß Zusammenhänge sichtbar werden, Gesetzmäßigkeiten, denen unterliegt, was landläufig Wirklichkeit genannt wird.
Die Widersprüche der Wirklichkeit, ihre Vielfalt. Das Zögern vor jedem Versuch einer Beschreibung. Auf der anderen Seite die einfachen Wahrheiten. Einfach und brutal wie diese Viertel, aus denen man nur in umgekehrter Richtung fliehen kann, ins neue, größere Auto und in die Wohnung, deren Tür man hinter sich verriegelt, in die Sitzecke, die mit den Tapeten gewechselt wird, vor den Fernseher. Oder in die Ehescheidung, die unerklärliche Depression, die rätselhafte Allergie. In das Nichtwissenwollen.
Ausnahmslos Sätze aus Vespers Buch Nördlich der Liebe und südlich des Hasses, das 1979 erschien und weder Roman noch Essay, weder ein Stück Poetologie noch ein Abschnitt aus der eigenen Lebensbeschreibung sein wollte – und gleichwohl dies alles auf eine faszinierende, eine erregende Weise miteinander zu verknüpfen verstand: eine Sammlung von Geschichten, die sich gegenseitig ergänzen und erklären, dann wieder in Frage stellen und in Zweifel ziehen, eine Galerie verwirrender und verstörender Bilder, eine Folge von Skizzen, denen zu entnehmen ist, welchen Anteil der Autor selber an seinen Erzählungen nimmt.
Vielleicht sind solche Geschichten, die offen beginnen und offen enden, sich aber eng erzählen lassen, und das, was ich über mich sage, Wohnsitz, Kindheit, Träume, Zustand der Ehe, Bilder des gleichen Kaleidoskops, das sich in meinem Kopf dreht. Wissen wollen, wer man ist. Es sagen wollen. Man muß weit ausholen.
Bald kennen wir seine Frau, die Lehrerin ist, seinen Sohn, die Schwiegereltern, die Verwandten, die Nachbarn, einige seiner Freunde. Bald wissen wir, daß er in Göttingen und (während der Schulferien) in Steinheim am Vogelsberg lebt, kennen wir seine Träume, wissen von seinen Ängsten. Und erschrecken – weil das auch unsere Träume, unsere Ängste sein könnten, Bilder aus unserer Kindheit, Szenen, die mit einem Mal wieder in der Erinnerung auftauchen und Unruhe stiften. Steinheim, der Ort, dem wir schon in Vespers frühen Gedichten („Fahrplan“, 1964) begegnen, ist der geheime Mittelpunkt in allen Büchern dieses Schriftstellers, nicht nur Kulisse, nicht bloß Staffage. In einer der schmalen und verwinkelten Gassen am südlichen Ortsausgang wohnt er im geräumigen Haus seiner Schwiegereltern, zurückgezogen auf dem flachen Land am Rande der Wetterau. Er braucht diese „Nebelwand vor dem Dorf“, gesteht er, diesen „riesengroßen Filter über den Wiesen“, der Briefe und Besucher, alles Bunte, Laute und Plötzliche von ihm fernhält. In einer solchen Umgebung ist er auch aufgewachsen, in der Nähe von Leipzig, in einem Flecken namens Frohburg, wo beide Urgroßväter und der Großvater mütterlicherseits Schmiede gewesen waren und der Vater eine Landarztpraxis unterhielt.
Die Eltern, die Verwandten lehnten die neuen Zeiten ab, die im östlichen Nachkriegsdeutschland auch Stalinismus hießen. Sie waren, als Angehörige des Bürgertums, nicht frei von Widersprüchen: Überlebenswille in einem verarmten Land auf der einen Seite, Unfähigkeit, die eigenen fortschrittlichen Gedanken mit dem in Verbindung zu bringen, was sich an Neuem entwickelte, auf der anderen. Der Vater las viel, um die zwölf dunkelsten Jahre deutscher Geschichte zu begreifen. Vesper, so schildert es sein Gedicht „Frohburg“, wuchs „zwischen Tübingen und Weimar“ auf, häufig von Träumen geplagt, die das Ende, den Untergang der Welt heraufbeschworen. Auch darauf kommt er in diesem Gedicht zu sprechen. Wie Steinheim ist auch Frohburg ein Fixpunkt seiner Biographie.
Die Stadt hat einen weiten rechteckigen Marktplatz, einen Kirchplatz hügelan, ein Schloß aus dem fünfzehnten Jahrhundert, einen Gutshof, der seit Anfang der fünfziger Jahre die ersten Anfänge einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft beherbergte, und eine Vorstadt ,Auf dem Wind‘. Mitten im Ort, zwischen Kirche und Schloß, beginnt eine Kette von zwölf Teichen, die sich bis zum nächsten Dorf nach Westen erstreckt. Der Bahnhof liegt eine halbe Stunde Fußmarsch außerhalb. An der Straße dorthin die zehn, zwölf besseren Einfamilienhäuser, die man Villen nannte. Rathaus, große Schule, Amtsgericht und Post mit Hotel stammen aus dem Anfang des Jahrhunderts, rote Ziegelbauten. Größter Betrieb seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ist eine Stoffdruckerei, einfach Fabrik genannt. Der verwinkelte Komplex erstreckt sich zwischen Marktplatz und Wyhra, dem Fluß, an dem die Stadt liegt.
Sechzehn Jahre hindurch ist Frohburg der Ort meiner ersten Erfahrungen gewesen, alle Wünsche, Träume, alle Rätsel und Ahnungen haben dort ihren Ausgang genommen. Bilder in engem Rahmen. Heute, da ich seit einem Jahr mich genau und immer genauer zu erinnern versuche, die Stadt in meiner Phantasie nach baue, merke ich, wie erstaunlich und wie schrecklich, wie voller Abgründe und Dunkelheit, wie voller Abenteuer diese abgeschlossene Welt in ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit gewesen ist. Beinahe in jedem Haus hat sich eine ungeheuerliche Geschichte ereignet. Wenn man sie untersucht und nach ihrer Bedeutung fragt, stellt sich sogleich die Verbindung zur allgemeinen Geschichte, zum Sozialen, Politischen, zum Draußen her. Schicksale, die Zeit und Alltag verschüttet haben. Ein literarischer Kosmos auch, den ich wahrscheinlich deshalb einigermaßen deutlich sehe, weil ein zeitlicher und räumlicher Abstand vorhanden ist. Leben neben Leben, Leben auf Leben hat sich ereignet, der Autor als Detektiv, als Archäologe. Mitleid, Trauer und Empörung. In Wirklichkeit sind es die eigenen Verstrickungen, die eigenen Erinnerungsverluste, denen man auf der Spur ist. Denn man sieht sich erst, wenn man den anderen sieht. Suche nach einem Bild vom Menschen. Das verlorengegangen ist oder das man nie gehabt hat und das man braucht.
So steht es in unveröffentlichten Aufzeichnungen, mit deren Hilfe der Schriftsteller Vesper sich seiner Vergangenheit, der Kindheit und Jugend in Frohburg vor allem, innezuwerden suchte. Was er in Frohburg aufgegeben hatte, als die Familie 1957 die DDR verließ, fand er in Steinheim wieder: eine Welt für sich, überschaubar und geheimnislos, die Vertrauen ausstrahlte und Geborgenheit verhieß. Vesper, 1941 geboren, war sechzehn, als er in die Bundesrepublik kam. Die Eltern schickten ihn auf ein Internat in Friedberg, in dem fast nur Kinder von DDR-Flüchtlingen untergebracht waren, für achtzig Mark im Monat. Für ihn eine „ganz, ganz schlimme Zeit“, ein „unsägliches Martyrium“, dem zwei seiner Mitschüler sich allein dadurch zu entziehen wußten, daß sie sich auf dem Dachboden der Anstalt erhängten.
Das Schülerheim, ein alter mürber Kasten, war als Kaserne gebaut worden, hatte lange als Lehrerseminar und im Zweiten Weltkrieg als Lazarett gedient, die weißgestrichenen eisernen Bettstellen, je zwei übereinander, und die Militärspinde stammten aus jener Zeit.
Ein Studienrat für Sport und Erdkunde, der beide Fächer oft in der Behauptung verband, er sei während des letzten Krieges mit seiner Einheit am weitesten, nämlich bis tief in die Kalmückensteppe südlich von Stalingrad, nach Osten vorgedrungen, herrschte mit Gebrüll und notfalls mit körperlicher Gewalt über die hundertzwanzig Schüler.
Wenn ich daran denke, erlebe ich den Abend wieder, an dem ich in die Anstalt eingeliefert wurde. Der Bruder und ich waren von Bekannten entfernter Bekannter, die uns am Bahnhof erwartet hatten, in ein Taxi gesetzt worden. Das Taxi fuhr durch einen engen Torweg und hielt vor der hohen schmiedeeisernen Gittertür. Es war schon dunkel, kalter Regen fiel. Durch das beschlagene Autofenster sah ich hinter dem Gitter den schwarzen Hof, in den Pfützen spiegelte sich das kalte weiße Licht der Kugellampen im Schülerheim, ich wünschte, das Taxi würde mich zurück nach Frohburg bringen.
In dieser Zeit hat er zu schreiben begonnen: Briefe und Tagebücher, später dann auch Gedichte und erzählende Prosa. Noch als Schüler hatte er V.O. Stomps kennengelernt, den Gründer der Eremiten-Presse.
Es ist zwanzig Jahre her. Im Frühsommer dreiundsechzig machte ich den Versuch, in Gießen zu studieren. Wer die Stadt von damals kennt, weiß, daß der einzige erträgliche Ort das bis spät in die Nacht geöffnete Café Deibel hinter dem Theater war. Die ramponierten Möbel, die fleckigen braunen Tapeten, die löchrigen Lampenschirme stammten aus einer anderen Zeit und gehörten ihr weiter an, während das alte enge Gießen mit der Wohnung Büchners und dem Laboratorium Liebigs im Bombenkrieg beinahe restlos in Schutt und Asche gesunken war, nur der scheußliche Bahnhof blieb stehen,
heißt es in einer von der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Porträtstudie. Das Café Deibel war die Zufluchtsstätte für alternde Künstler, Mitglieder der verbotenen kommunistischen Partei, Studenten und Zeitungsredakteure mit großen Plänen. Manchmal fanden dort Lesungen statt.
Einmal wurde Victor Otto Stomps angekündigt. Ich kam, um Stomps zuzuhören, am Abend mit dem Schienenbus vom Land, wo meine Eltern wohnten. Bis auf den Fahrer war der Wagen leer. Niemand wollte nach Gießen. Das Zittern des halbdunklen Fahrzeugs, das an jeder Haltestelle mit laufendem Motor stehenblieb.
Als ich die Halle des Bahnhofs durchquerte, fiel mir die Nacht vor sechs Jahren ein. Wir waren aus Westberlin gekommen und mußten ins Lager am Stadtrand. Es war bis zum Morgen geschlossen. Von elf bis sieben saßen wir im Wartesaal, der große Koffer lag unter der Bank. Bleiche Gesichter von Vater, Mutter und Bruder. Fremder Boden. Zugluft. Schmutz.
Stomps druckte 1964 das Bändchen Fahrplan, im Jahr darauf folgte im Verlag Sigbert Mohn ein weiteres, Gedichte überschrieben. Die Texte sind Teil einer umfangreichen Sammlung von lyrischen Versuchen aus der Zeit zwischen 1958 und 1963, die allesamt um das gleiche Thema kreisen: um die Teilung des Vaterlands, den Verlust der Heimat, die Anstrengung, im Westen endlich wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen.
Ich wähle den Weg über
ein mittleres Gebirge.
Zu den Zugvögeln sagt ich ja
Sonnenaufgänge
versäume ich,
der Weg läuft westwärts.
Feinde gibt es dort keine.
Leider
auch keine Freunde.
Die meisten Gedichte aus den ersten Jahren nach Verlassen der DDR waren (wie dieses, „Nach Westen“ betitelt) sanfte Klagen, mit denen ein literarisch ambitionierter Abiturient sich über ein widriges Schicksal und das Gefühl unendlich großer Verlassenheit hinwegzutrösten suchte. Die Furcht aber, von nun an ein Fremder im eigenen Land zu sein, ist niemals mehr von ihm gewichen.
Genaugenommen sehe ich das Dorf von außen, die Menschen vor allem. So, als würde ich abends von der Gasse aus durch die Fenster in die erleuchteten Stuben gucken. Vieles bleibt rätselhaft. Vieles vermute, errate, ergänze ich auf Verdacht, auf gut Glück. Wie nähert man sich der Wirklichkeit. Und wie beschreibe ich diese Annäherung und die Wirklichkeit selbst. Unablässig das Problem der Wahrheit. Ich gehe nahe heran, oder ich beschreibe, was in der Nähe liegt. Die Hintergasse. Hier habe ich unter dem Dach ein Zimmer gmz für mich, Bett, Stuhl, Tisch, eine Musiktruhe mit drei Platten, die ich immer wieder höre, immer wieder. Nur wenn es regnet, stelle ich den Plattenspieler ab. Aus der Dachrinne tropft Regenwasser auf das Hofpflaster, stundenlang. Wo ich lebe, wie ich lebe. Wer ich bin.
Es ist die gleiche Frage, die Vesper im Band Kriegerdenkmal ganz hinten, der 1970 seine frühe Prosa zusammenfaßte, einem armen Wurm in den Mund legt, das, als Zeugin vor Gericht, seine Lebensgeschichte zu Protokoll geben soll: „Wie ich zu der geworden bin, die ich bin.“ So lautet das Rätsel, das allen diesen geduckten und gedemütigten Gestalten, die dort die Szene bevölkern, im Kopf umgeht und das sie, allen Anstrengungen zum Trotz, selber nicht zu lösen vermögen. Ein Satz nur – und doch Stoff genug für zehn, für hundert Geschichten, Material für einen ganzen Roman und eine Fülle von Gedichten.
Wo wir leben, wie wir leben, wer wir sind – dies könnte ebenso das Motto der beiden Lyrikbände sein, die Guntram Vesper im Anschluß an seinen Roman Nördlich der Liebe und südlich des Hasses veröffentlicht hat, Die Illusion des Unglücks (1980) und Die Inseln im Landmeer (1982). Düstere Ahnungen sind es, die in uns aufsteigen, sobald wir das Familienalbum oder die alten Zeitungen aufschlagen, uns erzählen lassen, was früher war.
Jetzt erlebe ich die langen Abende der Kinderzeit
in den überfüllten Häusern von Frohburg wieder
wenn die Kälte gegen die
knackenden Scheiben drückte.
Man saß zu Hause
oder bei der Familie eines Freundes
um die Petroleumlampe in der Küche
still, sagte jemand, und
alle lauschten
lang anhaltende Rufe waren zu hören.
Es ertrinkt wieder einer im Fluß.
Dann wurde von Leuten erzählt, die
auf schreckliche Art
gestorben waren
durch scheuende Pferde, giftige Ofengase.
Manchmal fragte ich weiter.
Wieso, wurde gesagt
ist denn
noch mehr geschehen.
So „Das fremde Kind“ aus dem Band Die Inseln im Landmeer. Immer wieder sucht der Verfasser dieser Gedichte sich den Ort Frohburg ins Gedächtnis zurückzurufen, sich an die langen Abende der Kinderzeit zu erinnern, die Vergangenheit noch einmal lebendig werden zu lassen. Nicht aus Sentimentalität freilich, sondern weil es ihn drängt Fragen zu stellen nach dem Woher und Wohin, nach dem Wie und Warum.
Wenn ich Gedichte schreibe, hat er selber erklärt, kann ich am genauesten denken, am tiefsten fühlen und über beides am freiesten sprechen. Oder am tiefsten denken, am freiesten fühlen, am genauesten sprechen.
Denn Denken und Fühlen, das gehört zusammen, wo es darum zu tun ist, mit Hilfe der Sprache sich seiner selbst, der eigenen Lebensgeschichte, der niemals versiegenden Hoffnungen und Sehnsüchte wie der erlittenen Niederlagen und Enttäuschungen, zu vergewissern. Kein Zweifel, daß dies mitunter sehr private Gedichte sind, sehr persönliche Klagen und Bekenntnisse, die uns, die Leser, nicht nur betroffen, sondern auch ratlos machen: so viele Fragen – und nicht eine einzige Antwort, mit der wir uns auf Dauer zufriedengeben könnten.
Und dennoch ist es alles andere als Resignation, ist es nicht Hoffnungslosigkeit, nicht Verzweiflung, die aus Vespers Gedichten spricht. Wir werden, im Gegenteil, Zeugen des allerdings verzweifelt zu nennenden Versuchs, der lähmenden, der selbstmörderischen Resignation Widerstand zu leisten durch Räsonnement: der anhaltenden Trauer, der allgegenwärtigen Angst „das leise Rauschen zusammenhängender Gedanken“ entgegenzusetzen, wie im Band Die Illusion des Unglücks zu lesen steht, oder die Erfahrung von „Schönheit“, aus der sich, wenn sie nur von Dauer wäre, einen Augenblick lang so etwas wie Zuversicht schöpfen ließe. Das „schöne Wort“ vergeht vielleicht „in der Mitte eines rohen Satzes“, sagt der Lyriker Guntram Vesper. Aber es bannt die Angst, indem es sie benennt. Kein Zweifel, daß dieser Autor sich selber meint, wenn er, was häufig vorkommt, „ich“ sagt. Er spricht aus, was ihm Angst macht. Und er zeigt, wie aus Angst Kälte wird, aus einem persönlichen Gefühl ein Unbehagen, daß sehr viele Zeitgenossen mit ihm teilen.
Aus dem Fenster sehen
auf Dorfplatz, Schaukel
Gewalt vergangener Tage.
Unten
fünf Männer
Knüppel, Hunde, vermummte
Gesichter
vielleicht nur zur
Treibjagd
zur Treibjagd über dünnes Eis.
Dies ist eines seiner Gedichte aus letzter Zeit, „Neujahr in Schreyahn“. Vesper versteht die Angst anschaulich zu machen, indem er sie in Gedichte und in Geschichten kleidet, die spürbar werden lassen, „was Angst ist und wie sie entsteht. Wie schnell das geht. Wie unvermittelt sie aufkommt.“ So heißt es an einer Stelle des Buchs Nördlich der Liebe und südlich des Hasses. Wie Angst entsteht: das ist der thematische Hintergrund seiner Poesie, die Grundierung gleichsam, das atmosphärische Kolorit. Ein Blick aus dem Fenster reicht aus, in der idyllischen Kulisse die Alptraumlandschaft zu erkennen, die lebensgefährliche Bedrohung wahrzunehmen, die von dieser Szenerie ausgeht.
In einer von Tania Blixens nachgelassenen Erzählungen erklärt uns der Marionettenkünstler Pino Pizzuti: gewiß sei es ein großes Glück, die Dinge, die einem geschehen, in Geschichten verwandeln zu können. Es sei vielleicht sogar das einzig vollkommene Glück, das ein Mensch im Leben finden könne. Aber es sei gleichzeitig, und das werde dem Uneingeweihten unverständlich bleiben, ein Verlust und zugleich ein Fluch. Ein Verlust an Naivität gewiß. Denn zweifellos erscheint die Wirklichkeit in anderem Licht, wenn die Menschen, die Dinge zueinander in Beziehung gesetzt, in einen Zusammenhang gerückt werden sollen, der den Geschehnissen einen Sinn zu geben und noch den winzigsten Einzelheiten Bedeutung zu verleihen vermag. Der Blick aus dem Fenster, der nur einen schmalen Ausschnitt der Wirklichkeit erfaßt und auf Verdacht erraten und ergänzen muß, was ihm verborgen bleibt, ist dafür ein treffliches, in allen Büchern Guntram Vespers wiederkehrendes Bild.
Es ist Sommer und vormittags elf Uhr. Steinheim am Vogelsberg. Das Dorf ist noch still. Die Leute arbeiten in den Betrieben oder auf den Feldern, die Kinder sind in Schule und Kindergarten. Nur manchmal brüllt eine Kuh, kommt eine alte Frau in dunklem Kleid auf dem Weg zum Kaufmann die Gasse herunter.
Es ist der 4. August 1978, ein Tag wie alle anderen also. Nichts geschieht, das die Ordnung stören, die Welt auch nur für einen Augenblick aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Doch der Blick auf die Gasse, auf eine alte Frau in dunklem Kleid, ruft Erinnerungen wach, setzt das Kaleidoskop in Bewegung, „das sich in meinem Kopf dreht“, liefert Stichworte, aus denen die abenteuerlichsten, die furchtbarsten Geschichten sich entfalten.
Die Toteninsel. Ein neuer Anfall von Traurigkeit. Beim Blick durch ein zerbrochenes Fenster. Am Vorabend neuer Gewalttaten. Niemands Land. Der Schrei der Eule. Ein Stich ins Herz. Die längste Nacht und der kürzeste Tag.
So lauten einige der Gedichtüberschriften, der Stichworte aus dem Band Die Inseln im Landmeer. Jede für sich ein Schibboleth, Losung für einen Tag, an dessen Ende nichts als die Furcht vor dem nächsten steht.
„Der Autor als Detektiv, als Archäologe.“ So sieht, so versteht er sich selber. In einer poetologischen Randbemerkung („Über sich selber schreiben“) hat er hinzugefügt:
Aus tausend und abertausend Scherben entwickelt man, an den gängigen Parolen entlang, die immer gleiche Geschichte, deren Einfachheit und Klarheit alle Zuhörer besticht, obwohl sie Satz für Satz von der Wirklichkeit so weit wie von der Wahrheit entfernt ist. Am Ende, jetzt, bleibt die Wahl zwischen dem Eingeständnis des Irrtums oder der Lüge und vielleicht noch die Ahnung, daß jeder, der uns liest, doch nur hört, was er im Herzen trägt.
Habe ich mich deshalb der Einbildung, der Erinnerung, der Rekonstruktion, diesen rettenden Zufluchten, so restlos ausgeliefert, daß die Grenze zwischen ihnen und dem laufenden Tag zunehmend verschwimmt, daß ich in den Lebenden schon die Toten und in den Toten noch die Lebenden, im Gestern das Heute und im Heute das Gestern hartnäckig erkennen, den mörderischen Anteil nicht übersehen kann, der in jedem Kuß liegt, und die Liebkosung in jeder Quälerei. Über sich schreiben, sich dabei ergänzen. Letzter Versuch, der zu werden, der man hätte sein können.
Da ist sie wieder, die Frage, auf die es eine verbindliche, eine endgültige Antwort offenbar nicht geben kann:
Wo ich lebe, wie ich lebe. Wer ich bin.
Immer wieder wird sie gestellt – ein verzweifeltes Verlangen nach Wahrheit, nach einem Zusammenhang, einem Sinn.
Wenn man durch das Fenster guckt
liegt unser Landmeer draußen
dunkle Schollen, Fadenhorizont
Wölbung des weißgrauen Himmels
So die ersten vier Zeilen des Gedichts „Besuch in einer abgelegenen Druckerei“. Dieser Blick droht sich in der unermeßlichen Weite, der er sich mit einem Mal konfrontiert sieht, fast zu verlieren. Wie aber soll sonst zu entdecken sein, was der Schriftsteller Guntram Vesper Inseln im Landmeer nennt: utopische Orte, an denen für die Dauer utopischer Augenblicke zu erfahren ist, wie die Welt zu verstehen sei.
Franz Josef Görtz, Nachwort
Die Inseln im Landmeer, der jüngste Gedichtband Guntram Vespers, stand zwei Monate an der Spitze der vom Südwestfunk initiierten und von achtundzwanzig Kritikern aufgestellten Bestenliste.
„Inseln im Landmeer: das sind die aus Vespers Prosa und Lyrik vertrauten Orte: Frohburg, die Kindheitsgegend; Göttingen und das hessische Steinheim, wo Vesper heute lebt. Winkel und Welt, die in großen Synopsen zusammengeschlossen werden, das Spiel mit dem umgekehrten Fernrohr, die Kontraste von Nähe und Ferne sind mehr als ein Stilmittel, sind die Kennzeichnung einer inneren Geographie und geistigen Position“, schrieb Sybille Cramer. Und der Autor sagt über seine Gedichte:
Das, was ich in Form stark stilisierter, verkürzter und verdichteter Geschichten erzähle, ist keine Widerspiegelung meiner Erlebnisse, sondern meiner Empfindungen, von Mitleid, Trauer und Empörung etwa, ist eine Kette, ein Arrangement innerer Bilder, Literatur eben, Kunst vielleicht.
Das vorliegende Buch enthält neben den Texten der Originalausgabe achtzehn bisher unveröffentlichte Gedichte, Vespers neueste Arbeiten, die in Schreyahn entstanden sind und die sich auf die abgelegene Gegend zwischen Elbe, Grenze und Gorleben beziehen. Federzeichnungen des Autors, seine „Bemerkungen zum Schreiben von Gedichten“ und das umfangreiche biographische Nachwort des Literaturkritikers Franz Josef Görtz bilden eine wichtige Ergänzung des Bandes.
Fischer Taschenbuch Verlag, Klappentext, 1984
Zu den sprachstarken, noch zu wenig bekannten Lyrikern gehört Guntram Vesper. Sein Versband ist erweitert als Taschenbuch erschienen.
Vesper kam mit 16 Jahren in die Bundesrepublik. Die Eltern schickten ihn auf ein Internat in Friedberg, in dem fast nur Kinder von DDR-Flüchtlingen untergebracht waren. Räumlich ein alter Kasten, menschlich eine Qual. Damals (zwei Mitschüler erhängten sich) begann Vesper zu schreiben. Er hatte noch als Schüler V.O. Stomps, den Gründer der Eremitenpresse, kennengelernt. „Wissen wollen, wer man ist“, heißt Vespers Schreibimpuls. Dazu gehört der Imperativ „wir sollten wissen, was um uns ist“.
„Inseln auf dem Landmeer“, das sind die Orte, in denen Guntram Vesper lebte, lebt: Frohburg, die sächsische Heimat-Kleinstadt; Göttingen, wo seine Frau unterrichtet und die Familie während des Schuljahrs lebt; das Dorf Steinheim am Vogelsberg; das aus neun Höfen bestehende Rundlingsdorf Schreyahn im Landkreis Lychow-Dannenberg, wo Vesper sich ein Jahr aufhielt.
Vespers Gedichte beschreiben Orte, erzählen Geschichten, holen Erinnerungen in die Gegenwart. Sie ermutigen, dem „Selbstbetrug mit dem Glück“ zu entsagen. Sie fragen den erinnerungslosen Zeitgenossen:
Was
wird aus einem Land, wenn
sein Gedächtnis krank ist
und was bedeutet ein Mensch, der
keine
Erinnerung hat?
Vesper stellt sich unideologisch der strengen Wahrheit. Er entlarvt eine Nicaragua-Fahrerin, die vor Studenten Sätze von einer „gerechteren Ordnung“ raspelt, wo „Liebe und Tod ihre volle / Bedeutung wiedererlangen“. Im Gespräch mit dem Autor „drückte sie sich ganz anders aus“.
Die Entdeckung, daß dort wie hier
jeder
allein starb und das auch
wußte, war
ein schwerer Schlag für sie gewesen
Wie bei uns ist
alles auf den Kopf gestellt, man spricht
von der Liebe zum Volk mit Haß
und von Haß gegen die Feinde
mit Liebe.
Die letzte Versgruppe beschreibt Eindrücke vom Leben im Rundlingsdorf Schreyahn in Wachturmnähe zur DDR. „Die Bauern haben sich / aus der endgültig erschöpften Ebene / zurückgezogen, als wäre es / für immer“, beginnt das Gedicht „Dorfdeutschland“.
Der Autor berichtet, er habe seine Gedichte zwanzigmal und öfter geschrieben und verändert, bis das Gesagte seinem „inneren Sprechen immer näher“ gekommen sei. Er versteht seine Texte nicht als „Widerspiegelung von Erlebnissen, sondern von Empfindungen, von Mitleid, Trauer und Empörung“. Vesper gelingt es, seine ganze Person in Beziehung zu setzen zu dem Wahrgenommenen, Ausgedrückten. Wort und Empfindung erreichen jenen Grad von Wahrhaftigkeit, der Gedichten von Rang eignet. Nichts Wichtigtuerisches, Lärmendes findet man in diesen Gedichten. Sie sind frei von allen kurzschlüssig ideologischen Tendenzen. Diese Solidarität braucht keine politlyrische Beteuerung. Vespers Gedichte zeigen unauffällig eine deutsche Gegenwart, in der einer betroffen (ohne über Betroffenheit zu reden) seine Landgeschichte hüben und drüben erinnert, seine Lebensgeschichte aushält.
Paul Konrad Kurz, Bayerischer Rundfunk, 5.11.1984
Harald Hartung: Stich ins Herz
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. 2. 1983
Uwe Pörksen: Der normale Alltag und das Abnorme
Badische Zeitung, 24. 2. 1983
Dominik Jost: Substanz und Formkraft
Neue Zürcher Zeitung, 3. 3. 1983
Helmut Volpers: Was wir im Herzen tragen
Göttinger Tageblatt, 31. 3. 1983
Roderich Feldes: Vorübergehende Siege
Süddeutsche Zeitung, 23./24. 4. 1983
Hans Bertram Bock: Wollust und Trauer
Nürnberger Nachrichten, 20. 5. 1983
Roman Ritter: Im Dunkeln Funken schlagen
Deutsche Volkszeitung, 2. 6. 1983
Sibylle Cramer: Guntram Vespers lyrische Exkursionen
Aachener Nachrichten, 25. 6. 1983
Sibylle Cramer: „Inseln im Landmeer“
Frankfurter Rundschau, 19. 2. 1985
Paul Kersten: Gierige Hoffnung
Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 21. 8. 1983
Alice Frank: „Die Inseln im Landmeer“. Gespräch
die tageszeitung, 10. 12. 1983
Alexander von Bormann: Die Entwaffnung des Auges
Die Zeit, 5. 4. 1985
Harald Hartung: Dunkle Göttin Erinnerung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.5.2001
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