ZUEIGNUNG
lerne was,
so hast du was
kauf dir drum
ein tintenfaß,
füll die feder
dann darin,
nimm papier,
schärf deinen sinn.
schreibe nicht
ein licht gedicht,
weiß schreibt nur
der böse wicht.
krauchen solls
durch blut und bein
bis ins herzens
kämmerlein.
Wenn ein gewisser h.c. artmann seine Gedichte als „neue schöne kinderreime“ untertitelt, sollten liebende Eltern auf der Hut sein und das Buch zwar auf jeden Fall selber lesen, es aber sorgfältig vor den lieben Kleinen verbergen. Es sei denn, die Ärmsten sollen nach dem abendlichen Vorlesen den bisherigen Alpträumen nachtrauern…
Artmann geht nämlich wieder einmal in die Vollen; diesmal hat er sich die Genres „Kindervers“, „Kinderlied“ und „Volkslied“ vorgeknöpft. Die zugrunde liegenden Gedichte kennt man fast alle, aber diese Parodien attackieren das Zwerchfell mit pechschwarzem Humor: „Ein Männlein steht im Walde“ wird zum besungenen Banküberfall umgebaut, und das ist noch eine der harmlosesten „Bearbeitungen“.
Der Grusel-Fachmann Artmann (unter anderem hat er Cthulhu und Dracula übersetzt) übernimmt die unschuldige Form für nicht unbedingt kindgerechte Themen. Vampirgleich saugt er allem das herzige Blut aus und baut es alsogleich in bester Frankenstein’scher Tradition zur Teufelsbrut um, egal ob Weihnachtslied oder „Backe, backe Kuchen“: Frankensteins Kreaturen, Dracula, Vampire generell, Unholde, rachedürstende Djangos, Werwölfe, Menschenfresser und ihre Art(mann)genossen, aber auch die düstere Seite der Superhelden James Bond und Superman wuseln messerwetzend, arglistig und kinderblutrünstig durch diese allerliebsten Verslein… Jedes einzelne Gedicht ist eine hinterhältige Attacke auf bekannte Sujets, entdeckt zugleich das Komische im Grusel, und die für unvereinbar gehaltenen Sujets „sonnige Kinderwelt“ und „finstres Grauen“ schleichen, in munterer Koalition vereint, durch neumonddunkle Parks, finstere Keller und unschuldigen Schlummer.
In ihren ersten Zeilen lassen sich die Gedichtlein meist noch ganz arglos an, aber dann feuert Artmann Pointen ab und ist ganz in seinem Element: Seine gereimten Schauergeschichten sind mit hinterhältigem Witz durchtränkt, und er breitet in wenigen Strophen die Plots ganzer Schauerromane aus. „wann im herd kein lustig feuer“, und „der hänsel noch nicht fett“, ein paar Zeilen später auch immer noch „keine gretel in der pfanne“ – nuja, was folgt daraus: dann „kann die alte hex nix kochen“.
Aus jedem unschuldigen Verslein tropft das Blut, und kaum hat man sich wohlig zurückgelehnt, durch die wohlvertraute äußere Form eingestimmt auf unschuldige Kinderwelt und herzige Geschichtlein, taumelt der in wenigen Zeilen höchst anschaulich vorgestellte Nosferatu „wie ein nebelschwaden, / ist dein ungebetner gast, / wenn du eingeschlafen hast“.
Ich empfehle daher dieses kleine Meisterwerk und wünsche allen eine „geruuuuuhsame Naahahahacht und süüüüüße Trrrrräume“…
Um auf H.C. Artmanns allerleirausch. neue schöne kinderreime (Erstdruck 1967) eingehen zu können, sind einige allgemeine Informationen zur Kinder- und Jugendliteratur vorauszuschicken. Dabei werden die Herangehensweisen an Kinder- und Jugendliteratur als „Metier“ und als „Genre“ unterschieden sowie einige Themenpunkte wie etwa die Gestaltung oder intertextuelle Bezugnahme hervorgehoben.
Der Zugang zur Kinder- und Jugendliteratur als „Metier“ nach Ernst Seibert (2008) untersucht die zielgruppenorientierte Produktion und Rezension unter Einbeziehung didaktisch-pädagogischer Aspekte. Die Inhalte der Texte aus allerleirausch folgen jedoch keiner lehrhaften Ausrichtung oder Moralisierung, sondern können vielmehr als eine Parodie derartiger zweckorientierter Ansprüche an Kinderreime als Gebrauchsliteratur gelesen werden. Dabei werden weitläufig bekannte Strukturen der historisch tradierten Kinderreime übernommen und etwa durch neue Inhalte und Figuren verfremdet. Derartige Untersuchungen stehen dem Zugang zur Kinder- und Jugendliteratur als „Genre“ nahe, wie sie im deutschsprachigen Raum seit den 1970er Jahren praktiziert werden. Der handlungsorientierten Auseinandersetzung mit Kinder- und Jugendliteratur als „Metier“ steht somit der Fokus auf ihre jeweiligen literarischen Formen und Inhalte sowie auf ihre Wechselwirkung gegenüber – ein Zugang, der sie als „Genre“ der Literatur mit eigenem Formenbestand und Symbolsystem versteht (Seibert 2008: 24–28).
Was zeichnet nun Kinderliteratur aus, und an wen richtet sie sich? Das scheint einfach zu klären zu sein: Sie richtet sich an das Kind, allerdings auch, und das ist das Besondere, noch an einen zusätzlichen Adressaten, nämlich an den Vermittler. Vermittler können beispielsweise Erziehungsberechtigte sein, aber auch Buchhandlungen und Verlage sowie das schulische Umfeld. Sie alle bestimmen den Umgang mit dem Text stark mit und treffen eine Vorauswahl, welchen Nutzen ihrer Meinung nach „kindergerechte“ Literatur zu erbringen hat, was sowohl ihre ästhetische Gestaltung als auch die inhaltliche Auslegung betrifft. Bereits hier zeigen sich die vielfältigen Ansprüche sowie das pluralistische Verständnis von „kindergerechter“ Literatur, das an ein je unterschiedliches Verständnis von Kindheit gebunden ist, welches sich historisch und soziokulturell ständig wandelt. Somit wird die Antwort auf die Frage, was Kinderliteratur ist, zum Zeugnis des jeweils subjektiven Verständnisses desjenigen, der antwortet. Eine definitive Antwort auf diese Frage kann daher nicht gegeben werden, jedoch ist sie als Feststellung diachroner und synchroner Entwicklungen beschreibbar (vgl. Seibert 2008: 119–151).
In den Fokus rückt an dieser Stelle das Kindheitsbild um 1970, der Publikationszeit von allerleirausch und einer Phase signifikanter Veränderungen des Literaturbegriffs. Waren in der Nachkriegszeit noch relativ strenge Ansichten über „kindergerechte Lektüre“ weit verbreitet, denen zufolge die Kindheit als „Schonraum“ vor Gewalt und Tod verstanden wurde, so macht sich um 1970 ein „Paradigmenwechsel“ in den Publikationen dieser Zeit bemerkbar, der in Beziehung zur anti-autoritären 1968er-Bewegung steht. Das Kind wird dabei zum mündigen Partner im Umgang mit problembehafteten Thematiken erklärt, die ihm in „einfachen Formen“ (vgl. Lypp 1984: 107) und in reduziert komplexer Aufbereitung zugetraut werden.
Allgemein mehren sich um 1970 die Rufe nach vielseitigem, offenem Denken jenseits aller Dogmen – das zentrale Motto des „anything goes“ […] erfreut sich nachhaltiger Beliebtheit. Dabei will man auch eingefahrene Hierarchien in der Kunst beseitigen: Höhenkamm- und Populärliteratur sollen bis zur Ununterscheidbarkeit verschmelzen,
erklärt Benedikt Jeßing in seiner Einführung in die Neuere deutsche Literaturgeschichte (2012: 121).
Kinder- und Jugendliteratur wird nun als gleichberechtigter Teil der Gesamtliteratur angesehen und nicht nur didaktisch-pädagogisch, sondern auch literaturwissenschaftlich behandelt. Dem Gebrauchswert wird nun auch ein literarischer Anspruch gegenübergestellt, wodurch in dieser Zeit neben dem „Metier“-Verständnis auch die Betrachtungsweise als „Genre“ aufkommt. Neben veränderten Inhalten, die Themen wie Krieg, Tod und Gewalt inkludieren, ist auch ein Formenwandel festzustellen. Die tradierten Strukturen der Kinderlyrik vor 1945 mit festem Strophenaufbau, gleichmäßigem Metrum und häufigen End- oder Kehrreimen werden durch neue freie Formen erweitert, die auch den Kunstmitteln der Erwachsenenlyrik entsprechen: Druckbild, Enjambements, poetische Verdichtung, Sprachwitz, Verfremdung, Montage, Parodie u.a. (Motté 1983: 181f.). Durch derartige Entwicklungen wird eine Grenzziehung zwischen Literatur für Erwachsene und Literatur für Kinder und Jugendliche durchlässig und eine wechselseitige Beeinflussung deutlich.
Artmanns neue schöne kinderreime orientieren sich im Titel und in der formalen Struktur der Texte an der Gedichtsammlung Allerleirauh: Viele schöne Kinderreime (1961) von Hans Magnus Enzensberger. Artmanns Band wurde in Rezensionen entweder im Kontext seiner allgemeinliterarischen Werke behandelt oder von empörten Vermittlerinnen von Kinder- und Jugendliteratur als zu gewaltvoll verworfen. Enzensbergers Sammlung hingegen, die sich aus Reimen, Sprüchen und Liedern zusammensetzt, die bereits seit der Romantik volkstümliche Verbreitung erfuhren, wurde medial als weitaus weniger problematisch wahrgenommen.
Indem die 2. Auflage von allerleirausch (1968) kleinformatig, ohne Illustrationen, ohne Großbuchstaben und in kleiner, kursiver Schrift publiziert wurde, folgte sie keinen handelsüblichen Gestaltungstendenzen für Kinderliteratur. Auch wird keine der Ausgaben von 1967 bis zur derzeit aktuellsten in Sämtliche Gedichte (2011) von einem Verlag mit kinder- und jugendliterarischem Schwerpunkt herausgegeben, sondern orientiert sich an der nüchternen Gestaltung der 2. Auflage. Demgegenüber steht die Publikation der Reime von 1999 mit bildreicher Gestaltung durch Linda Wolfsgruber, eine mehrfach preisgekrönte österreichische Kinderbuchillustratorin. Hier dominieren die Farben rot und schwarz, die für die Künstlerin und ihre Werke nicht unüblich sind, auch wenn diese düstere Kombination selten in Bilderbüchern aufgegriffen wird. Laut ihrer eigenen Aussage war diese Ausgabe nicht nur von ihr, sondern auch vom Verlag Edition Sturzflüge und in Absprache mit Artmann als an Kinder adressierte Literatur intendiert.1
Es kann hier also die These aufgestellt werden, dass der Umgang mit diesen Reimen eine veränderte Wahrnehmung „kindergerechter“ Literatur nach 1970 widerspiegelt, auch wenn die inhaltliche und äußere Gestaltung nicht auf eine bestimmte Zielgruppe ausgerichtet ist. Durch die illustrierte Ausgabe wird die Möglichkeit unterstützt, die Texte auch als Kinderliteratur zu verwenden, wobei dies dem jeweiligen Vermittler überlassen bleibt, dessen Verständnis von Kindheit damit zum Tragen kommt.
Deutlicher als Kinderliteratur gestaltet sind etwa Artmanns Werke Christopher und Peregrin und was weiter geschah (1975), Ein Hund namens Zottel (2001; bzw. in Middelhauve/Loschütz 1975) oder Maus im Haus (1999; bzw. Ompül, Artemis Verlag, 1974; sowie in: Dichter erzählen Kindern, Middelhauve, 1966).2 Textunterstützende farbenfrohe Illustrationen, große Schrift und logische Handlungsabfolge erleichtern ungeübten LeserInnen den Zugang zum Text. Da sich diese Beispiele von seinen allgemeinliterarischen Texten deutlich unterscheiden, kann Artmann als „ephemerer“ Autor der Kinderliteratur bezeichnet werden (Seibert 2008: 60), womit gemeint ist, dass er sein eigentliches Metier der Allgemeinliteratur mit diesen Publikationen verlässt.
In einem Gespräch mit Artmanns Tochter Emily zu ihrer persönlichen Einschätzung der allerleirausch-Texte (am 9. Nov. 2012 in Wien) erklärte sie, dass die Sammlung ihrer Meinung nach ursprünglich nicht als Kinderliteratur gedacht gewesen sei, da bereits ein Vorwissen beim Rezipienten gegeben sein müsse, um etwa die Figur „Haarmann“ mit dem gleichnamigen realen Kindermörder aus Hannover (1879–1925) in Verbindung setzen und um die Texte auf dieser Ebene verstehen zu können:
Ich würde sagen, das sind Kinderreime für Erwachsene. Daheim hat er diese Reime auch nicht gemacht. Das waren dann eher bäuerliche Reime, oder die traditionellen, oder aus Grimms Märchen. […] Sehr oft hat er die kleinen Gedichte in den Märchen zitiert: „der wind, der wind“, „kiwitt kiwitt, wat vör’n schöön Vagel bün ik!“ – das war glaub ich der Grund, warum sie ihm gefallen haben. Die Verbrämung der Märchen der Grimms in Richtung Moral und Zensur hat ihm nicht gefallen, auch wenn er es ihnen als großes Verdienst angerechnet hat, dass sie das gesammelt haben. Moral hat ihn nicht interessiert. Nicht unmoralisch, sondern amoralisch sollten Märchen für ihn sein. Märchen hat er als Erwachsenenliteratur gesehen, die dann später für Kinder zu pädagogischen Zwecken verändert wurden.
Die erwähnte Absage an Moral und lehrhafte Ansätze ist auch im Kontext der um 1970 veränderten sozialen und literarischen Auffassung zu sehen und entspricht der Öffnung restriktiver Tendenzen dieser Zeit. Neben der Poetisierung lebensweltlicher Erfahrungen, die sowohl schockierend oder banal sein können, integriert Artmann auch Comics, populäre Mythen und Trivialliteratur in seine „Kinderreime“ und lässt scheinbar veraltete Genres wieder neu aufleben.
Der bereits oben erwähnte intertextuelle Bezug zu Enzensbergers Allerleirauh zeigt die bewusste Nähe zu tradierten Strukturen der Kinderlyrik, die somit als Bezugsrahmen fungieren. Während diese jungen RezipientInnen noch nicht geläufig sein können, fungieren sie für erfahrenere LeserInnen als nachvollziehbares Verweissystem; so wird etwa aus dem „Bi-Ba-Butzemann“ Artmanns „mi ma monsterchen“, aus „Das ist der Daumen / der schüttelt die Pflaumen“ wird „das ist der daumen / der klebt am gaumen“. Dieses Spiel mit dem Vorwissen belesener Rezipientinnen betrifft u.a. die Reime „backe, backe kuchen“, „ein männlein steht am schalter“, „daumenlanger hänsel“, „mariechen saß auf einem stein“, „unser hans hat hosen an“ und „eins zwei drei“.
Diese und weitere Texte lassen sich je nach Erfahrungsstand und Vorwissen der Rezipientinnen in zweifacher Weise lesen, wodurch sie eine „Doppelsinnigkeit“ (Ewers 2000: 123–125) entsprechend der jeweiligen Verstehensebene der RezipientInnen erhalten. In diesem Sinne unterscheidet Ewers die „esoterische“ und die „exoterische“ Lektüre, wobei kindliche Leserinnen sich auf Inhalt und Narration konzentrieren, sich also auf die „exoterische“ Ereignisebene einlassen. Ein solcher Text kann damit sowohl als Kinderliteratur als auch – mittels der zweiten intendierten AdressatInnen, die nicht unbedingt auch Vermittlerinnen sein müssen – als Erwachsenenliteratur verstanden werden. Kindliche RezipientInnen gehen dabei über Unverständliches hinweg, ohne die Lektüre abbrechen zu müssen, während erwachsene LeserInnen in einer parallelen Lektüre etwa allegorische, parabolische oder parodistische Inhalte verstehen, welche Kindern verborgen bleiben. Diese weiterführende Ebene, die sich erfahrenen LeserInnen als „esoterischer“ Hintersinn eröffnet, darf dabei nicht die „exoterische“ Lektüre stören. Ein derartiges Beispiel aus allerleirausch stellt ein Text zu den Comic-Helden Batman und Robin dar; er liest sich entweder hinsichtlich der Beschreibung eines Alltagsaspekts (Aufstehen am frühen Morgen) als typisch kinderlyrischer Inhalt oder aber als parodistische Helden-Darstellung mit homosexueller Bedeutung:
BATMAN UND ROBIN
die liegen im bett
batman ist garstig
und robin ist nett.
batman tatüü
und robin tataa
raus aus den federn
der morgen ist da!
(Artmann 2011: 527)
Die einfache Form entspricht der Struktur traditioneller Kinderlyrik, die neben Reimen und Metrik auch die Wiederholung der Namen und den appellativen Charakter der Gebrauchslyrik berücksichtigt. Derartige Bezüge werden jedoch eher erfahrenen LeserInnen auffallen, beziehungsweise müssen zur Steigerung des unterhaltsamen Effekts auch die genannten Trivialhelden bekannt sein, um die Komik der Parodie zu verstehen.
Die hier gezeigte Bandbreite der Rezeptionsmöglichkeiten verdeutlicht, wie Erwachsenen über die Verfremdung und unerwartete Kombination vertrauter Inhalte, Formen und Stile Unterhaltung geboten werden kann, ohne dabei kindlichen RezipientInnen die Möglichkeit zu nehmen, sich auf ihre Weise mit denselben Texten auseinanderzusetzen. Das abschließende Wort soll dem Dichter selbst überlassen werden, mit einem Text, der einerseits auf das Grimm-Märchen „Hänsel und Gretel“ und Enzensberger Allerleirauh-Sammlung verweist, andererseits das bei Artmann beliebte Motiv der Verarbeitung toter Lebewesen aufgreift:
DIES BÜCHLEIN IST AUS
dort läuft ne maus –
wer sie fängt,
darf sich einen
haltbaren schulterhalfter
draus machen!
(Artmann 2011: 533)
Danae Piefeas, aus Alexandra Millner und Marc-Oliver Schuster (Hrsg.): Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes. Weiteres zu H.C. Artmann, Königshausen & Neumann, 2018
Danae Piefeas: Literaturverzeichnis
Es gibt verschiedene Begegnungen. Angenehme Begegnungen. Unangenehme Begegnungen. Freundschaftliche, gehässige, liebevolle, teilnahmslose, geplante, zufällige, dramatische, langweilige, nützliche, fruchtlose, dankbare, undankbare, erquickliche, trostlose, aufreibende, anregende, nüchterne, berauschende, süße, saure Begegnungen.
Die Begegnungen mit H.C. Artmann – und es gab ihrer mehrere – könnte man alle mit einem Eigenschaftswort kennzeichnen: es waren abenteuerliche. Immer waren sie voller Spannung, voller Überraschungen und unerwarteter Rückschläge, voller Poesie und Humor.
Unsere erste Begegnung mit Artmann geschah ohne seine physische Anwesenheit, sie war eine rein literarische. Sie fand im Jahre 1959 auf der Ausstellung des Österreichischen Buches in Prag statt. H.C. war in zwei Exponaten anwesend. Im ersten wurde er von zweien seiner Wiener Freunde begleitet, von Gerhard Rühm und Friedrich Achleitner. Das war die damals noch wenig bekannte Sammlung von Dialektgedichten hosn rosn baa. Das zweite Buch war Artmanns eigener Band med ana schwoazzn dintn, in dem er, nicht wie viele vor ihm in einem Dialekt, sondern – und das war das neue und abenteuerliche für uns – mit dem Dialekt gedichtet hatte.
Mit großer Überraschung fanden wir in den Artmannschen Gedichten tschechische Wörter und Formulierungen, die sich in einer tschechisch sprechenden Wiener Bevölkerungsschicht erhalten hatten, während sie bei uns in Böhmen mehr oder weniger außer Gebrauch gekommen waren. Interessant war für uns auch der Vergleich der Dialektpoesie von Artmann mit den Argot-Texten von Jiří Kolář, die später in der Sammlung Vršovický Ezop (Wrschowitzer Äsop) erschienen sind. Im Gegensatz zu den literarisch experimentierenden Texten von Kolář sprach nämlich aus den Gedichten von Artmann deutlich eine starke emotionelle Anteilnahme. Diese Gedichte basierten auf Kindheitserlebnissen und stellten so Dokumente eines persönlichen Schicksals dar.
Mehr als das was die Gedichte sagten wußten wir nicht von ihrem Autor. Und wer wußte damals schon mehr von ihm? Vielleicht ein paar seiner nächsten Freunde, vielleicht der Ober im Café Hawelka in Wien, vielleicht das kleine Publikum, das an den schockierenden Vorstellungen der Wiener Gruppe teilnahm, in denen manches späterer happenings und Aktionen vorweggenommen wurde.
Nachdem es 1967 auf der Frankfurter Buchmesse zu einem ersten kurzen aber turbulenten Zusammentreffen mit H.C. gekommen war, begannen wir uns systematischer für sein Werk und die Herkunft seiner Poetik zu interessieren.
Die tschechoslowakische künstlerische Avantgarde, die sich nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie formierte, stand in Beziehung zu den bildnerischen und literarischen Programmen des Kubismus und Futurismus, des Poetismus und Surrealismus, und orientierte sich somit vorwiegend nach Paris. Wien, die bisherige Hauptstadt, war plötzlich in weite Ferne gerückt, und die künstlerischen Kontakte zwischen Prag und Wien, zuletzt repräsentiert im Expressionismus von Schiele, Musil, Kafka, Werfel, waren unterbrochen. Wenn auch in Prag kaum wahrgenommen, so hatte doch die Wiener Sezession ein zähes Leben, und uns scheint, als würde sie in manchen der Artmannschen Äußerungen bis heute überleben. Schärfste Gegensätze der Einflüsse, die aristokratische Wiener Atmosphäre und die plebejische Herkunft des Dichters, machen das Werk Artmanns zu einem bastardischen und dennoch homogenen Organismus, in dem sich Überlebtes und aufreizend Zukünftiges vereinen.
Artmanns Poetik, besonders ihr offener, inspiratorischer Charakter, wurde – so jedenfalls stellt es sich uns dar – geprägt von der Wiener Gruppe, deren Mitglied er war. Sein persönlicher Beitrag aber bezog Anregungen aus dem Volkslied, dem Ritterroman und der Barockliteratur, er wurde verfeinert von Surrelismus und Dadaismus, bereichert durch seine eigene lebendige und kraftvolle Invention, er stützte sich auf eine Arbeit mit der Sprache und er mündete in eine neue dichterische Ausdrucksweise, die konsequent ist in ihrer Inkonsequenz und modern in der Art, wie sie sich die Vielgesichtigkeit und Vielschichtigkeit der Welt einverleibt.
Artmann hatte ursprünglich unsere Aufmerksamkeit ganz als Vertreter der literarischen Moderne, nicht als dichterische Persönlichkeit auf sich gezogen. Was uns zunächst interessierte waren seine Dialektgedichte, seine Lautgedichte, seine Spracherfindungen und überhaupt alle Texte, die auf Grund eines festgelegten ästhetischen Programms, d.h. also mittels einer rationalen Methode geschrieben worden waren. Daß diese Texte gegenüber solchen emotionalen Ursprungs und emotionaler Aussagekraft in der Minderzahl waren, stellten wir erst fest, als wir das ganze Werk von Artmann überblickten.
Zusammen mit Vladimír Kafka entschlossen wir uns, H.C. Artmann zu übersetzen. Wir planten zwei Auswahlbände, einen für die Lyrik, den anderen für die Prosa, beide sollten im Prager Verlag Mladá fronta erscheinen. Zur Ausführung des Prosabandes kam es leider nicht, teils wegen des Todes von Vladimír Kafka, teils wegen der seit 1968 veränderten Situation im Verlag.
Der Lyrikband erhielt den Titel Velké verbárium H.C. Artmanna, zu deutsch Das große Verbarium H.C. Artmanns. Der Band enthält 3.500 Verse und einen Essay von Vladimír Kafka. Den Kern bildet ein lilienweißer brief aus lincolnshire (1969), aus dem wir von allen Spielarten der Artmannschen Poesie auszuwählen uns bemühten. Freilich mußten wir auf die reinen Dialektgedichte verzichten, die, wenn man die Form erhalten will, sich entweder überhaupt nicht übersetzen lassen, oder aber, in Prager Straßenjargon transponiert, grotesk wirken könnten.
Wir wissen nicht, wie unser Lyrikband vom tschechischen Leser aufgenommen werden wird – noch ist er nämlich nicht erschienen. Ein vergleichbarer dichterischer Typus ist bei uns bisher nicht vorgestellt worden, weder als tschechisches Original noch als Übersetzung aus einer anderen Sprache. Die avantgardistischen Bücher die in der Tschechoslowakei bisher erschienen sind, hatten alle einen mehr instruktiv-programmierten Charakter.
Wenn wir anfangs sagten, daß unsere Begegnungen mit Artmann abenteuerlich waren, dann war die als Übersetzer die abenteuerlichste. Wir haben uns die Übersetzungsarbeit buchstäblich schmecken lassen. Das war kein Problem bei Texten wie den „epitafen“, den „Reimen, Versen und Formeln“, wo die Übersetzung wie „in Butter“ lief. Ein Genuß waren auch „die bösen formeln“, aus denen wir hier zur Illustration Original und Übersetzung von „mach auf“ zitieren:
mach auf otevři
nein ále
ich will chci
hinein dále
nein ále
mach auf otevři
nein ále
ich will chci
hinein dále
nein ále
mach auf otevři
nein ále
mach auf otevři
Den Abschnitt „treuherzige kirchhoflieder“ ließen wir in der Übersetzung an tschechische Barockpoesie anklingen, ebenso die schönen Verse aus „Vergänglichkeit und Auferstehung der Schäfferei“. Ohne Übersetzungsprobleme waren auch die „landschaften“ und übersetzerisch dankbar die Gedichte aus der Gruppe „anselm, antonia und der böse caspar“. Dafür aber machten uns die Artmannschen Spracherfindungen zu schaffen. Reine Paraphrasen wurden die Übersetzungen der „verbaristischen szenen“, für die wir uns die Eigennamen aus dem tschechischen Mittelalter holten. Internationalismen beließen wir im Original, strukturell übersetzten wir, was auch im Tschechischen gut klang. Ähnlich den Spracherfindungen haben wir die „sieben lyrischen verbarien“ aufgelöst. Übersetzerisch am abenteuerlichsten – wegen der Kombination verschiedener Sprachen und Quasisprachen – waren die Gedichte des Abschnittes „flaschenposten“ sowie die experimentellen Gedichte aus der Sammlung der Wiener Gruppe.
Aber auch die letzte Begegnung mit H.C. war nicht ohne Abenteuer. Im Frühjahr 1969 kam Artmann nach Prag und wir besuchten zusammen das als früheres Bordell bekannte Tanzlokal Narcis. Der Kapellmeister kam an unseren Tisch und wir baten ihn, ein bestimmtes Lied zu spielen, was so sehr das Mißfallen einer Schönen am Nachbartisch hervorrief, daß sie eine leere Weinflasche gegen uns schleuderte. Wir konnten ausweichen, aber Vladimír Kafka, der mit von der Partie war, trug eine anständige Beule am Kopf davon. H.C. ließ sich von diesem Intermezzo keineswegs die Laune verderben, denn schon am nächsten Tag war er wieder im Narcis, diesmal ohne uns. Dann fuhr er von Prag weg.
Josef Hiršal / Bohumila Grögerová, aus Über H.C. Artmann, herausgegeben von Gerald Bisinger, Suhrkamp Verlag, 1972
(Aus dem Tschechischen von Konrad Balder Schäuffelen)
– Zu Juana Inés de la Cruz, H.C. Artmann, Konrad Bayer. –
Hier liegt das ganze Geheimnis:
verborgene Beziehungen herstellen
Stéphane Mallarmé
Höhere Wesen befahlen…
Sigmar Polke
Im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts erscheint in Sevilla ein in der Neuen Welt, in der spanischen Kolonie Mexiko, geschriebenes Langgedicht unter dem eher minimalistisch als manieristisch anmutenden Titel Primero Sueño (Erster Traum). Autorin ist Sor Juana Inés de la Cruz (1648/49–1695), eine hochgebildete, darüber hinaus: auf eigene Faust gebildete Klerikerin, die sich als Kind schon durch die Bibliothek ihres Großvaters gelesen hat. Über ihre theologisch-spätscholastische Denkerziehung hinaus, hat de la Cruz die aktuellen naturwissenschaftlichen Entwicklungen verfolgt; in ihre Zeit fällt die Entdeckung von Mikro- und Makrokosmos. Es werden in dieser Phase zahlreiche neue Technologien auf ihre Tauglichkeit überprüft und eingesetzt; zum ersten Mal wird mit Fernrohr und Mikroskop gearbeitet.
Ausdrücklich als Gegenstück und Weiterführung zu Góngoras epochemachenden Soledades (Einsamkeiten) gedacht, die ja mit dem gelehrten Stil, dem estilo culto, einen Ismus für die spanische Literatur begründeten, ist auch Primero Sueño ein sofort berühmtes, dann in Vergessenheit geratenes, irgendwann wiederentdecktes – ein berühmtes Gedicht.
Das Gedicht ist ein feuriges Plädoyer, zunächst einmal, für die Benutzung des Verstandes; das Gedicht ist akustisches und optisches Präzisionsinstrument zum Anschaulich- und Durchschaubarmachen der sichtbaren wie – verkürzt gesprochen – unsichtbaren Welt. Ganz im Stil ihrer den Verfall alles Irdischen nie aus den Augen verlierenden Zeit spricht die Autorin von der „protzigen maschine der welt“ (la aparatosa maquina del mundo). Das Gedicht leistet sich den sensationellen Luxus der Innenschau, sensationell deshalb, da sich hier eine Frau, eine Ordensfrau, einen nicht-mystischen, nicht-visionären, einen höchst rationalen, daher ganz und gar nicht ungefährlichen Angang erlaubt: die Autorin schildert, aus Sicherheitsgründen selbstverständlich theologisch-rhetorisch abgepolstert (trotzdem bekam die gelehrte Nonne Schreibverbot), die physiologische Maschine Mensch, deren Organtätigkeiten beschrieben werden; so ist das Herz mit einem „Blasebalg verbunden – Lunge oder Magnet des Windes heißt er…“ Der Mensch und seine lunar-nächtliche Seite ist das große Thema dieses Gedichts: beim Einschlafen, im Schlaf (dem titelgebenden Traum eben), zuletzt beim Erwachen. Die heruntergeschaltete, in Zeitlupe, in der slow-motion des Traums tätige, diese einigermaßen erforschbare Wundermaschine Mensch, die den Traum macht, das ist ihr Thema; eine Vorahnung von Gehirnphysiologie ist spürbar. Das Gedicht ist gebaut, ist ruhige Architektur, aus langen, geduldigen Kamerafahrten bestehende Nachtwache. Das Gedicht ist Sprachwache, ist gesetztes Regelmaß (= horazische norma); aus nachtwachen Sprachen gemacht, hin- und herschießend zwischen Formelhaftigkeit des beredten Emblems und frisch aufgewühltem Bild. Weil schlaflos – und eben nicht sprachlos! – hat das Gedicht nichts mit Formalismus zu tun: Formalismus bedeutet Eindämmern von Sprache, bedeutet Verdämmern von Schönheit…
Das gemachte Gedicht ist immer das Unerwartete; ganz im Sinn von Städteplaner Baudelaires Überlegung:
Das Unregelmäßige, d.h. das Unerwartete, die Überraschung, das Erstaunen stellen wesentlich das Element des Schönen dar.
Dies sind Kriterien für Moderne, die, bei allen avantgardistischen Abrißphantasien, letztlich Ingredienzen jeder Ingroup-Programmatik waren und sind.
Während ich den Primero Sueño vor kurzem erst, in einer zweisprachigen Ausgabe, gelesen habe, gehören die Werke Artmanns und Bayers zu meinen ersten und prägenden Lektüreerlebnissen. Auf Artmann bin ich als Gedichte schreibender Gymnasiast in Düsseldorf gestoßen; seine Bücher sind – neben der Tatsache, daß mein Großvater, auf die Frage des Enkels, welche Stadt er gerne gesehen hätte, sie aber nicht habe bereisen können: Wien, neben einer zweiten, nannte – ganz klar Auslöser meines Vorhabens gewesen, dort möglichst bald einige Zeit zu verbringen. Mit Zweiundzwanzig habe ich mir diesen Wunsch erfüllen können; wie bekannt ist, nicht zu meinem Nachteil. In Wien, in der nächsten Stromnähe, las ich, von Artmann-Lektüre angeregt, sofort Bayer, auch Priessnitz und Mayröcker, um drei weitere Highlights zu nennen. Hierbei erinnere ich mich, daß noch 1988 eine Großprosa Friederike Mayröckers (mein Herz mein Zimmer mein Name) von der Kritik in das Ausstrahlungsgebiet des Góngorismus gerückt wurde. Ich aber fraß zu meiner Wiener Zeit nicht nur die Wiener, ich schaufelte mich nicht nur durch den voluminösen Reisberg der österreichischen Nachkriegs-Avantgarde hindurch, sagen wir: ich ernährte mich von Eßpapier.
„ABC dienet zu einem Gesprächspiele“, heißt es 1644 bei G.Ph. Harsdörffer. Nicht allein dem Nürnberger war das Gesprächspiel Literatur auf dem Hintergrund des menschenfressenden Dreißigjährigen Krieges sittlich-nationales Projekt; Dichtung war ihnen bitterer Ernst, bei dem es fremdsprachige Elemente zu exstirpieren galt – deutsch pur. Als typisch für deutsche Dichtung und Sprachwissenschaft des 17. Jahrhunderts müssen Tränenreichtum à la Gryphius und Schottels „Sprachkrieg“-Militanz (1673) gelten. Dazwischen, ein großer Solitär: der seriell-evokative Quirinus Kuhlmann, einer der Schutzheiligen des Minimalismus und Blutsbruder Artauds.
Das Werk der Juana Inés de la Cruz – in Wien?
Artmann hat sie früh wahrgenommen, „das ist schon so lange her…“; wie Kircher: „ein verdienter Mann! Das Chinabuch!“, den er (die er?) in der österreichischen Nationalbibliothek in die Hände bekam (Telefonat vom 14.8.97). 1955 arbeitet Artmann mit einem Kircher-Zitat, aus dem er einen Theatertext macht.
Der spartenübergreifend inspirierte Primero Sueño, dessen nachgereimter – von mitunter kraß interpretierenden Übergriffen nicht freier – Übersetzung ich nicht unbedingt über den Weg traue, bietet einen ungeheuren Reichtum an Perspektivaufbauten, Horizontal-/Vertikalwechseln, Querverweisen, an kurzem Anreißen von Bildungsstandards. Die reichen von den Ovidschen Metamorphosen, antiker Viersäftelehre, spätscholastisch-labyrinthischen Denkansätzen bis zu den damals aktuellen, meist in Amsterdam gedruckten Schriften keineswegs nur des lateinschreibenden, in Rom lehrenden deutschstämmigen Universalgelehrten Athanasius Kircher, der ein Zeitgenosse der mittelamerikanischen Enzyklopädistin war. Kircher, der hyperpolyglotte, aber gescheiterte Hieroglyphendechiffrierer, gilt als entscheidender Ideenlieferant für den Primero Sueño: von ihm bezieht, erstens, die Dichterin das ideale Denk- beziehungsweise Erkenntnisbild der Pyramide, die im Gegensatz zum „Wahn-Obelisk“ und zum babylonischen Turm, dem Standardsymbol für Sprach-, also Denkverwirrung, steht. Zweitens. Die Laterna magica, Vorläuferin des Epidiaskops, von P. Kircher SJ erstmals beschrieben und von der Jesuitenmission eifrig eingesetzt: Was für ein herrlich’ Instrument! – Paradiesesfreuden! Was für ein grewlicher spanischer Stiefel! – Höllen- und Fegefeuerqual! Sie wird von Sor Juana nicht als biederer Illustrationsapparat verwandt, sondern sofort als Symbol für Intellektualität, für Projektion-Imagination an sich erkannt und findet im Primero Sueño den Weg in die Dichtung. Weiterhin wird die Lektüre des Sprachwissenschaftlers und Akustikspezialisten Kircher die Schriftstellerin zu Beschäftigung mit Indiosprachen und afrikanischen Idiomen angeregt haben: den unterdrückten Sprachen in ihrer kolonialen Hidalgo-Umgebung, die sie für ihre Dichtungen hat fruchtbar machen können.
Künstliche Paradiese? Hermetik?
Die erste Marslandung – beschrieben von Athanasius Kircher; eine Iter exstaticum, ekstatische Reise – könnte nach einem seiner Buchtitel (1657) das Gedicht, und überhaupt jedes überzeugende Stück Kunst!, genannt werden. Eine Expedition durch den Menschen und seine Erfahrungen, eine neuronale Teststrecke, eine Textstrecke, letztendlich nicht abschreitbar; eine Große Kunst des Lichtes und der Schatten (Kircher, 1671), Meteoritenschauer, Stroboskopbeschuß in wogenden, in künstlichen Paradiesen, und immer und immer sich wiederholendes Itinerarium exstaticum (Rom, 1656).
Hermetik? Ein solcher Primero Sueño erinnert an diesen Vierziger-Jahre-Science-fiction, in dem ein verkleinertes Ärzteteam im Nano-U-Boot zwecks Notoperation die Blutbahnen eines Patientenkörpers durchfährt. Der Primero Sueño der mexikanischen poetessa docta enthält, stets das schnörkelig Überladene vermeidend, Passagen von wunderbar verdichteten Beobachtungs-Clips und Porträt-Polaraids: Siesta-Situation bei Mensch und Tier; knappeste Schilderung einer Gebirgs-Location, in der König Actaeon bei der Jagd beobachtet wird. Überhaupt fehlt, zum Vorteil der Leserschaft, dem Gedicht einiges, was Barockdichtung schwer genießbar machen kann: nichts von kraftmeierischem, girlandenhaftem Dröhnton, kein falsches Pfingstfest schwülstigen Gottespreises, statt dessen besticht der Text durch Findungskraft und Disziplin.
Die stärksten Gedichte H.C. Artmanns in den 60ern (der Dekade, in die eine Büchnerpreisverleihung hätte fallen sollen!) finden sich sicherlich in den nicht ostentativ „barockisierenden“ Texten, obschon er auch hier Arno Holz mit Siebenmeilenstiefeln davoneilt; es sind wohl die dem Barock nur noch sehr entfernt verpflichteten „landschaften“ (1966) und deren Vorläuferzyklus „hirschgehege & leuchtturm“ (1962); zumindest letzterer ist leider viel zu wenig bekannt:
… knisternd nisten in ihrem herzen
elektrisch geladene schwalben.
In der Nähe, parallel zu Inés de la Cruz, können verschiedene Prosadichtungen Konrad Bayers gelesen werden. Bayer ist Pionier des österreichischen Experimentalfilms (Drehbuch, Performance), Sprachphilosophie-Rezipient, er verarbeitet Erkenntnisse der neu entstehenden Bewußtseinsforschung, seine Interessen, darin folgt er dem schwarzromantischen Artmann, richten sich aufs Artifiziell-Ethnologische und gelten dem arcimboldieisch Montierten ebenso wie dem Wiener Slang und, last not least, Pop-Phänomenen. Der Dichter befaßt sich mit dem Kommunikations-Automaten Mensch; ein seit den 80ern (Stichwort Neue Medien, Stichwort Körper-als-Metapher) bekanntermaßen hochbrisantes Thema für und in der Poesie.
In seiner dichtungsmaschine in 571 bestandteilen (Untertitel), der vogel singt von 1957/58, ist ein Leitmotiv die elektrisiermaschine: „die elektrisiermaschine erleuchtet die landschaft…“
Oder Bayers einzige, bei Lebzeiten gedruckte, textsortenübergreifende Dichtung der stein der weisen, aus dessen Kapitel „lapidares museum“ ich hier kurz zwei Passagen zitieren möchte:
in den tälern dieses gebirges marschieren wir tagelang unter dem laubdach von riesigen platanen, in deren gezweig künstliche vögel singen. wenn sie verstummen, werfen wir eine münze ein und sie singen weiter. wir steigen höher hinauf… wir erreichen eine hochebene… statuen lustwandeln zwischen taxushecken aus papiermaché. die äusseren gehäuse von vergoldetem messing lassen winzige öffnungen frei, so dass man alle bewegungen des triebwerkes mühelos betrachten kann… vergnügt schlagen wir unsere echten finger in diese tastatur und eine schriftrolle springt der bestie aus dem maul und flattert uns vor die mit blut gefüllten füsse.
Dann wird eine Höhle erforscht; die Seilschaft, Achtung Zeichenkette!, bemerkt folgendes:
die höhle hat rechts noch eine kleinere plattform, welche sich als schmale an der steil aufragenden oberen herzwand herumführende galerie fortsetzt, und nach aussen zu nur einige runde öffnungen von geringem durchmesser. aus der geäderten felsdecke über uns hängen riesige fetzen von hautgewebe, wie draperien. man kann ohne allzu grosse mühe in die obere etage hinaufklettern…
Gustav René Hocke (der, obwohl Romanist, Inés de la Cruz nicht behandelt) nennt in seinem Merkmal-Katalog, der Charakteristika von „Barockliteratur“ einfangen soll, unter anderem „rauschgiftnahe Faszination“. Und prompt stößt man, zum Ende des Primero Sueño, bei der Schilderung des zeitlupenmäßigen Erwachens aus dem „Traum“, des Erstehens von Tagweltbewußtsein, auf das Wörtchen Bilsenkraut (beleno), das sicherlich nicht allein vom Cruz-Kommentator Octavio Paz gern übersehen wurde, das ich allerdings ebenso gerne bereit bin, als reales Faktum zu lesen, zumal das den Nachtschattengewächsen zugehörende Halluzinogen Hyocyamus niger vom Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens zu den „ältesten den Indogermanen bekannten und von ihnen benutzten Gift- und Zauberpflanze(n)“ gerechnet wird; betont werden unter den „Sinnestäuschungen“ insbesondere Gehörhalluzinationen. Und was wäre denn Dichtung, diese, neben dem apotropäischen Handabdruck der Felsbeschriftung, älteste orale Zeichenkette der Menschen, zumal wenn sie vernünftig vorgetragen wird, anderes, als Gehörhalluzination, als Rausch-im-Ohr? So wird Bayers sehr begreifbarer Text „hermetische geografie“ (ebenfalls aus stein der weisen) denn auch verständlich; klar, aufschlüsselbar und unhermetisch – wie gut klingende hermetische Dichtung eben sein soll. So beginnt er:
es wird immer lebendiger. sobald sie musik hören, kommen alle ausser sich…
Thomas Kling, aus Thomas Kling: Botenstoffe, DuMont Verlag, 2001
Erstveröffentlichung unter dem Titel „Hermetisches Dossier 11 Stichworte zu Juana Inés de la Cruz, Artmann, Bayer“ in: Brigitte Labs-Ehlert (Hg.): Aus dem Wort kommen. VI. Literaturbegegnung Schwalenberg. Detmold: Literaturbüro Ostwestfalen-Lippe, 1997
I. Intertextualität als Charakteristikum der Werke Artmanns; Populärkultur im literarischen Kontext der 1950er und 1960er Jahre
6. Zu den verehrungswürdigsten Meistern des poetischen Actes zählen wir in erster Linie den satanistisch-elegischen C.D. Nero und vor allem unseren Herrn, den philosophisch-menschlichen Don Quijote.
(Artmann 1970: 364)
Der wohl am wenigsten zitierte Satz aus der „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ (1953) nobilitiert gleich zwei Gestalten der abendländischen Kulturgeschichte, wobei die Rekonstruktion des Sinns dieser Äquivalentsetzung – was macht sowohl Nero wie Don Quijote zu Meistern des poetischen Actes? – in der für Artmann typischen Zusammenführung von heterogenen Textelementen den Rezipienten überlassen wird. Die Funktion des Anzitierens erschöpft sich dabei nicht in der bloßen Namensnennung; wie bei jedem Zitat werden über das in den Text hereingeholte Diskursmaterial (Texte, kulturelles Wissen usw.) semiotische Strukturen präsent gemacht, die dem kulturellen (also textuellen) Umfeld des Zitierten anhaften – im Falle Neros wären, wie auch schon die Adjektivkombination deutlich macht, etwa dessen Image als Dichterpersönlichkeit sowie seine überwältigende Grausamkeit zu nennen, Informationen also, die uns nur über andere Texte zur Verfügung stehen. In einem poststrukturalistischen bzw. neohistorischen Verständnis von Intertextualität müsste also bereits hier von Intertextualität gesprochen werden. Das mag insofern zu Recht verwundern, als gerade der bekannte Hauptsatz der „Proklamation“ die radikale Abkopplung von Dichtung und Sprache bzw. Text beschwört (363): „Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.“ – und weiter:
Der poetische Act ist jene Dichtung, die jede Wiedergabe aus zweiter Hand ablehnt, das heißt, jede Vermittlung durch Sprache, Musik oder Schrift.
Der zeichenhaften Speicherung von Dichtung geht, so die These Artmanns, die Ursprünglichkeit und Eigentlichkeit des poetischen Aktes als Performanz4 verlustig. Dabei mündet die „Proklamation“ gerade in ihrer Absicht, an die Öffentlichkeit zu gelangen, und in ihrer eigenen Verschriftlichung, streng genommen, in einen performativen Widerspruch zu den eigenen Forderungen. Überdies speisen sich nicht wenige Texte Artmanns, wie eben auch ansatzweise die „Proklamation“, sowohl in ihren Verfahren wie Inhalten zu einem nicht geringen Teil aus einem ebenso breiten wie heterogenen Fundus intertextuellen Fremdmaterials. Die eigene literarische Herkunftsbestimmung Artmanns liefert indes nur einen groben Überblick über das intertextuelle Gesamtspektrum:
Ich komme ja vom Surrealismus her, ursprünglich. Surrealismus ist für mich etwas ziemlich Verrücktes. Und Romantiker bin ich auch. Also, ein surrealer Romantiker oder ein abstrakter Romantiker, oberflächlich betrachtet, denn meine Herkunft ist überall: bei den Surrealisten und Dadaisten, bei Villon und dem Wiener Vorstadtdialekt, Lorca, Gómez de la Serna, in der Artusepik, in barocker Schäferpoesie, in Irland, im England des Sherlock Holmes, in den finsteren Wäldern von Transsylvanien, in den lieblichen Gefilden von Sussex, in orientalischer Liebeslyrik, in den Detektivheftchen der 20er Jahre, den Comicstrips von damals bis heute usw.
(Artmann zit. in Hofmann 2001: 17)
In der Tat sehen sich Artmann-Leserinnen und -Leser mit einer Fülle intertextueller Fremdbezüge konfrontiert, die in ihrer Herkunft und Bedeutung zunächst einmal rekonstruiert werden müssen. Jede Form der Bezugnahme auf andere Texte holt dabei immer zwangsweise bereits zeichenhaft Gespeichertes aus dem jeweiligen Ursprungskontext heraus, nimmt es in sich auf und setzt es damit in einen neuen Kontext. Vor dem Hintergrund der Intertextualität als Charakteristikum der Literatur Artmanns darf die Erklärungskraft der „Proklamation“ als explizite Poetik für eine sinnvolle Interpretation seiner späteren Werke doch wenigstens vorsichtig in Frage gestellt werden.
Artmann beschäftigte sich immer wieder mit Elementen aus der früheren und zeitgenössischen Populärkultur und verwies auf sie. Wenngleich eine eingehende Beschäftigung mit Comics, Werbung, Kino, Schlagermusik usw. in der deutschsprachigen Literatur, so der germanistische Forschungskonsens, erst spät mit den programmatischen Pop-Literaten wie Rolf Dieter Brinkmann und Hubert Fichte einsetzt,5 findet man bei Artmann bereits in den 1950er Jahren populär kulturelle Versatzstücke. Die populärkulturellen Referenzen beschränken sich nicht auf die im obigen Zitat genannten Detektivhefte der 1920er Jahre und Comics; gleichwohl sind diese sicherlich die signifikantesten populären Bezugsgrößen.
Im Folgenden möchte ich anhand des Gedichts „fia n dom schak“ (1958) sowie des schwedischen Tagebuchs Das suchen nach dem gestrigen tag oder schnee auf einem heißen brotwecken. eintragungen eines bizarren liebhabers (1964) und einiger Gedichte aus allerleirausch. neue schöne kinderreime (1967) dem Verhältnis von Literatur und Populärkultur in seinem Frühwerk exemplarisch nachgehen. Mit einer Lektüre der Texte Artmanns sowie derjenigen (auch nicht-literarischen) Texte, mit denen seine Texte intertextuell in Beziehung stehen, sollen relevante Kontexte erschlossen werden, vor deren Hintergrund sich die jeweilige Bedeutung seines literarischen Umgangs mit Populärkultur erst rekonstruieren lässt. Wenn ich hier die Bezüge zur Populärkultur als einen Spezialfall von Intertextualität aufgreife, ist das insofern nicht nur für die Interpretation seines Werks relevant, als die wechselseitigen Beziehungen von Hochkultur und Populärkultur, von hoher einmaliger Kunst einerseits und niederer massenhafter Unterhaltung andererseits, in der Vorgeschichte der Pop-Literatur, also von 1950 bis 1970, bisher größtenteils ungeklärt geblieben sind.
Es lassen sich im besagten Zeitraum in verschiedenen literarischen Texten partikulare Stellen beobachten, an denen unterschiedliche populärkulturelle Elemente Eingang in die Hochkultur finden. Über diese Textspuren, die in das Feld der Populärkultur hineinführen, lassen sich folglich die semiotischen Operationen der diskursiven Partikel im hochkulturellen Text und mithin der Dialog zwischen dem Populären und der Hochkultur der Nachkriegszeit en detail analysieren. Obgleich unter der Ägide der Frankfurter Schule und im Kontext der Debatten um „Schmutz und Schund“ der Nachkriegsjahre die Grenzen zwischen E- und U-Literatur im deutschsprachigen Raum deutlich gezogen sind, macht sich bei aller Ablehnung auch eine nicht zuletzt besonders ambivalente Faszination im Interesse für die Populärkultur nicht nur im Schaffen Artmanns bemerkbar. Zu nennen wären etwa die Gedichte „Bar“ (1953) und „Impromptu“ (1954) von Gottfried Benn sowie dessen programmatische Äußerung aus „Kleiner Kulturspiegel“ (o.J.): „Ein Schlager von Rang ist mehr 1950 / als 500 Seiten Kulturkrise.“ (Benn 1986: 150); die Funkmontage Der Tod des James Dean (1959) von Alfred Andersch, in der Jazzmusik von Miles Davis zur Untermalung von einmontierten Passagen aus einem Essay von John Dos Passos zu James Dean zusammen mit Ausschnitten aus einer Boxreportage und dem Gedicht „Howl“ (1955) von Allen Ginsberg, der Hymne der Beat Generation, eingesetzt wird; kulturkritische Anspielungen wie z.B. auf die Werbe- und Unterhaltungsindustrie von Hollywood in Ingeborg Bachmanns Gedicht „Reklame“ von 1956 („und wohin tragen wir / am besten / unsre Fragen und den Schauer aller Jahre / in die Traumwäscherei ohne sorge sei ohne sorge“; 1982: 114); Arno Schmidts Tagebuch-Erzählung Leviathan oder die beste der Welten (1949), deren Ich-Erzähler trotz seiner apodiktischen Ablehnung des Schlagersongs „Man müsste Klavier spielen können“ („wir sind gerichtet“; Schmidt 1987: 40) auch Gutes für die Populärkultur übrig hat: „Anne war schon neben mir und ihr Marlene-Dietrich-Profil verstörte mich wieder in selige Knechtschaft.“ (43); oder die kaum beachteten, aber literarisch hochinteressanten Porträts in Jean Amérys Teenager Stars: Idole unserer Zeit (1960).
Es fällt vor dem Hintergrund dieses kurzen, selektiven Überblicks einiger vorsichtiger Annäherungen an die U-Kultur in der Nachkriegszeit nicht schwer, Artmann in Bezug auf seine Beschäftigung mit verschiedenen Segmenten aus dem Bereich des Populären einen „Pionier“6 zu nennen, oder ihn sogar an den Anfang der Pop-Literatur zu setzen.7 Wie wohl kaum ein anderer Autor hat er, zumal im kulturkonservativen Umfeld der österreichischen Nachkriegsliteratur (Alexander Lernet-Holenia, Heimito von Doderer, Paula Grogger, Gertrud Fussenegger usw.), entschieden für die Anerkennung von U-Kultur argumentiert:
Ich habe immer versucht, Trivialliteratur zu erhöhen und Hochliteratur ohne Häme, a bissel liebenswürdig runterzudrücken. (Artmann 1995: 34; zit. nach Schuster 2004: 158)
II. Tom Shark: jugendliche Begeisterung, Schund-Diskurs und implizite Poetologie
In der Auflistung der Lektüren Artmanns nennt Klaus Reichert in dem „Zettelkasten für ein Nachwort zu H.C.“ nicht zu Unrecht an erster Stelle die Tom Shark-Heftchen „als Fibel- und Elementenbüchlein“ (1970: 381). Tom Shark (Der König der Detektive) ist eine Heftromanserie, die, von 1928 bis 1939 in billigen Groschenheftchen8 vertrieben, neben anderen Detektivreihen wie Frank Allan: Der Rächer der Enterbten, Der Weltdetektiv oder Der neue Excentric Club eine der erfolgreichsten und von autoritärer Seite als Schundliteratur diffamierten Lektüren jugendlicher Leserinnen und Leser der Zwischenkriegszeit war (vgl. Weiland 2010; 2012). Die über die Figur Pitt Strang, den Freund des amerikanisch-deutschen Detektivhelden Tom Shark, vermittelten Erzählungen kommen in jedem Heft tendenziell mit den immer gleichen Story-Strukturen aus. Weniger an Figurenpsychologie, Handlungsmotivation und komplexen, kausallogischen narrativen Strukturen interessiert, liefern die Kolportagetexte in erster Linie eine auf Unterhaltung zugeschnittene schablonenhafte Aneinanderreihung von Sensations- und Attraktionsmomenten: atmosphärische Schilderungen, Vermummungen, zeitweise Gefangennahme der beiden Protagonisten durch die Verbrecherbande und die darauf folgende Befreiung, happy end mit der spektakulären Verhaftung des Verbrechers, Ankündigung der Verstrickung im nächsten Heft usw., die nach eigenen Angaben auch Artmann begeistert haben:
[…] so kleine Sachen, die haben wir untereinander hergezeigt, selbstersonnene Detektiv-Abenteuer, eine Unmenge Schulhefte mußte daran glauben. Auf die Umschläge aus dünnem Karton haben wir reißerische Bilder gemalt. Ein jeder erfand seinen eigenen Detektiv. […] Als Vorlage dienten uns die Tom-Shark-Hefte.9
Wenn also Artmann im Gedicht „fia n dom schak“ aus seinem Gedichtband med ana schwoazzn dintn. gedichta r aus bradnsee (1958), mit dem er bekanntlich seinen literarischen Durchbruch erlebte,10 ein durch die Lektüre von Detektiv-Heften mit Tom Shark beeinflusstes kindliches Abenteuererleben evoziert, ist die Heftserie längst historisch:
FIA N DOM SCHAK
amoe en mein lem no
meched e
domschakbiachln dauschn gee
fon bradnsee ume
in d rosnschdaagossn
bloßfiassech
en suma
waun d sun brend
met de zechn
en woaman assfalt..
aus jedn haus hot domoes
a bealina bankrauwa
oda r a r opiumschmugla
außagschaud
aus jedn mistkiwö
a dode leich!
und waun s d einegaunga bisd
en so a haus
zun diadafalbeowochtn
woa s soo küü drin
und soo schdüü
wia r en ana kiachn
en dera wos s grod zmitog
an köch kocht haum..
owa r unsa dom schak
mezzaumt n bit schdrong
is lenxt scho in himö
bei de gaunzn aundan dedektif
fon fuagestan…
(Artmann 1993, III: 40f.)
FÜR DEN TOM SHARK
einmal in meinem leben noch
möchte ich
tomsharkhefte tauschen gehen
von breitensee hinüber
in die rosensteingasse
bloßfüßig
im sommer
wenn die sonne brennt
mit den zehen
im warmen asphalt..
aus jedem haus hat damals
ein berliner bankräuber
oder ein opiumschmuggler
herausgeschaut
aus jedem mistkübel
eine tote leiche!
und wenn du reingegangen bist
in so ein haus
zum türtafel-beobachten
war es so kühl drinnen
und so still
wie in einer kirche
in der sie gerade zu mittag
kohl gekocht haben..
aber unser tom shark
mitsamt dem pitt strong
ist längst schon im himmel
bei den ganzen anderen detektiven
von vorgestern…
Zentral ist der nostalgische Wunsch, die Kindheit noch einmal erleben zu dürfen. Wichtiger als der Inhalt der Hefte, von dem man nur einige der erwartbaren Topoi (Bankräuber, Opiumschmuggler, Leiche) erfährt, sind die biografisch-imaginierten Abenteuermomente einer vergangenen Zeit, die mit der nostalgischen Erinnerung an Tom Shark verbunden sind. Die zwei mittleren Erinnerungsstrophen in der Vergangenheitsform werden dabei gerahmt von der ersten Strophe, die im verklärenden Ton die Erinnerungsmomente einleitet, und der letzten, die, ebenfalls im Präsens, das Gedicht schließlich im wehmütigen Stoßseufzer enden lässt, die geliebten Detektive seien längst „in himö“. Die eigene Kindheitsgeschichte und die Welt von „fuagestan“, die mit der direkten Ortsbenennung von Breitensee und, noch spezifischer, der Rosensteingasse offenbar in Wien angesiedelt ist, wird von der Diegese der Tom Shark-Hefte überlagert:
aus jeden haus hot domoes
a bealina bankrauwa
oda r a r opiumschmugla
außagschaud
Dazu muss man wissen: Die Abenteuer von Tom Shark spielen nicht ausschließlich, aber meistenteils in Berlin, wo die Detektivfigur ihre Wohnung hat. Auch der Einsatz von atmosphärischen Effekten, wie der Übergang von sommerlicher Wärme („en suma […] / en woaman assfalt“) zur schaurigen Kälte des Geheimnisvollen, lässt an Tom Shark erinnern. Da Artmann, wie bekannt, im Wiener Stadtrandgebiet Breitensee aufwuchs, enthält die exakte Verortung der Gedicht-Diegese nicht zuletzt eine persönlich-autobiografische Dimension. In der Rede von „unsa dom schak“ wird überdies eine Zugehörigkeit zu einer Ingroup und das Gefühl des Eingeweiht-Seins vermittelt. Das lässt sich nicht nur inhaltlich festmachen, denn es ist insbesondere die eigenartige schriftliche Umsetzung der Dialektsprache, die als Substandard bereits die Sprache des Ich ist. Das Gedicht adoptiert also den Sprachduktus des lyrischen Ich aus der Vergangenheit, sogar bis ins Vermeiden von Passivkonstruktionen („wos s grod zmitog / an köch kocht haum“) und in den absichtlich naiven Stilfehler des Pleonasmus „dode leich“ hinein.
Weniger manifest als das primäre Zurücksehnen nach der eigenen Kindheit sind die semantischen Leistungen, die das Gedicht durch die Nennung des Detektivhelden mit Bedeutung aufladen und auf die Artmann selbst die Aufmerksamkeit seiner Rezipientinnen und Rezipienten lenkt. Im Wörterverzeichnis der Originalausgabe von med ana schwoazzn dintn, in dem einige Wörter und Ausdrücke ins Hochdeutsche übersetzt und zum Teil mit einer kurzen Erklärung erläutert werden, heißt es zu den „domschakbiachln“: „einst von der Jugend hochgeschätzte Lesehefte, fälschlich als Schmutz und Schund diffamiert“.11 Es ist mithin der Schund-Diskurs, der nicht nur die Heftserie Tom Shark, sondern auch die „gaunzn aundan dedektif“ seit ihrem Erscheinen begleitet hat und der den unmittelbaren kulturellen Kontext von Comics, Unterhaltungsfilmen, Illustrierten und Groschenheftserien bis in die 1960er Jahre hinein abgibt. Dabei ist die große Schmutz- und Schund-Debatte der Nachkriegszeit, auf die Artmann in den Anmerkungen anspielt, so etwas wie eine Renaissance des bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts gegen die U-Kultur geführten Schundkampfes.12
Wie immer, wenn sich neue Unterhaltungsformate etablieren, galten auch die populären Medien, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts während der aufkommenden Freizeit- und Unterhaltungskultur stark verbreiteten, den bürgerlich-konservativen Bildungseliten als suspekt. Die befürchteten Lektüre-Folgen von Schund, insbesondere bei der Leserschaft im empfänglichen Kindesalter – wie sittliche Verrohung, Verblödung und vor allem der Drang zur Nachahmung von Gewalt-Darstellungen – wurden mit Versuchen, die Verbreitung von Schund-Literatur zu unterbinden, bekämpft. Die kolportagehafte Verbreitung und die Demokratisierung des Unterhaltungsmarktes, dank deren auch die Arbeiterschaft die von ihr gewünschten Unterhaltungsangebote eigens auswählen konnte, wurden kritisiert, denn, so die gängige Argumentation, die unkritische Masse wähle erwartungsgemäß ausgerechnet die Literatur, die zwar unterhält, aber ihrem geistigen Zustand abträglich ist. Schließlich gipfelten diese Bemühungen in der Weimarer Republik 1926 in der Verabschiedung des „Gesetzes zur Bewahrung der Jugend vor Schund- und Schmutzschriften“. Während sich die Schundbekämpferinnen und -kämpfer über die Gefahren von Schund und die Notwendigkeit seiner Bekämpfung einig waren, standen hinter den Debatten direkt oder indirekt die Fragen, wie sich Schmutz und Schund bestimmen ließen und was im Gegensatz dazu das Wesen der hohen Kunst ausmache. „Reißerische“ Detektiv- und Abenteuergeschichten in Groschenheften, Illustrierten sowie im Kino galten als Schund, pornografische Inhalte wurden eher als Schmutz bezeichnet. Während der Schund der Leserschaft nur Schaden zufüge, ließe sich die Hochkultur, so die Hoffnung, für ein Erziehungsprojekt für die Masse nutzen.
Andererseits zielten die Bestrebungen gegen minderwertige Erzeugnisse der Massenkultur auch auf die „Hebung des Geschmacks der einfachen Leute und ihre[r] Versorgung mit ,gesunder Geistesnahrung‘ und ,wahrer Kunst‘“.13 Die Schriften gegen Schmutz und Schund waren also zugleich Werbeschriften für „gute“, „moralische“, „wertvolle“ Literatur im Dienst einer kulturellen Volkserziehung.14 Dass das Propagieren eines pädagogisch wertvollen Literaturkanons, der vor der befürchteten Kriminalisierung jugendlicher Leser schützen sollte, nicht immer auf fruchtbaren Boden stieß und die jugendlichen Leser sogar auf Kosten der Schulausbildung ihre Heftchen lasen, wurde in der Debatte zum Schreckensszenario schlechthin:
Selbst in die Schulstunden hinein wurden vereinzelte Heftchen geschmuggelt, vor allem in die Religionsstunde […]. Statt in der Gesangsstunde Noten zu schreiben oder im Deutschen den Aufsatz zu entwerfen, wurden da und dort solche Heftchen hervorgezogen. […] Jeder unbewachte Augenblick wurde zum Lesen verwendet, vom frühen Morgen im Abort bis nachts beim Schein der Taschenlaterne im Bette.15
Vor dem Hintergrund dieses Diskurses wird erkennbar, dass die affirmative Nennung von Tom Shark und den anderen Detektiven in „fia n dom schak“ also mit einem durchaus anti-autoritären Gestus erfolgt. Im Gedicht wird mithin genau das positiv aufgeladen, worüber Pädagogen und Bildungseliten zur Zeit des Erscheinens von Tom Shark ihre Befürchtungen aussprachen: die leichte Verführung der jungen Leserschaft von Heftserien durch die Reize der dargestellten Abenteuer („aus jedn haus hot domoes…“) und der Nachahmungstrieb, hier im Detektivspiel („diadafalbeowochtn“). Das Gedicht spricht, wenn man so will, aus dem Mund der Vertreter des Schund-Diskurses, um den als Schund inkriminierten Detektivhelden komplett umzuwerten. Das geht sogar so weit, dass Artmann den Prototyp der gefährdeten Leserschaft, das Arbeiterkind aus proletarischer Unterschicht, nicht nur sprachlich andeutend wiederholt, sondern den Ort seiner Kindheit, das Stadtrandviertel Breitensee, zum Schauplatz macht und sich das lyrische Ich barfuß stehend auf dem Asphalt vorstellt.16
Damit ist dem Gedicht auch eine poetologische Aussage inhärent, die gleichwohl nicht explizit gemacht wird. Die bejahende Deutung der verfemten Erzeugnisse der Massenkultur ist nämlich in der Logik des Schund-Diskurses gleichzeitig eine Absage an einen von Autoritäten vorgeschriebenen pädagogisch wertvollen Literaturkanon, in den sich der Text von Artmann offenbar nicht fügen möchte. Nicht zuletzt ist ebenso die idiosynkratische Dialektsprache, die ja ohnehin als trivial, provinziell und nicht literaturfähig galt, anti-normativ zu lesen.
In Das suchen nach dem gestrigen tag wird die Aufwertung der Detektivliteratur gegen ihre Herabstufung als in jeder Hinsicht wertlosen und gefährlichen, weil verblödenden Schund noch einmal auf die Spitze getrieben:
In meinem kleinen taschenalmanach steht indes über die Azoren nicht mehr, als daß sie incl. Madeira zu Portugal gehören. Das wußte ich aber bereits um 1929, Percy Stuart hatte mir darüber aufschluß gegeben und ich bin ihm für manches dankbar. (Artmann 1997: 103)
Artmann gewinnt dem massenkulturellen Material der Detektivserien, das über die Diskurszitate in „fia n dom schak“ aufgerufen wird, also durchaus gegenkulturelle Energie ab und instrumentalisiert es für eine literarische Selbstprofilierung gegen ästhetische Normen, Literaturkonventionen sowie bildungsbürgerlichen Elitismus und Konservatismus.17 Die Massenkultur schlägt im Medium der Literatur zurück. Die gängige Unterscheidung in eine kritische, subversive Populärkultur und eine naive Massenkultur, die laut Adornos Résumé über Kulturindustrie (1963) „durch ihre zivilisatorische Bändigung um das ungebärdige Widerstehende“ (2003: 337) gebracht wurde und nur noch zu unterhalten vermag, wird von Artmann im Text außer Kraft gesetzt. Das mag zwar text-inhärent nicht angesprochen werden, doch aus dem Kontext der Schund-Debatten, die im Paratext genannt werden und auf die Artmann im Gedicht anspielt, erschließt sich diese Bedeutung dennoch indirekt.
III. Li’l Abner: Literatur mit Großbuchstaben, Populärkultur und Demokratie, Avantgarde
Artmanns intensivste Auseinandersetzung mit Populärkultur, und spezifischer auch mit Pop, findet sich zweifelsohne am prägnantesten im bekannten programmatischen Plädoyer für die Populärkultur in Das suchen nach dem gestrigen tag. Josef Dannenberg bezeichnet den Text als einen „Pop-art-Züge vorwegnehmende[n] experimentelle[n] […] Tagebuch-Roman“ (1981: 9), und Karl Riha rühmt das Tagebuch als „erste[n] deutsche[n] Poproman“ (1986: 96) und bemerkt schon früh, dass Artmann, „als von ,Pop‘ in der Literatur noch kaum jemand sprach, zum ersten Vertreter einer deutschen ,Pop‘-Prosa avancierte.“18 Dabei geht es nicht nur um die im Text genannten populärkulturellen Versatzstücke, sondern auch um die paradigmatischen Verfahren des Textes (158).
Die Widmung, die dem Prolog vorangestellt ist, kann demnach in erster Linie poetologisch gelesen werden:
Ich widme dieses diarium höflichst
den schmetterlingen Saskatchewans
den papageien der Tierra del fuego
und den colibris des Rauriser tals
(1997: 8).
Wie in dieser Folge von Kanada über Südamerika nach Österreich, so setzt sich der Text zum größten Teil aus Katalogen unterschiedlichster Diskurselemente zusammen, hinter denen die traditionelle Tagebuch-Form teilweise nur in der Anordnung der 92 aufeinanderfolgenden Tageseinträge erkennbar bleibt. In dieser Paradigmatik stehen Hoch- und Populärkultur zumindest qualitativ nebeneinander. Neben dem dichten Netz aus Verweisen auf die Hochkultur – vor allem die Oper wird vom Ich-Erzähler geschätzt – ist der Text mit populärkulturellem Material gesättigt, wiederum auch mit Detektivliteratur:
Poirot ist dumm, Maigret ein netter spießer, Lemuel Caution hat einen uneingestandenen hodenbruch, The Saint ist ein kompletter trottel, Holmes ein elender geiger, sonst jedoch geistreich, Lord Peter Whimsey ist albern, Nat Pinkerton verstand sein metier, Cardby log bisweilen das blaue vom himmel herunter, The Phantom leidet an furunkeln, Percy Stuart führte stehend aus, was er sich liegend vornahm [er gehört zu den wirklich großen], […] Frank Allan war ein ausgezeichneter spürhund, über James Bond möchte ich jedoch nur sagen, daß er falsche beweise liefert.
Die besten abenteuer Tom Sharks, des königs der detektive, waren Die Opiumschmuggler von Montmartre und Me Wang der Chinese.
(Artmann 1997: 85)
Die Binnendifferenzierungen zeigen, dass nicht alles Populäre bei Artmann schlichtweg positiv markiert ist. Insbesondere der Schlager ist auf der Bewertungsskala in Das suchen nach dem gestrigen tag eindeutig negativ besetzt: „Die deutsche schlagermusik wird, im gegensatz zur angloamerikanischen, von tag zu tag ärger. Sie ist der unheilbare tripper der radioapparate […]“, und etwas später:
Man müßte alle schlagertextdichter und -dichterinnen mit mittleren brunnröhren schänden…
(1997: 49, 75).
Unklar und offenbar irrelevant bleibt indes, warum das Ich gerade den Schlager degoutiert und die beiden genannten Tom Shark-Hefte favorisiert; letztendlich geht es in Das suchen nach dem gestrigen tag also doch um systemische Oppositionen:
Mickey Spillane gelesen, Goethe verworfen.
(10)
Die Bevorzugung von Spillane, dem Erfinder von Mike Hammer, der wohl schroffsten Detektivfigur aus dem Bereich des amerikanischen hard boiled Krimis, gegenüber Goethe, der hier wohl bewusst etwas klischeehaft auf high culture verweist, dient nicht der Herabstufung hochkultureller Gegenstände, sondern zielt in erster Linie auf eine angemessene Würdigung populär-kultureller Erzeugnisse als Literatur. Dementsprechend richtet sich die Missbilligung nicht gegen die high brow Literatur an sich, sondern, so Artmann, gegen deren wenige Vertreter:
Es wäre heute immerhin an der zeit, sich bei uns zu bequemen, Comic Writing als das anzuerkennen, was es schon längst geworden ist, nämlich Literatur. Gelesen wird sie von den 97%, die keine ahnung von Joyce oder Musil haben [sei’s drum], doch wäre es meiner meinung überaus wichtig, daß sich die 3%, die Joyce und Musil [seit wann tun sie’s überhaupt?] zu lesen vorgeben, auch über Comic Writing informieren wollten. Was geschieht indes aber tatsächlich? Der intellektuelle [sic!] lächelt bei solch einer zumutung nachsichtig, kommt sich für derartige kindereien zu gut vor &c. &c. So weit, so gut: In einigen zwanzig jahren wird man über diese ,Comics Epoche‘ tiefgründige abhandlungen schreiben [wir wußten das schon immer &c. &c.] und somit über das, was eben noch ignoriert, aufs subtilste klugscheißen [siehe den gegenwärtigen Dadarummel].
(1997: 33f.; eckige Klammern im Original)
Bei der konsequenten Kleinschreibung von deutschen Substantiven in Das suchen nach dem gestrigen tag fällt die Großschreibung von „Literatur“ auf; angespielt wird damit auf das vorangegangene Steinbeck-Zitat, das den in Europa („Yurrp“) üblichen Gebrauch des Wortes „Literatur“ in Großbuchstaben verspottet („[They spell it in capitals in Europe.]“; 1997: 33). Wenngleich die Bezeichnung „Literatur“ also sicherlich in parodierenden Anführungszeichen steht, wird hier der absolute Gestus deutlich, mit der das autornahe Erzähler-Ich auch an anderer Stelle im Tagebuch Comics aufwertet:
Der einzige mensch, der es heutzutage noch versteht, ordentlich die welt zu besehen, ist Donald Duck.19
Die Entschlossenheit, mit der Artmann Comics als Literatur ernst nimmt, hängt mit dem Vergleich zwischen „bei uns“, und d.h. vor dem Hintergrund des Zitats von Steinbeck in erster Linie Europa, und den USA zusammen:
In Europe writers are taken seriously as Lana Turners legs are in America – a ridiculous situation.
(33)
Während nach Steinbeck die Beine einer Filmschauspielerin, die hier synekdochisch für die Populärkultur steht, in den USA genauso ernst genommen werden wie Schriftsteller in Europa, möchte Artmann dieses Verhältnis nun umgekehrt haben. Gegenüber den Schriftstellern, den Vertretern von hoher Literatur, soll, so sein Plädoyer, Populärkultur aufgewertet und ernst genommen werden. Die entschiedene und fast selbstverständliche Anerkennung der Literarizität von Comics geht also mit einer Desavouierung des „Intellektuellen“ einher, dessen falsche Ernsthaftigkeit und Überheblichkeit („kommt sich für derartige kindereien zu gut vor“) vor allem in den Klammerbemerkungen („[sic!]“, „[seit wann tun sie’s überhaupt?]“) ironisch untergraben wird. Das lässt sich, wie unten ausführlicher dargestellt, auch politisch interpretieren:
Die Vorstellung von einer Kunst für die ,Gebildeten‘ und einer Subkunst für die ,Ungebildeten‘ bezeugt den letzten Überrest einer ärgerlichen Unterscheidung innerhalb der industrialisierten Massengesellschaft, die nur einer Klassengesellschaft zustünde.
(Fiedler 1994: 31)
Noch vor Erscheinen des Textes von Leslie A. Fiedler wird also dessen bekannte Forderung „cross the border – close the gap“ in Artmanns Plädoyer bereits eingelöst.
Analog zu dem hochnäsigen Intellektuellen, der in seiner vermeintlichen Einzigartigkeit ( darauf deutet die Singularform hin) nicht zu der großen „Masse“ der Comic-Leserschaft gehören möchte, beinhaltet jedoch auch die Verteidigung Artmanns eine Pose, die auf Distinktionsgewinne abzielt, und zwar gegen eben jenen. In der Differenzsetzung, der Urgeste jeder Avantgarde, werden demnach auch hier populärkulturelle Phänomene, denen die prominentesten Beteiligten der Debatten um Schund in der Nachkriegszeit jede Form von Oppositionspotential absprechen, gegenkulturell uminterpretiert. Wie bei Steinbeck, der Al Capp gar als Kandidaten für den Literaturnobelpreis vorschlägt, gilt auch in Das suchen nach dem gestrigen tag die Bezeichnung „Literatur“, zumal in ihrer (wenn auch parodierenden) Großschreibung, als Konsekrationsetikett für ein verschmähtes Kulturgut. Damit ist nach ästhetischen Kriterien die Differenz zwischen high und low culture im Modus des Literarischen aufgehoben, doch das Bezugssystem, von dem aus argumentiert wird, ist und bleibt auch bei Artmann die Hochkultur. Obgleich sich der Text einer normativen Zugehörigkeit zum System der Joyce- und Musil-Leser verweigert, ist die textinterne Haltung also durchaus ambivalent. In der Tat müssen Populärkultur und Hochkultur, wie bei Artmann erkennbar, keinen grundsätzlichen Gegensatz bilden, denn die Inklusion minderwertigen Fremdmaterials kann vor allem auch als eine Innovationsstrategie der Avantgarde gelesen werden (vgl. Groys 1992). Avantgardistisch ist somit gerade Artmanns Hinwendung zu und sein Aufgreifen von Pop. Wie Groys in seinem Kreislaufmodell von Kultur beschreibt, holt Artmann populär-kulturelle Inhalte durch die Aufnahme in seine Texte aus dem „profanen Raum“ heraus und stellt sie in eine Sphäre des kulturell Wertvollen („Literatur“). Die Diskussion um diese Umdeutung ästhetischer Werte wird in den Text selbst hineinverlegt, wobei das Gefälle zwischen Hoch- und Populärkultur bewusst markiert bleibt, wenn im Tagebuch von „kindereien“ die Rede ist.
Wie häufiger im Tagebuch folgen diese Reflexionen auf eine als zufällig beschriebene Begebenheit, den Fund von Al Capps The World of Li’l Abner (1952) in einem Buchladen. Artmanns Argumente für die Anerkennung von Comics als Literatur stützen sich größtenteils auf Steinbecks Argumentation im Vorwort zu The World of Li’l Abner, einem seinerzeit sehr populären US-amerikanischen Satire-Comics mit gesellschaftskritischem Impetus. Bei Steinbeck heißt es:
In my claim that Capp is probably the greatest contemporary writer and my suggestion that if the Nobel prize committee is at all alert, they should seriously consider him, I run into people who seem to feel that literature is all words and that those words should preferably be a little stuffy. Who knows what literature is? […] If people don’t read it, it just isn’t going to be literature.
(Steinbeck 1953: o.S.)
Und etwas früher im Text:
How in the hell do we know what literature is? Well, one of the symptoms or diagnostics of literature should be, it seems to me, that it is read, that it amuses, moves, instructs, changes and criticizes people. And who in the world does that more than Capp?
(Steinbeck 1953: o.S.)
Demnach treten sowohl Steinbeck als auch Artmann für eine Anerkennung von Pop als einer genuin demokratischen Kultur der Gegenwart ein. Während die Hochkultur der „umhegte[] Bereich“ (Marcuse 1989: 85) einer privilegierten Kulturelite – bei Artmann: der 3 Prozent – bleibt, in dem die hohe, reine Kunst aufgehoben ist, führt die massenhafte Verbreitung und Ausdifferenzierung des aufkommenden Popsystems in den 1950er und 1960er Jahren zu einer Pluralisierung und Demokratisierung von Kulturangeboten und Konsummöglichkeiten unter westlichen Marktbedingungen. Gerade dieser Umstand wurde in den Schmutz- und Schunddebatten der Nachkriegszeit, die bekanntlich unmittelbar von der Gesellschafts- und Kapitalismuskritik der Kritischen Theorie begleitet wurden, heftig diskutiert. Zwar ist Marc-Oliver Schuster zuzustimmen, wenn er behauptet, Artmanns Haltung zur Populärkultur beinhalte keine „pragmatic ,anti-‘ or ,counter-‘-aspects“ (2010: 89), doch täuscht die These allzu leicht über die politische und gesellschaftliche Brisanz der Beschäftigung mit Populärkultur hinweg, nicht zuletzt im Kontext der österreichischen Nachkriegszeit. Auf dieses Politikum weist auch Artmann selbst im Tagebuch hin:
Da Adolphus Hitler an die macht gelangte, war es sein erstes, die guten abenteuer zu verbieten und durch lächerlich schlechte zu ersetzen. Surrogate, herr Hitler! Wie weit er damit gekommen ist, hat uns die geschichte gelehrt. Und, hätte W.I. Lenin mehr in herrn Holmes’ Geheimacten als in Marxens ,Capital‘ gelesen, ich könnte heut noch ungehindert nach Omsk, Tomsk und Novosibirsk reisen.
(Artmann 1997: 86)
Während Artmann Populärkultur und Demokratie korreliert, galt insbesondere die (anglo-amerikanische) Populärkultur in der Demokratisierungsbewegung im Nachkriegsösterreich als ungewünschte Begleiterscheinung der politischen Interventionen der Besatzungsmächte (Blaschitz 2008: 179). Damit steht die popkulturelle Affirmation bei Artmann, nicht zuletzt durch den Verweis auf Steinbeck, im Kontext der sogenannten Amerikanisierung, die zum agitatorischen Schlagwort der Bewegungen gegen Schmutz und Schund wurde. Auch Adorno und Horkheimer sprechen mit dem bekannten Verdikt „Vergnügtsein heißt Einverstandensein“ aus der Dialektik der Aufklärung (1944) der Kulturindustrie jede Form von Widerstand gegen gesellschaftliche Unterdrückung ab (Horkheimer/Adorno 1969: 153). In ihrem Warencharakter und mit dem leichten Amüsement, das sie liefern, seien die massenhaften Erzeugnisse der Kulturindustrie der Widerstandslosigkeit preisgegeben und nicht mehr, wie noch die hohe Kunst, Ausdruck einer Autonomie, in der eine Gegenposition zur Herrschaft möglich wäre. Anstatt eine „Erziehung zur Mündigkeit“ zu liefern, habe, so Marcuse in Der eindimensionale Mensch (1964), die industrialisierte Gesellschaft die Kritik an ihr in sich aufgenommen. Während die wahre Kunst durch ihre Sublimierung der Wirklichkeit die „Unterdrückung besiegt, indem sie sich ihr beugt“, offenbare sich in der Entsublimierung von Kunst in der fortgeschrittenen Industriegesellschaft eine „wahrhaft konformistische Funktion“ (Marcuse 1989: 95f.). Dass diese Kapitalismuskritik nur vor dem Hintergrund der Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu verstehen ist, ist bei Marcuse ebenso deutlich wie in Adornos Résumé:
Das gemütliche alte Wirtshaus demoliert der Farbfilm mehr, als Bomben es vermochten: er rottet noch seine imago aus.
(2003: 342)
In intellektuellen und hochkulturellen Kreisen ist es also Mitte der 1960er Jahre, und eigentlich bis in die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hinein, durchaus keine Selbstverständlichkeit, für die Populärkultur Partei zu ergreifen. Dies zeigt einmal mehr die exponierte Stellung, die dem Außenseiter Artmann mit Das suchen nach dem gestrigen tag im Kontext der deutschsprachigen Nachkriegskultur zukommt. Weniger als Alternative (so die These Schusters; 2010: 88) denn als Gegenalternative zur Hochkultur ist Pop für Artmann ein Ausweg zur, mit Steinbeck gesagt, muffigen („stuffy“) Literatur der Gegenwart: „Ich aber sage: Pop-literatur ist heute einer der wege [wenn auch nicht der einzige], der gegenwärtigen literaturmisere zu entlaufen“ (1997: 34). Dass mit der Bezeichnung „Pop-literatur“ in erster Linie Comics gemeint sind (Gleba/Schumacher 2007: 17), liegt vor dem Hintergrund des Vorangegangenen und der bis in die 1970er Jahre gängigen Definition von Pop-Literatur als „eine Literatur in Bildern, die Literatur der Comics und des Fotoromans“ nahe (Arias 1978: 88; zit. nach Seiler 2006: 26). Doch auch Artmanns Text ist als Pop verstehbar, wenn man mit Jörg Schäfer unter Pop-Literatur diejenige Literatur versteht, die „keine kulturkritische Anklage gegen die ausufernde Zeichenproduktion der populären Kultur erhebt, sondern diese als Ausgangsmaterial des literarischen Schreibens benutzt“ (Schäfer 1977: 26; zit. nach Seiler 2006: 27). Wie im Falle von Pop-Art ist nicht das im Text aufgerufene populärkulturelle Zeichenmaterial an sich, sondern erst der Umgang damit Pop.
IV. Supermann: Volkskultur und Comics als literarisches Spielmaterial; Artmanns sexualisierende Lektüre
Verweise auf Populärkultur sind bei Artmann häufig mit einer Semantik des Obszönen, Sexuellen, Tabuhaften, Amoralischen, Skandalösen etc. verbunden. Dafür lassen sich auch in Das suchen nach dem gestrigen tag Beispiele finden:
Donald Duck fährt ab [er hat einige minderjährige zuschauerinnen geschwängert und flieht die küche]“ oder in den Titelüberschriften aus einer schwedischen Tageszeitung: „TEENAGER IN ALKOHOLORGIEN VERWICKELT, […] MINDERJÄHRIGE ANGETASTET, […] DONALD DUCK EIN RASSIST? (Artmann 1997: 21, 73).
Bereits die Wiener Gruppe hatte populäre Genres wie das Chanson mit obszönem Inhalt gefüllt; so etwa in ich küsse heiss von Gerhard Rühm:
warum ist denn dein arsch so warm
warum ist denn dein arsch so rund
hier sass das end von deinem darm
am sessel klebt mein heisser mund
(1967: 477).
Unter Beibehaltung standardisierter Formelemente, wie des einsilbigen Endreims und der einfachen vierzeiligen Strophenform mit jambischer Kadenz, wird das genretypische Thema unerfüllter Liebe und der verhüllende Umgang mit Sexualität im Chanson durch den Einsatz von expliziter Fäkalsprache parodiert. Mit den anstößigen, vulgären und nicht zuletzt auch gewalttätigen Darstellungen in den verschiedenen Chansons von Gerhard Rühm, Konrad Bayer und Oswald Wiener werden das Spiel mit Konventionen und der Erwartungshaltung des Publikums sowie die Skandalinszenierungen der Gruppe humoristisch durchgespielt.
Eine ähnliche Strategie verfolgt Artmann mit seinen „neuen schönen kinderreimen“ im Gedichtband allerleirausch (1965–1967). Er zielt jedoch weniger auf eine bewusste Provokation ab; seine Gedichte sind vielmehr Parodie und Klamauk, wenngleich auch sie nicht ganz frei von kritischen Untertönen sind. Der Titel allerleirausch. neue schöne kinderreime verweist auf die von Hans Magnus Enzensberger herausgegebene Kinderliedsammlung Allerleirauh: Viele schöne Kinderreime von 1961. Im Nachwort zu Allerleirauh setzt sich Enzensberger explizit in die Tradition von Achim von Arnim und Clemens Brentano und weist darauf hin, dass die Sammlung als kinderfreundliches Vorlesebuch konzipiert ist (1961: 357, 364). Zwar seien „[m]oralische Bedenklichkeiten“, wie Enzensberger ausdrücklich betont, „für unsere Auswahl kein Gesichtspunkt gewesen“ (358), doch die aufgenommenen Kinderreime und das Beispiel für einen vorgeblich pädagogisch zweifelhaften Reim, den Enzensberger anschließend nennt,20 wirken eher harmlos. Im Gegensatz dazu sind die kurzen Reime von Artmann wohl kaum zum abendlichen Vorlesen für Kinder gedacht:
warte, warte noch een weilchen, bald kommt artmann auch zu dir. mit dem kleenen hackebeilchen, und macht schabefleisch aus dir.
(Artmann 1993, VII: 5)
Das warnende Motto, das auf dem Haarmann-Lied basiert, generiert seinen Humor schon dadurch, dass es durch die „as-if-insertion“ (Schuster 2010: 228) Artmann anstelle des Serienmörders Fritz Haarmann setzt. Damit verweist das Motto nicht nur auf die Tradition des Gassenhauers, sondern es setzt gleichzeitig vor allem den Autor Artmann und mit ihm den künstlerischen Umgang mit eben dieser Volksliedtradition in den Mittelpunkt. Dass sich gerade der Name Artmann zu diesem Bedeutungsspiel („Art“ statt „Haar“) eignet, ist offensichtlich. „hackebeilchen“ und „schabefleisch“ sind, so gesehen, als Beispiele austauschbarer Diskurselemente zu lesen, die Artmann als ästhetisches Spielmaterial nutzt, aus dem die Pastiche-Dichtung in allerleirausch entsteht. Demnach steht das Motto konsequent in zitierenden Anführungszeichen.
Neben diesen und ähnlichen Volksliedelementen stehen die bei Artmann bekannten trivialmythischen Figuren wie Dracula und Frankensteins Monster sowie (Super-)Helden aus Filmen und Comics wie Django, James Bond (als „jimmie bond“), Batman und Superman. Die, nach Adorno, „guten“ Volkskunst-Elemente werden also mit den Produkten der Kulturindustrie verschaltet:
herr supermann, zieh hosen an,
man könnt dich sonst erkennen,
die lois kommt mit der lara an,
sie möchten mit dir pennen.
poing poing – crash crash,
crash crash – poing poing,
sie wolln dich gar umgarnen,
und ich, der heilge kryptonus,
bin da, um dich zu warnen.
(Artmann 1993, VII: 20)
Wie selbstverständlich nennt der Text einzelne Figuren aus dem Superman-Universum und spielt auf typische Elemente und Eigenschaften daraus an. Während Lois (Lane), die Reporter-Kollegin von Supermans Alter Ego Clark Kent, in den sie verliebt ist, und Lara (Lor-Van), die leibliche Mutter von Superman, in den Superman-Comics tatsächlich auftreten, ist „der heilge kryptonus“ eine Erfindung Artmanns. Angespielt wird damit sowohl auf den Planeten Krypton, auf dem Superman geboren wurde und von dem aus seine Eltern ihn kurz vor der Apokalypse per Rakete zur Erde schickten, als auch auf das Mineral Kryptonit, Supermans Schwachstelle. Im Gedicht ist es jedoch nicht Kryptonit, von dem die Bedrohung ausgeht, sondern Sexualität:
die lois kommt mir der lara an,
sie möchten mit dir pennen.
Dass ausgerechnet Supermans Mutter, dazu zusammen mit Lois Lane, quasi mit dem Ziel einer ménage-à-trois den Superhelden begehrt, ist wiederum Ausdruck der pervertierenden Überzeichnung als eines spielerischen Stilmittels in allerleirausch.
Direkt nach dem saloppen „pennen“ lässt sich die typische onomatopoetische Bildsprache des Comics („poing poing – crash crash“), die das Gedicht imitiert und vor allem in der bewusst künstlichen chiastischen Wiederholung kornisch wirkt, als sexualisierte Lautimitationen lesen. Mit der Comic-Sprache werden zugleich auch die Comics an sich als sexualisiert interpretiert. Dementsprechend gerät in „herr supermann, zieh hosen an“ der Superheld selbst unter Verdacht, wenn sich die Aufforderung „zieh hosen an“ auf die kurze und knappe rote Überhose von Superman bezieht, die im Comic nicht zuletzt der offenen Darstellung von Supermaus muskulösem Körper und seiner Männlichkeit dient. Clark Kent, die bürgerliche Undercover-Identität von Superman („man könnt dich sonst erkennen“), taugt im schicken Maßanzug ebenso als Objekt (nicht nur) weiblicher Begierde. Im Gedicht von Artmann ist Superman jedoch nicht der attraktive Held, ausgestattet mit übermenschlicher Superkraft, sondern im Gegenteil derjenige, der gewarnt werden muss und dazu mit der bewusst unpassend bürgerlichen und durch die Verdeutschung von „Superman“ zu „Supermann“ zudem ironisierenden Höflichkeitsanrede „herr supermann“ der Lächerlichkeit preisgegeben wird.
„herr supermann, zieh hosen an“ ist also das Ergebnis einer bestimmten Lesart der Superman-Comics. In ähnlicher Weise wird diese auch dem Superhelden-Duo Batman und Robin zuteil:
batman und robin
die liegen im bett,
batman ist garstig
und robin ist nett.
batman tatüü
und robin tataa,
raus aus den federn,
der morgen ist da!
(Artmann 1993, VII: 38)
Man kennt die doppeldeutige Marsch-Melodie nicht zuletzt aus Stanley Kubricks Full Metal Jacket (1987):
Mamma and pappa were laying in bed, mamma rolled over, this is what she said: now give me some! PT! Good for you and good for me.
Artmann nutzt nicht nur die Semantik dieser Vorlage („PT“ ist die Abkürzung für „physical training“, Matratzensport also), sondern er bedient sich ebenso, wie später auch die Pop- und Underground-Texte von Rolf Dieter Brinkmann und Friedemann Hahn,21 des Schlüpfrigkeitspotenzials der Prätexte mit Batman und Robin, die ja in ihrer innigen Freundschaft und mit ihren camp-fähigen Fetisch-Kostümen schon früh im Verdacht standen, homosexuell zu sein.
Die sexualisierende Lektüre Artmanns sagt also zugleich etwas über die populärkulturellen Texte selbst aus, die offenbar einen solchen Rezeptionsmodus ermöglich(t)en oder zumindest vor dem Hintergrund der Texte Artmanns so gelesen werden können. Die Comic-Kritik, die mit dem Import von Comics aus den USA nach Europa gleichsam miteingeführt wurde (Laser 2000: 67), hat nach dem Zweiten Weltkrieg (im Rekurs auf die Argumentationen der Schund-Debatten der Vorkriegszeit) die als verderblich angenommene Wirkung von Comic-Lektüren auf die Moral und Sittlichkeit ihrer Leserschaft beanstandet. Fredric Wertham weist in seiner einflussreichen Streitschrift Seduction of the Innocent (1954), die bekanntlich zum Referenzwerk der (amerikanischen) Comic-Debatte wurde, darauf hin, dass man auch den durchschnittlichen Comic so lesen kann, dass er verdächtig wird:
Some of the ordinary comic books have illustrations revealing crude sexual details if you look at them in a certain way. The shoulder of a man with a red scarf around his neck shows a girl’s nude body. This is so clear that it can induce the immature reader to look for such things and stir him up sexually.
(Wertham 1955: 185)
Die Batman-Comics seien seiner Meinung nach generell von einer homosexuellen und misogynen Atmosphäre gekennzeichnet (191).
Artmanns Comic-Gedichte erscheinen 1967 in einer Zeit, in der die Comic-Kontroverse und die Schund- und Schmutz-Debatte allgemein im deutschsprachigen Raum bereits verebben bzw. teilweise schon verebbt sind (vgl. Laser 2000: 74). Wie beim Gedicht „fia n dom schak“ und im Plädoyer aus Das suchen nach dem gestrigen tag („Es wäre heute immerhin an der zeit…“) macht sich also auch hier eine historische Dimension auf, die einmal mehr die Kontextbedingtheit der populärkulturellen Versatzstücke in den Fokus stellt. Artmanns sexualisierende Lektüre von Comics insbesondere und die ironisierende Brutalisierung volkskulturellen Zeichenmaterials generell – etwa durch Verniedlichung und Übernahme einfacher Lyrikformen wie etwa den wenig kunstvoll anmutenden Jambus in „herr supermann, zieh hosen an“ – lassen sich, ähnlich wie die Thematik in „fia n dom schak“ und das Comic-Plädoyer in Das suchen nach dem gestrigen tag, als bewusste oder unbewusste Diskursanspielungen lesen. Diese in den Texten Artmanns aufgegriffenen Diskurse funktionieren größtenteils über das Paradigma „Jugend“ oder „Kindheit“. In „fia n dom schak“ ist die Erinnerung an die eigene Kindheitserlebnisse mit (der Lektüre von) Groschenheften verbunden und ist explizit im Kontext der Schunddebatten verortet; Das suchen nach dem gestrigen tag verurteilt die elitäre Herabstufung der Comics als „kindereien“ und nimmt Bezug auf die Vorstellung, die Populärkultur führe zur (politischen) Unmündigkeit ihrer Abnehmer; die Gedichte in allerleirausch schließlich sind bereits im Untertitel als „kinderreime“ definiert, und die Comic-Gedichte spielen nicht zuletzt durch die Sexualisierungsstrategien auf die Comic-Debatte an, deren Vertreter, wie Fredric Wertham, vor dem gefährlichen Einfluss auf die Sexualität vor allem der „immature reader“ von Comics warnten. Dass Artmann dabei nicht vor den – wie der Intellektuelle in Das suchen nach dem gestrigen tag sagen würde – „kindereien“ der Comics und Detektivliteratur zurückschreckt oder diese für eine eindeutige Kritik nutzt, sondern sie als affirmatives, polemisches und spielerisches Textmaterial literaturfähig macht, sie für seine eigenen literarischen Figurationen einsetzt und dabei wesentliche Momente der frühen Popliteratur vorwegnimmt, ist eine Leistung, mit der sich Artmann als echter Avantgardist erwies.
Valentijn Vermeer, aus Alexandra Millner und Marc-Oliver Schuster (Hrsg.): Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes. Weiteres zu H.C. Artmann, Königshausen & Neumann, 2018
Valentijn Vermeer: Literaturverzeichnis
Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)
„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)
Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021
Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021
Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021
Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021
Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021
Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021
Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021
Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021
Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021
Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021
Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021
Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021
Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021
Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021
Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021
Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021
Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021
Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021
Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021
Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021
„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021
Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus
Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021
Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme
Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.
H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.
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