TAGEBUCH ANFANG FEBRUAR
Große Kälte seit Sonntag. So zersprang
heute nacht im Schlafzimmer
während ich las
die Zentralheizung unter dem geöffneten Fenster.
Ihr Aufschrei.
Was
wird aus einem Land, wenn
sein Gedächtnis krank ist
und was bedeutet ein Mensch, der
keine
Erinnerung hat.
Schlechte Zeiten in der Politik, so war am Ende der siebziger Jahre gelegentlich zu vernehmen, seien stets gute Zeiten für die Lyrik, enttäuschte Hoffnungen immer noch der beste Humus für die Poesie. Die Blütenträume allerdings, zu denen das eifrige Rascheln im Blattwerk Anlaß geben mochte, haben sich nicht erfüllt. Was da als Neue Subjektivität, als Neue Sensibilität von sich reden machte (Peter Rühmkorf hat es Neue Zimperlichkeit genannt), bezeichnete einen Typus von Gedichten, die von Anfang an die Köpfe hängen ließen: wachsbleiche Zwitter aus Trauerweide und Mimose.
Die Euphorie von 1968 nämlich war sehr bald in Resignation umgeschlagen, aufkeimende Zuversicht in anhaltende Trübsal, politisches Räsonnement in private Grübelei. Die Gedichte wurden wieder länger, der Ton gedämpfter, die Perspektive deutlich enger. Nach forschen Blicken auf die sogenannten Verhältnisse im Lande galt das Interesse der Lyriker nunmehr vor allem dem eigenen Spiegelbild, den Blessuren, die man „im Handgemenge“ (Jürgen Theobaldy) davongetragen hatte und von denen man, mit mehr oder weniger feierlicher Geste, Auskunft geben wollte.
So vielfältig im einzelnen die Themen (da bot der Alltag unerschöpflichen Vorrat), so einfältig die sprachliche und formale Ausstattung: schmucklose Prosa im Flattersatz, ohne Reim und Rhythmus zumeist, ein sanftes Parlando, ein einziger, mit vielen Worten künstlich in die Länge gezogener Seufzer, der sich, als Chorgesang, durchaus Gehör zu verschaffen wußte, in den Verlagen ebenso wie in den Feuilletons. Und rasch war ein Stichwort gefunden, das der Wende, dem Umschlag von politischer Hoffnung in private Enttäuschung noch eine zusätzliche Dimension abzugewinnen schien: Angstliteratur.
Merkwürdig, ein Name wird in diesem Zusammenhang fast nie genannt: der von Guntram Vesper. Daß er übersehen oder vergessen worden sei, wird niemand behaupten wollen, der die Rezensionen zu seinen Büchern gelesen hat. Schon in deren Überschriften heißt es: „Angstbuch“, „Angst, die einem immer vertrauter wird“, „Unter der Angstglocke“, „Angst in der Provinz“ oder „Leise Gedichte im Sog der Angst“. Hat nicht auch Vesper Mitte der sechziger Jahre mit politischen Gedichten angefangen, mit Agitprop-Poesie voller moralischer Entrüstung, voller Eifer und Zorn, voller Hoffnung auf die Machbarkeit der Utopie? Ist nicht auch er, als diese Hoffnung im Handumdrehen nicht zu erfüllen war, eine Zeitlang völlig verstummt? Und spricht nicht auch er, in seinen Gedichten wie in seiner Prosa, neuerdings immerfort nur von sich selber, seiner Ehe, seinem Kind, seinen Wünschen und Sehnsüchten, seinen Enttäuschungen und Niederlagen?
Kein Zweifel, Guntram Vesper meint sich selbst, wenn er, was häufig vorkommt, ich sagt. Und er nennt beim Namen, was ihm Angst macht. Er zeigt, wie aus Angst Kälte entsteht, aus einem persönlichen Gefühl ein Unbehagen, das sehr viele Zeitgenossen mit ihm teilen. Und dennoch ist er keiner von denen, die bloß vagen Unmut, eine allgemeine dumpfe Angst kultivieren, damit die Feder etwas zu kratzen hat. Denn nicht nur die Wahrheit, auch die Angst ist konkret, und Vesper sucht sie anschaulich zu machen, indem er sie in Geschichten kleidet, die erfahren lassen, „was Angst ist und wie sie entsteht. Wie schnell das geht. Wie unvermittelt sie aufkommt.“ So heißt es in einer seiner Erzählungen aus dem Band Nördlich der Liebe und südlich des Hasses (1979). Wie Angst entsteht: das ist der thematische Hintergrund seiner Poesie, die Grundierung gleichsam, das atmosphärische Kolorit. Von Resignation freilich, von schulterzuckender Trübsal, von Todessehnsucht und Katastrophenstimmung ist da nicht die Rede, für narzißtisches Selbstmitleid, ästhetisches Wohlgefallen am Inferno kein Platz. Wie Angst entsteht: das will anschaulich und konkret beschrieben sein – ohne alle Koketterie, ohne selbstsüchtige Larmoyanz.
Es ist Sommer und vormittags elf Uhr. Steinheim am Vogelsberg. Das Dorf ist noch still. Die Leute arbeiten in den Betrieben oder auf den Feldern, die Kinder sind in Schule und Kindergarten. Nur manchmal brüllt eine Kuh, kommt eine alte Frau in dunklem Kleid auf dem Weg zum Kaufmann die Gasse herunter.
So idyllisch, so unverfänglich fangen viele dieser Geschichten an. Doch fast alle enden sie tödlich, nehmen eine Wendung, mit der dann auf einmal, unerwartet und unvermittelt, das Furchtbare seinen Lauf nimmt und die Welt für Augenblicke aus den Angeln hebt: „Vielleicht“, sagt der Autor, „sind solche Geschichten, die offen beginnen und offen enden, sich aber eng erzählen lassen, und das, was ich über mich sage, Wohnsitz, Kindheit, Träume, Zustand der Ehe, Bilder des gleichen Kaleidoskops, das sich in meinem Kopf dreht. Wissen wollen, wer man ist. Es sagen wollen. Man muß weit ausholen.“ („Ein Vormittag auf dem Land“.)
Bald wissen wir, daß er in Göttingen („Stadtrand“) und in Steinheim am Vogelsberg lebt, kennen wir seine Träume, wissen von seinen Ängsten. Und erschrecken – weil das auch unsere Träume, unsere Ängste sein könnten, Bilder aus der eigenen Kindheit, Szenen der eigenen Ehe. Steinheim, der Ort, dem wir schon in Vespers frühen Gedichten begegnen, ist der geheime Mittelpunkt in allen Büchern dieses Schriftstellers, nicht nur Kulisse, nicht nur Staffage. In einer der schmalen Gassen am südlichen Ortsausgang wohnt er im Haus seiner Schwiegereltern, zurückgezogen auf dem flachen Land am Rande der Wetterau. Er braucht diese „Nebelwand vor dem Dorf“, diesen „riesengroßen Filter über den Wiesen“, der Briefe und Besucher, alles Bunte, Laute und Plötzliche von ihm fernhält. In einer solchen Umgebung ist er auch aufgewachsen, in einer Kleinstadt namens Frohburg, von der in Nördlich der Liebe und südlich des Hasses und in zahlreichen Gedichten die Rede ist. Der Ort hatte viereinhalbtausend Einwohner, Vespers Familie lebte seit mehreren Generationen dort. Die beiden Urgroßväter und der als Landsturmmann im Ersten Weltkrieg gefallene Großvater mütterlicherseits waren Schmiede, erst der zweite Großvater hatte es Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum Tierarzt gebracht. Vespers Vater war Landarzt.
Die Eltern, die Verwandten lehnten die neuen Zeiten ab, die im östlichen Nachkriegsdeutschland auch Stalinismus hießen. Sie waren, als Angehörige des Bürgertums, nicht frei von Widersprüchen: Überlebenswille in einem verarmten Land auf der einen Seite, Unfähigkeit, die eigenen fortschrittlichen Gedanken mit dem in Verbindung zu bringen, was sich an Neuem entwickelte, auf der anderen. Der Vater las viel, um die zwölf dunkelsten Jahre deutscher Geschichte zu begreifen. Vesper, so schildert es sein Gedicht „Frohburg“, wuchs „zwischen Tübingen und Weimar“ auf, häufig von Träumen geplagt, die das Ende, den Untergang der Welt heraufbeschworen. Auch darauf kommt er in diesem Gedicht zu sprechen. Von seinen Erlebnissen in den ersten sechzehn Lebensjahren und seinen Erinnerungen daran schreibt er oft. Sie sind ein wichtiges, ein zentrales Kapitel seiner Enträtselungs- und Lerngeschichte, in dem seine Ängste wie seine Hoffnungen ihren Ausgang nehmen.
Was er in Frohburg verlor, als die Familie 1957 die DDR verließ, fand er nach fünf Jahren der Beziehungslosigkeit im oberhessischen Dorf Steinheim wieder: „Winkel und Welt“ (Sibylle Cramer), Vertrautheit und Fremde, Ruhe und Spannung. Vorher hatte er in einem Schülerheim in Friedberg gelebt, in dem bis 1961 zunehmend Kinder von DDR-Flüchtlingen aufgenommen wurden, für achtzig Mark im Monat. Vesper nennt es heute eine „Entwürdigungsanstalt“. Zwei seiner Mitschüler glaubten, sich ihr nur dadurch entziehen zu können, daß sie sich auf dem Dachboden des Heims erhängten. In dieser Zeit hat er zu schreiben begonnen: eine Flut von Briefen zurück nach Frohburg, Tagebücher, später dann Gedichte und erzählende Prosa. Noch als Schüler hatte er V.O. Stomps kennengelernt, den Gründer der Eremiten-Presse, die 1964 unter dem Titel Fahrplan ein schmales Bändchen Lyrik von ihm druckte. Damals war er gerade dreiundzwanzig Jahre alt. Schon im Jahr darauf folgte ein weiteres (Gedichte überschrieben) im Sigbert Mohn Verlag. Thema dieser ersten poetischen Versuche waren vor allem und immer wieder die Teilung des Vaterlands, der Verlust der Heimat, die fast verzweifelt zu nennende Anstrengung des Autors, im Westen endlich Fuß zu fassen. Allesamt waren es sehr private Gedichte: sentimentale Klagen, mit denen ein literarisch ambitionierter (und durchaus nicht unbegabter) Abiturient sich über ein widriges Schicksal und das Gefühl unendlich großer Verlassenheit hinwegzutrösten suchte. Die Furcht, von nun an ein Fremder im eigenen Land zu sein, ist niemals von ihm gewichen, auch in Steinheim nicht. „Genaugenommen sehe ich das Dorf von außen, die Menschen vor allem“, gesteht er in einer seiner Geschichten.
Vieles bleibt rätselhaft. Vieles vermute, errate, ergänze ich auf Verdacht, auf gut Glück. Wie nähert man sich der Wirklichkeit. Und wie beschreibe ich diese Annäherung und die Wirklichkeit selbst. Unablässig das Problem der Wahrheit.
Unablässig auch die Frage:
Wo ich lebe, wie ich lebe. Wer ich bin.
Oder:
Wie ich zu der geworden bin, die ich bin.
(…)
„Wie ich zu der geworden bin, die ich bin“, das ist die gleiche Frage, die auch dem Erzähler der Geschichten aus Nördlich der Liebe und südlich des Hasses zu schaffen macht, die auch er immer wieder formuliert: „In welcher Welt wir leben. Was wir wollen. Wer wir sind.“ Drei Sätze und doch Stoff genug für zehn, für hundert, für unendlich viele Geschichten, Material für einen ganzen Roman und eine Fülle von Gedichten. Wo wir leben, wie wir leben, wer wir sind: dies könnte ebenso das Motto der beiden Gedichtbände sein, die Guntram Vesper zuletzt veröffentlicht hat, Die Illusion des Unglücks (1980) und Die Inseln im Landmeer (1982). „Das ist sie / die Welt, von der wir / so viel geredet haben“, sagt der Autor dieser Gedichte, lakonisch und ohne den mindesten Anflug von Pathos. Wie sie aussieht, diese Welt? Düstere Ahnungen sind es, die in uns aufsteigen, sobald wir einen Blick in die Geschichtsbücher werfen, den Schritt in ein Museum setzen, uns erzählen lassen, was früher war. Man lese nach, was in dem zuerst als Privatdruck publizierten Bändchen Nordwestpassage (1980) von John Franklin, dem Nordpolfahrer, oder von Umberto Nobile, dem Luftschiffer, der nordöstlich von Spitzbergen strandete, berichtet wird. Vor allem anderen ist es die Vergeblichkeit, die „Nichtigkeit unserer kühnsten Entdeckermühen und Eroberungsphantasien“ (Peter Rühmkorf), die dort in Gestalt tieftrauriger Balladen zu Wort kommt. Kein Zweifel, nicht nur die Geschichte der Feldherrn und Eroberer, auch die der Entdecker und Erfinder vermag uns das Fürchten zu lehren. Und was oft bedenkenlos und leichten Herzens als Fortschritt gepriesen wird, erweist sich häufig genug als Abenteuer mit tödlichem Ausgang und unabsehbaren Folgen für uns alle.
Durch die Bank
begannen
alle Träume so: in welchem Blut
soll ich waten.
Dies sind vier Verse aus einem Gedicht, das „Frohburg“ überschrieben ist und den Band Die Illusion des Unglücks einleitet. Frohburg ist die Chiffre für unbändigen Zorn und unendliche Trauer, für unerfüllte Hoffnungen, ein unstillbares Verlangen nach Glück und Geborgenheit, für die Seelennot, die immerwährenden Ängste, von denen das in Vespers Gedichten sehr leise und gleichwohl sehr vernehmlich sich artikulierende Ich sich umstellt sieht wie von einer Mauer, die bis an den Himmel reicht und ein Entrinnen unmöglich macht. Der elegische Grundton dieser Lyrik ist zunehmend kräftiger geworden, die Stimmung gedämpfter, das Gefühl von Trauer und Schmerz, von Angst und drohender Verzweiflung unaufdringlich, aber doch deutlich spürbar in den Vordergrund getreten. Die Erinnerungen sind nicht abzuschütteln, so wenig wie die bösen Tagträume, die düsteren Phantasien, denen sich ausliefert, wer die Geschichte der letzten hundert Jahre an sich vorüberziehen läßt. Da scheint zur Hoffnung wenig Anlaß und keine Aussicht auf irgendeinen Trost, ein Vergessen undenkbar.
Und dennoch sind diese Gedichte nicht resignativ, ist es nicht Hoffnungslosigkeit, nicht Verzweiflung, die aus Vespers Versen spricht. Sie geben Zeugnis von dem Versuch, der Resignation Widerstand zu leisten durch Räsonnement: der persönlichen Trauer, der allgegenwärtigen Angst „das leise Rauschen zusammenhängender Gedanken“ entgegenzusetzen (wie in einem Gedicht zu lesen steht) oder die Erfahrung von „Schönheit“, aus der sich, wenn sie nur von Dauer wäre, einen Augenblick lang Hoffnung schöpfen ließe. Das „schöne Wort“ vergeht vielleicht, „in der Mitte eines rohen Satzes“, so sagt Vesper selber. Aber es bannt die Angst, indem es sie benennt, nach ihren Gründen fragt. Guntram Vespers Arbeiten sind Vorstöße, Erkundungsversuche „landeinwärts“ – auf Dörfer und Städte, auf die Menschen und ihre Geschichten, auf uns selber zu.
Franz Josef Görtz, Nachwort
– Eine Lanze für Guntram Vesper. –
Daß es die Dichter sind, die das Bleibende stiften, ist eine Vorstellung, deren Hoffnungsgehalt nicht plausibler wird, weil sie von einem Dichter – Hölderlin – formuliert wurde. Nur ein kursorischer Blick in die Register alter Literaturgeschichten entlarvt, was von Hölderlins kühner These zu halten ist. Wie viele Namen, geschmückt mit Ruhm, Geltung und Überlebenszukunft – vergessen, verweht. Wie könnte das auch anders sein angesichts der jährlichen Flut neuer Bücher und Autoren, die den Hunger des Marktes kurzfristig sättigen. Und was heißt im übrigen schon „bleiben“?
Nehmen wir als Beispiel das Werk Guntram Vespers und schauen kurz in die diversen buchhändlerischen Bibliographien: In den Katalogen der Barsortimente zumindest – die für nur zu viele Buchhändler heutzutage als einzige Recherchequelle fungieren – taucht der Name nicht mehr auf. Dabei galt Vesper in den achtziger Jahren als einer der wichtigsten Lyriker deutscher Sprache, seine Bücher wurden als Taschenbuchausgaben aufgelegt, vom Feuilleton debattiert, mit Preisen bedacht und auch noch gut verkauft.
Warum es heute um Guntram Vesper stiller geworden ist, das gäbe eine ganz eigene Geschichte ab, die (auch) etwas zu tun hätte mit den Gepflogenheiten des Literaturbetriebs, etwa den fatalen Folgen medialer Schauläufe wie dem Bachmann-Preis in Klagenfurt. Zumal unter der Herrschaft des seinerzeitigen Zirkusdirektors Reich-Ranicki wurde am Wörthersee manchem dort auftretenden Autor das Wörtermachen rüde ausgetrieben.
Doch wäre in dieser Geschichte auch von den Defekten und Gefahren des Schriftstellerberufs zu handeln, wie es Vesper in seinem Text „Die Krankheit“, zu schreiben 1998 getan hat. Im stilleren Winkel des Betriebs zu arbeiten, als „Privatgelehrter“ – wie sich Vesper mitunter tituliert – seine eigenen Wege zu gehen, mag manche Kränkung aufwiegen und wirkliche dichterische Freiheit bedeuten. Stadtgänge , Reisen, das Stöbern in Antiquariaten, das tägliche kalligraphische Notieren (und in Tusche Illustrieren) von Beobachtungen – die Art, wie Guntram Vesper in Göttingen lebt und arbeitet, hat vordergründig etwas geradezu aufreizend Idyllisches, dem doch das Bedauern mitschwingt, daß es Mitte der achtziger Jahre einen Bruch in Vespers Werk gegeben hat.
Doch dieses Werk ist immer noch präsent. Wir müssen uns daran gewöhnen, daß es eine literarische Landschaft gibt, die vom Handel kaum noch oder gar nicht mehr wahrgenommen wird und dennoch belebt und lebendig ist. Daß es eine Form des Bleibens und der Öffentlichkeit gibt, die unabhängig von Verkaufsrankings und Stapelware existiert.
In dieser Landschaft führt das Werk Guntram Vespers ein nachhaltiges Dasein: Vesper veröffentlicht kontinuierlich kleine Bändchen in bibliophilen Pressedrucken, er ist unterwegs zu Lesungen oder Tagungen und gerät immer noch in den Fokus von Juroren, die seine Arbeit nach wie vor für preiswürdig halten. So erhielt Vesper zuletzt im Sommer 2006 eine Jahresgabe der Deutschen Schillerstiftung.
Das heißt: Hier hat jemand etwas geschaffen, das dem Gedächtnis der deutschen Literatur nicht verloren geht. Kaum eine Anthologie, die Lyrik der letzten Jahrzehnte sammelt, wagt es, ohne Vesper-Gedichte auszukommen, auch die jüngste Ausgabe des Ewigen Brunnens beispielsweise kann nicht ohne sie sprudeln.
Das deutet darauf hin, daß Guntram Vespers Gedichte eine besondere Qualität aufweisen, die ihnen das Schicksal wirklicher Verlorenheit und Vergessenheit erspart, wie es so vielen Kollegen und Kolleginnen vor allem der lyrikaffinen siebziger Jahre zuteil wurde. Es ist eine eigene, unverwechselbare Sprache, die höchst konzentriert von einem Themenreigen erzählt, dem der Stoff nicht ausgehen wird: den vielfältigen Formen der Gewalt und der Angst.
Frohburg in Sachsen, Friedberg in Hessen, Steinheim im Vogelsberg, schließlich Göttingen. Vier Orte, die nicht nur die Säulen der Biographie Guntram Vespers ausmachen, sondern auch seines Werkes. In Frohburg wurde er am 28. Mai 1941 als Sohn eines Landarztes geboren, in Friedberg ging er nach dem 1957 erfolgten Wechsel von der seinerzeitigen DDR in die seinerzeitige BRD aufs Internat; nach Göttingen kam er 1964, um Germanistik und Medizin zu studieren; hier lebt er seither.
Es sind allesamt Orte der Provinz, und daß sie in der literarischen Umsetzung einer gewissen Austauschbarkeit zu unterliegen scheinen, erklärt sich nicht so sehr mit dieser Provinzialität, sondern ihrem Modellcharakter.
Es gibt wenige Autoren, deren Werk derart bestimmend auf die Lebens-Orte, auf die Heimat, die eigene Vita, vor allem die Kindheit, fixiert ist wie das des Lyrikers, Erzählers, Hörspielautors und Essayisten Guntram Vesper. Das scheint auf den ersten Blick etwas Eingeschränktes, geradezu Manisches zu haben. Es gibt einen immer wiederkehrenden, wiedererkennbaren Tonfall, vor allem einen – nur auf den ersten Blick – kleinen, überschaubaren Kranz von Motiven.
Begründbar ist das mit Vespers Geschichte, die vom Verlust der Heimat bestimmt ist, von Entwurzelung und der Distanz auch zu den auf die Heimat folgenden Wohnorten (worin vermutlich eine Voraussetzung für die Beobachtungsgabe Vespers liegt).
Ein Verlust, der zu „Trauerarbeit“, nie jedoch sentimentaler Verklärung führt, sondern stets um Aufklärung bemüht ist.
„Ein professioneller Melancholiker“, wie Peter Rühmkorf meinte, ist Guntram Vesper mitnichten, dagegen steht schon sein Hang zur Lakonie und vor allem zum schwarzen Humor, der sich nicht nur im temperamentvoll sprudelnden Gespräch Bahn bricht, sondern auch in seinen Gedichten. Etwa „Frohburg I“, einem jener zahllosen die Familie beschreibenden:
nie sahen sie einen Jungen beim Baden
ohne vorherzusagen
daß er früher oder später
ertrinken würde
Den Eltern „das einzige Mittel gegen Verzweiflung“, „gaben sie mir die Angst weiter“ („Aus meinem Leben“):
DAS FREMDE KIND
Man saß zu Hause
oder bei der Familie eines Freundes
um die Petroleumlampe in der Küche
still, sagte jemand, und
alle lauschten
lang anhaltende Rufe waren zu hören.
Es ertrinkt wieder einer im Fluß.
Dann wurde von Leuten erzählt, die
auf schreckliche Art
gestorben waren.
Wessen Bewußtsein von einer derart anerzogenen „Mischung aus Genuß und Entsetzen“ gezeichnet wurde, ist prädestiniert für eine Angstsensibilität. Und wem bereits das Baden eine Bedrohung zu sein hat, der wird den Boden, auf dem er sich bewegt, nie als sichere Oberfläche akzeptieren. Der könnte jedoch stehenbleiben bei sattsam bekannten Nabelschauspiegeleien. Bei Vesper jedoch erwächst aus dem familiären Alltagsdrama eine Affinität zum Grundsätzlichen, gefüttert durch Lieblingslektüren wie den Pitaval oder Anselm von Feuerbachs Merkwürdige Verbrechen.
„Staunen sollte man, fragen / durfte man nicht“. Doch gerade jenes Verdikt aus dem Gedicht „Spur“ machte Vesper zum beharrlich, man könnte sagen: hauptberuflich Fragenden, der weiß, daß seine Familie und sein Schicksal nicht exklusiv sind. Denn die Straßen, durch die wir gehen, die Landschaften, die wir durchreisen, sind historischer Grund und Abgrund. Einem Archäologen gleich trägt Vesper in seinem Werk die Schichten dieser Historie ab, „Vergangenheitsscherben aus dem tiefen Innern des Landes“ („Im Landmeer“). Die Ablagerungen, auf die er allerorten stößt, erzählen gleichermaßen von dem einen großen Thema, der „Kette der Gewalt, die sich, eine andere Geschichte der Heimat, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße, von Ort zu Ort durch die Jahre, Jahrzehnte zieht“ („Laterna Magica“).
Das ist natürlich die Gewalt der großen Haupt- und Staatsaktionen. Vesper hat sie und ihre Folgen erfahren, als Kind der Nachkriegszeit und des beginnenden Kalten Kriegs, in dem die Erinnerungen an den Heißen allgegenwärtig waren – in den Erzählungen der Eltern und, in den Konsequenzen der deutschen Teilung, schließlich am eigenen Leibe.
Doch wäre es einfach, es dabei zu belassen, ist doch – so erfahren wir bei Vesper – Gewalt dem Leben inhärent. Gewalt in den Familien, zwischen Männern und Frauen, an Fremden. Die Banalität krimineller Gewalt. Wer darum weiß, dem wird der Boden schwankend. Wer beschreiben kann, schreibend nach den Bedingungen für das Entstehen von Verbrechen forscht, der kann vielleicht festen Grund erlangen.
Es ist der alte Glaube an die beschwörende Kraft der Poesie, zumindest aber die Hoffnung, durch Benennen bannen zu können, denn eine der größten Gefahren, von Macht und Gewalt vereinnahmt zu werden, besteht im Verlust von Identität: „Wer manches vergibt, wem manches aus dem Blick gerät, fällt vielem anheim“, schreibt Vesper in seinem bekanntesten Buch, dem als Roman titulierten hochkomplexen Prosamosaik Nördlich der Liebe und südlich des Hasses (1979). „Womit sich wehren. Mit unseren Erinnerungen, Erfahrungen, Gefühlen, Wünschen. Wäre das möglich“, fragt Vesper in Nördlich der Liebe – in der für ihn typischen, skrupulösen Weise, ohne Fragezeichen, als bedürfe es bereits großen Mutes, Fragen zu stellen.
Die Ahnung, das Wissen, daß der Zauber des Erzählens nicht (mehr) wirkt, macht den Moll-Ton der Vesperschen Texte aus, das Begreifen, daß sich unsere Gegenwart im Vergleich zu vorigen Jahrhunderten lediglich anderer Spielarten von Gewalt bedient, daß Fortschritt sich allenfalls auf die Raffinesse und Subtilität von Gewaltausübung erstreckt. Und eigentlich nicht einmal darauf. Letztlich geht es um letzte Fragen, die in Nördlich der Liebe auf den Punkt gebracht werden: „In welcher Welt wir leben. Was wir wollen. Wer wir sind.“
Deshalb ist beispielsweise die Frage, die sich Vesper angesichts der McDonaldisierung unserer Innenstädte stellt: Wem gehören unsere Städte? auch eine Grundfrage: Wem überlassen wir unseren Lebensraum, unser Leben? Und plötzlich sind die Unterschiede zwischen feudalistischen Abhängigkeitsverhältnissen und der Verdrängung alteingesessener Bewohnerschichten in modernen Citys fast nur noch graduell. Die Beklommenheit, die daraus entsteht, wird spüren, wer durch von Vesper beschriebene sächsische und niedersächsische Dörfer und Landschaften reist. Charakter und Atmosphäre haben sich kaum verändert, das hinter dem Wohlgeordneten, oberflächlich ruhig, ja anheimelnd Wirkenden lauernde Dumpfe ist geblieben.
Diese Erfahrung erzeugt keine narzißtische, vage, selbstmitleidige Angst, sondern eine wohlbegründete, konkrete, der man nur mit konkreten Beschreibungen zu Leibe rücken kann. Nüchtern protokollierend, wie im Prosaband Kriegerdenkmal ganz hinten von 1970, einem Kaleidoskop kurzer Geschichten von Mord und Totschlag, Aberglauben und Dumpfheit, fiktiver und realer Moritaten aus der Provinz, die programmatisch „Landleben“ oder „Eine blutige Geschichte“ überschrieben sind. Mit diesem Buch fand Vesper (nach einer heute anachronistisch anmutenden Agit-Prop-Phase der sechziger Jahre) zu seinem Ton, der ihm Mitte der Siebziger die Rückkehr zur Lyrik ermöglichte.
Es bleibt dennoch eminent politische Literatur, die jedoch über das Plakative hinausgeht. Ihre Zeitunabhängigkeit gewinnt sie aus dem Verwischen der Epochen und klar benennbaren Verhältnisse. Denn den Feudalismus zu analysieren, die NS-Herrschaft, die SED-Diktatur, den rüden Kapitalismus moderner Prägung ist keine Herausforderung. Die Einsicht aber, daß diese Spielarten von Herrschaft lediglich Nuancen ein und derselben menschlichen Grundhaltung sind, kann nur dazu führen, den einzelnen Akt von Barbarei, selbst einen längst vergoltenen, vergessenen, verdrängten Mord in einem kleinen Dorf, als immer noch bedrohlich zu empfinden. Bedrohung dadurch, „wie rasch und vollständig von den Mitlebenden die Erinnerung an die Gewalt verdrängt wird“, Bedrohung durch „das Zittern des Bodens im Untergrund, so daß die Gewalt jeden Moment hervorbrechen, Menschen töten oder in den Tod treiben kann“, wie Vesper in einem Interview erklärte.
Die Zeiten überlagern sich, die authentischen, (lokal-)geschichtlich belegbaren, von Vesper erlesenen, in Archiven, Zeitungen, Chroniken recherchierten Fakten verweben sich mit Träumen, Tagträumen, Sehnsüchten, Erinnerungen, mit eigener, vielleicht nur imaginierter Geschichte, denn:
Nicht die Region interessiert mich, sondern wie sie sich in mir, in uns bricht. Vielleicht sind wir die Regionen, jeder einzelne von uns.
Ob historisch beglaubigtes Personal, Kaspar Hauser etwa oder immer wieder thematisierte Kollegen wie Bürger oder Lichtenberg, ob namenlose Bewohner der Dörfer und Städte vergangener Jahrhunderte oder wir, „die heute lebenden Figuren“ – wir sind Verwandte in einer nicht endenden Prozession aus Täter- und Opferschaft.
Für Guntram Vespers Werk eine Lanze zu brechen, für seine Neulektüre und Neubewertung, gibt es kaum einen zwingenderen Zeitpunkt als den gegenwärtigen. Weil seine Frage „Was wird aus einem Land, wenn sein Gedächtnis krank ist“ („Tagebuch Anfang Februar“) dringlich ist und weil angesichts dessen, was sich hinter einem Schlagwort wie Globalisierung verbirgt, ein Verlust jener Heimat droht, von der Vesper erzählt: die exakt wahrgenommene, weder von Abwertung noch Verdrängung geklitterte Sozial-Geschichte und Identität der Orte, an denen wir leben, an ein und derselben Geschichte lebend und schreibend.
Es ist die Genauigkeit der Welt-Sicht, die Vespers Texten ihren Platz im Bewußtsein der deutschen Literatur sichert. „Der Vorgang ist einer des Gewissens; das zwingt er sich ab. Das Ergebnis ist Kunst; die zwingt er uns auf“, schrieb Fritz J. Raddatz. Diese Kunst ist im besten Sinne anachronistisch. Weil sie den Blick auf die Dunkelheiten unserer Lebenszusammenhänge erzwingt. Und weil sie einen konzentrierten, präzisen Leser fordert. Denn die Sprache selbst ist präzise („Je genauer ich im Detail bin, desto mehr gehört mir der Text“, sagt Vesper), Satz für Satz, sie ist skrupulös („Wie nähert man sich der Wirklichkeit. Und wie beschreibe ich diese Annäherung und die Wirklichkeit selbst. Unablässig das Problem der Wahrheit“, konstatiert Vesper in Nördlich der Liebe), penibel, zweifelnd, um (Selbst-)Vergewisserung bemüht, alles andere als eingängig, sie wagt es, sich die Anstrengung anmerken zu lassen, die sie hat entstehen lassen, „den immensen Kunstaufwand, dessen es bedurfte, die Unruhe des Kopfes nur für einen Augenblick zu stillen“ (Peter Rühmkorf).
Um diese Texte wird gerungen, in immer wieder neuen – manchmal bis zu vierzig – Fassungen und Variationen, in denen sich Lyrik und Prosa überlappen. So entsteht ein ganz singulärer, unverwechselbar verdichteter Klang, eine hohe Sprache, die dennoch „lesbar“ ist: Genuß, Schönheit, mitunter Pathos – nicht zuletzt in jenen Texten, in denen sich die Alp- zu Wunschträumen häuten, wie in Vespers vielleicht schönstem Gedicht „Die Leuchtfeuer auf dem Festland“:
Mein Traum das Seeleben, das Vorüberfliegen
der Schiffe auf dem ungeheuren Meer
Matrosen voll kindlicher Freude
an der Reling
Winken, Rufe
von Bord zu Bord, Fragen
nach dem Woher, Wohin
nach fernem Krieg und fernem Frieden.
In solcher Gesellschaft nichts wissen
immer zwischen den Kontinenten
an ihrem Saum
auf der Wellenlinie der Schönheit.
„Die Bücher schlafen“ heißt ein Gedicht Guntram Vespers. Seine sollten wir wecken.
Thomas Schaefer, die horen, Heft 224, 4. Quartal 2006
Harald Hartung: Dunkle Göttin Erinnerung
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.5.2001
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