H.C. Artmann: ein lilienweißer brief aus lincolnshire

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von H.C. Artmann: ein lilienweißer brief aus lincolnshire

Artmann-ein lilienweißer brief aus lincolnshire

dich hat der teich
mit schatten umworben.
aus rinde und blatt
ward dir beschieden
ein langsamer traum.
wer gab nach?
wer bezahlte die reise?
wer schrieb an dein herz?

 

 

 

hans carl artmann und die wiener dichtergruppe

als h.c. artmann 1952 nach längerem aufenthalt in der schweiz wieder nach wien und in den art-club kam, hatte er zwar seine „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ (april 1953) noch nicht geschrieben – sie sollte ihm später als argument und geistige stütze für gespreizte finger, steifen nacken und preziöse gestik dienen! −, aber die haltung war da. er hat „Die Zyklopin oder Zerstörung einer Schneiderpuppe“ (Pantomime mit Musik und Rezitation) und „Enthüllungen…“ (1950; kurze prosa im stil louis bertrands) in der tasche. er schreibt seit einigen jahren ohne erfolg. mit der inbetriebnahme des club-lokals unter der kärntner-bar (1951) hatten sich rené altmann, wieland schmied, andreas okopenko und hans weissenborn zu einem kleinen literarischen kreis zusammengefunden. man veranstaltet fallweise lesungen und artmann schließt sich an. diese kleine gemeinschaft, „der keller“ benannt, von den malern eben noch geduldet, duldet nun artmann. okopenko war sich damals wie heute seiner literarischen qualität bewußt. am 29.11.1952 liest artmann: „lancelot und gwynever“, „kleiner roman in bruchstücken“ und „monolog von der traurigkeit der hände“. am klavier: gerhard lampersberg. artmann schreibt für lampersberg den text zu einer kurzoper: „der knabe mit dem brokat“. 1950 waren die ,surrealistischen publikationen‘ von edgar jené und max hölzer bei josef haid in klagenfurt erschienen und hatten bei allen wissenden und den lesern des ,plan‘ starkes interesse gefunden.
fasziniert von artmanns auftritt und seinen enigmatischen ausrufen werde ich. kumpan, dann verehrer, aufmerksamer hörer und mitstreiter für die gute sache der poesie. (er war mir anschauung, beweis, daß die existenz des dichters möglich ist.) rühm, der ihn schon kannte, hatte sich damals unter den jüngeren komponisten einen namen gemacht. er galt als radikaler und erfinder der einton-musik (1950). wir, rühm und ich, zeigen dem meister heimlich, unauffällig und getrennt, mäßige gedichte, werden gelobt, maßvoll kritisiert, und geben nicht auf. artmann hat die fähigkeit, andere nicht merken zu lassen, um wieviel besser er ist. er schreibt: die abende im winter (stimmen der gegenwart 1954); überall wo hamlet hinkam; schön traurig ist der tag; von einem drachen oder der sturz des ikarus; von einem scherenschleifer; von einem riesentöter; vom teufel mit einem soldaten (winter 1952/53). er findet bei uns zustimmung und begeisterung. wir drängen ihn von seinen alten freunden ab. er schreibt: landschaft der semaforen; das märchen vom mädchen mit den roten strümpfen u.a. mit seiner proklamation des poetischen actes leitet er für sich und uns eine neue, wesentliche periode ein:

Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes

Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgend jemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.
Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen. Die alogische Geste selbst kann, derart ausgeführt, zu einem Act von ausgezeichneter Schönheit, ja zum Gedicht erhoben werden. Schönheit allerdings ist ein Begriff, welcher sich hier in einem sehr geweiteten Spielraum bewegen darf.
1. Der poetische Act ist jene Dichtung, die jede Wiedergabe aus zweiter Hand ablehnt, das heißt, jede Vermittlung durch Sprache, Musik oder Schrift.
2. Der poetische Act ist Dichtung um der reinen Dichtung willen. Er ist reine Dichtung und frei von aller Ambition nach Anerkennung, Lob oder Kritik.
3. Ein poetischer Act wird vielleicht nur durch Zufall der Öffentlichkeit überliefert werden. Das jedoch ist in hundert Fällen ein einziges Mal. Er darf aus Rücksicht auf seine Schönheit und Lauterkeit erst gar nicht in der Absicht geschehen, publik zu werden, denn er ist ein Act des Herzens und der heidnischen Bescheidenheit.
4. Der poetische Act wird starkbewußt extemporiert und ist alles andere als eine bloße poetische Situation, die keineswegs des Dichters bedürfte. In eine solche könnte jeder Trottel geraten, ohne es aber jemals gewahr zu werden.
5. Der poetische Act ist die Pose in ihrer edelsten Form, frei, von jeder Eitelkeit und voll heiterer Demut.
6. Zu den verehrungswürdigsten Meistern des poetischen Actes zählen wir in erster Linie den satantisch-elegischen C.D. Nero und vor allem unseren Herrn, den philosophisch-menschlichen Don Quijote.
7. Der poetische Act ist materiell vollkommen wertlos und birgt deshalb von vornherein nie den Bazillus der Prostitution. Seine lautere Vollbringung ist schlechthin edel.
8. Der vollzogene poetische Act, in unserer Erinnerung aufgezeichnet, ist einer der wenigen Reichtümer, die wir tatsächIich unentreißbar mit uns tragen können.
es ist april 1953. nach den großen ferien wird der erste act durchgeführt:

Le premier acte poétique

Une soirée aux amants funèbres:
Décor:
weiße astern oder chrysanthemen
schwarze kleidung (altfränkisch)
schleifen aus schwarzem flor
schleier
räucherwerk
lampions und schwarzsilberne candelaber
Route der procession:
Goethedenkmal – oper – kärthnerstraße – stephansplatz – rotenthurmstraße – stamboul – uraniabrücke – franzensbrücke – hauptallee – prater: illusionsbahn.
Zeit der procession:
samstag, den 22.8.1953
20.00 Uhr.

Die damen und herren der procession mögen in absolut schwarzer kleidung und wohl auch mit weißgeschminktem gesicht erscheinen. Während der procession werden die weißen blumen einer subtilen morbidität vor sich getragen wie auch herbstlich und ultimat brennende lampions oder candelabres. Die melancholie eines flötenspielers geleitet den mit feierIichkeit und tiefer stille schreitenden zug. Seine musik ist von strenger klassik. Der flötenspieler ist mit frischem efeu bekränzt und seine flöte selbst von dunklem flor umwunden. Die perpetuelle verbrennung von specereien und solemnem räucherwerk soll die profunde anmut der ceremonie gebührend unterstreichen.
An den markantesten stellen der procession (c’est à dire: oper – stephansplatz – stamboul- uraniabrücke – franzensbrücke – hauptallee – illusionsbahn)
werden passagen aus den œuvres von Ch. Baudelaire, Edgar A. Poe, Gérard de Nerval, Georg Trakl und Ramón Gómez de la Serna im original deklamiert.

Da das angekündigte und einbezogene praterfest nicht stattfindet, wird die prozession nur bis zur urania geführt und dann in den ,strohkoffer‘ umgeleitet, dem wir die erfindung der kerzenbeleuchtung bescheren. wir haben grabkränze und unsere damen sind verschleiert. vorne geht ferry radax mit einer grablaterne. bis auf kleine pannen folgt der act dem protokoll. auf der kärtnerstraße verursachen wir eine verkehrsstörung. 150-200 personen folgen uns und geben den rahmen für unsere rezitationen.
ein keller wird gefunden. artmann versucht ein theater zu gründen. schutt wird weggeräumt, eine bühne wird gebaut, ein verein wird gegründet. (mein freund oswald wiener taucht in dieser umgebung auf.) geplant ist „hopsignor“ von ghelderode, „sweeney agonistes“ von eliot, vertont von gerhard rühm. daraus wird nichts. es folgen einige poetische acte von großer schönheit: in H.C.’s Franciscan Catacombes Club, Wien 1., Ballgasse 10: „IN MEMORIAM TO A CRUCIFIED GLOVE“ on Saturday the Ninth of January 1954; rum, beer, dancing in torchlight, new-orleans band; the vaults will be opened from 21.00 hours to 5.00 hours. am 5. februar: „das fest des hl. simeon, quasi una fantasmagoria“ (ich führe regie, die schwarze messe kommt nicht recht zustande, die versprochene jungfrau erscheint nicht, die tote taube ist von den ratten gefressen, der satanspriester otto zokan liegt bewußtlos trunken in seinem kohlenkeller, ein übler dilettant muß ihn ersetzen. aber oswald wiener darf raimund ferra in einem schubkarren durch die unterirdischen gänge fahren und in eine grube schütten, wo wir das opfer mit erde bedecken und mir rum besprengen), teddy janata arrangiert eine woche später eine indische reistafel. artmann schreibt: „la cocodrilla“ (theater am lichtenwerd, wien 1963). am 20.2.1954 folgt die „SOIREE MIT ILLUMINIERTEN VOGELKÄFIGEN“. dann wird artmann von der polizei nahegelegt, den klub aufzulösen und den keller zu schließen. der heimstatt entblößt sickern wir ins café glory. pötzlberger, h. jelinek und chilenische anarchisten treten mit uns in lose verbindung. (der „strohkoffer“, vom art-club längst verlassen, ist eine kleine touristenattraktion und zeitweiliger treffpunkt der wiener unterwelt geworden.) artmann schreibt eine reihe kleiner zyklen: „böse formeln“, „treuherzige kirchhoflieder“, „lieder zu einem gutgestimmlen hackbrett“. marc adrian, damals noch bildhauer, begeistert sich eben am goldenen schnitt und schlägt uns vor, dieses verhältnis in die dichtung einzuführen: in adrians atelier wird der METHODISCHE INVENTIONISMUS geboren. wir sind sehr stolz. jeder kann jetzt (1954) dichter werden.
man nehme eine anzahl wörter (: den wortstock, auch verbarium), stelle gleichungen nach dem goldenen schnitt auf (später irgendwelche mathematische reihen, alles war erlaubt) und beginne die wörter danach zu ordnen, auszuzählen bis der wortstock zu ende ist oder sooft durch den wortstock bis alle wörter verwendet sind (etc. ad libitum..): das ergebnis soll eine harmonische struktur sein. rühm steuert seine erfahrung aus der seriellen musik bei. alle (adrian, artmann, rühm, erni wobik und ich) schreiben, daß der bleistift raucht: dichtung als volkssport. im hintergrund sitzt oswald wiener und spielt gitarre. noch fühlt er sich nicht betroffen. methodische inventionen von artmann: ein teil der „epitafe“ (z.b.: „in meinem garten verbluten“). er lockert die methode, modifiziert sie: „sieben lyrische verbarien“ und weiter: „verbarische szenen“ (24.5.1954). ich zähle die „heroische geometrie“ aus; „die tänzer trommeln und springen“. auf der suche nach neuen möglichkeiten wende ich die methode auf ,deutsche silben‘ an (balsader binsam).
im juni erscheint die zweite nummer von alpha, herausgegeben von hans weissenborn und kurt klinger, mit einer konstellation von eugen gomringer (aus: spirale, bern, heft 1). artmann fährt nach holland. er beginnt seine „reime, verse & formeln“. einige gedichte vertont ernst kölz (u.a.: „durch den schornstein“). im september schreibt gerhard rühm seinen einakter „rund oder oval“ (uppsala, 1961 aufgeführt) und „interludium für 2 personen“. im oktober schreibt artmann die szenen und einakter: die fahrt zur insel nantucket, aufbruch nach amsterdam, kein pfeffer für czermak. oswald wiener bringt seine ersten gedichte zur tafelrunde, rühm schreibt „scenisches epitaph für e. w.“.
artmann entdeckt die wiener mundart für seine metaphernreiche lyrik. er schreibt sein erstes DIALEKTGEDICHT („a rosn schwimmt ma fedaleicht duachs bluat“) und beginnt mit der angleichung an eine phonetische schreibung (med ana schwoazzn dintn). gerhard rühm schließt sich diesem unternehmen an, ebenso wie später friedrich achleitner (hosn rosn baa). die annäherung an eine phonetische schreibung für dialekttexte wird fortgesetzt.
wir haben ein neues domizil gefunden! am 13. dezember präsentiert sich: exil: vereinigung für progressive kunst und literatur, wien 1., annagasse 3, im neurenovierten adebar mit einer lesung aus „erweiterte poetik“ von hans carl artmann (u.a.: fische: katwijk an zee, zaubervers für wahlscheiben, tagewerk des honigvogels: für gamaliel neabob long; und: altes fragment: middelburg, weisung: haarlem). es werden bilder von marc adrian, heiner fraundorfer, w. buddy frieberger, fritz hundertwasser, maria laßnig, anton lehmden, hans neuffer und arnulf rainer gezeigt. in der jury für literatur: artmann, blaha, kudrnofsky; musik: ernst kölz, gerhard rühm; bildende kunst: laßnig, adrian, hundertwasser. am 3.1.1955 zeigt gerhard rühm: wort- und lautgestaltung.
bald darauf löst sich die gesellschaft auf. herr karger; besitzer der adebar, beschränkt die privilegien der exil-mitglieder. die new-orleans band (zu der auch oswald wiener und ich gehören) erklärt sich solidarisch und verläßt mit klingendem spiel das lokal. die sache ist aus.
nun beginnt eine sehr produktive zeit. um vier uhr früh verläßt uns artmann, beendet das tägliche exercitium des caféhaussitzens, geht zu fuß nach breitensee und ist am nächsten abend wieder da, unter vorweis der nächtlichen produktion. er schreibt weiter an „reime, verse & formeln“, dialektgedichte, die einakter: „tod eines leuchtturmwärters“ und „nebel und blatt“. ernst kein ist mit artmann befreundet, aber nur gelegentlicher gast.
das COOLE MANIFEST wird unterschrieben, ein tödlicher humor (einige dialektgedichte rühms und achtleitners; letzte reste in „kinderoper“ v. achleitner, rühm, wiener, mir, 1958, und der „schweißfuß“, eine operette 1959/62 v. rühm und mir feiert kurze triumphe, die langeweile wird zum spaß erklärt. ein kalauer ist ein leckerbissen. je schlimmer, desto besser. oswald wiener schreibt formulargedichte und briefumschläge, gerhard rühm: „ballade“. h. jelinik schreibt. artmann übersteht auch diese phase und fertigt: „das los der edlen und gerechten“. gerhard rühm bringt friedrich achleitner zu uns. österreich wird frei: artmann verfaßt ein

MANIFEST

Wir protestieren mit allem nachdruck
gegen das makabre kasperltheater
welches bei wiedereinführung einer
wie auch immer gearteten wehrmacht
auf österreichischem boden
zur aufführung gelangen würde…

Wir alle haben noch genug
vom letzten mal −
diesmal sei es ohne uns!!

Es ist eine bodenlose frechheit
eine unverschämtheit sondergleichen
zehn jahre hindurch
antimilitärische propaganda zu betreiben
scheinheilig schmutz und schund zu jaulen
zinnsoldaten und indianerfilme
(noch kleben die plakate…)
als unmoralisch zu deklarieren
um dann
im ersten luftzug einer sogenannt
endgültigen freiheit
die kaum schulentwachsene jugend
an die dreckflinten zu pressen!!
Das ist atavismus!!!
Das ist Neanderthal!!!
Das ist vorbereitung
zum legalisierten menschenfressertum!!!

Wir rufen euch alle auf:
wehrt euch gegen diese barbarei!
laßt euch nicht durch radetzky-
deutschmeister und kaiserjägermarsch
aug und ohr auswischen…
pfeift auf den lorbeer
und laßt ihn den linsen!!!
denkt daran
welche ehre es für Österreich
bedeuten würde
bliebe es wie bisher
der einzige staat der welt
der diese unsägliche trottelei
den anderen dümmeren überläßt!!
genau so wie sich der kannibalismus
der urmenschen und höhlenbewohner
überlebt hat
muß nun endlich auch die soldatenspielerei
der vergangenheit überantwortet werden!!
Laßt uns die drei milliarden −
oder weiß gott noch mehr −
die ein neues bundesheer verschlänge
für kultur und zivilisation verwenden!!
wozu diese schildbürgerintentionen
senilgewordener bürokratengehirne…??

Ein Österreich
das nach wiederbewaffnung schreit
ist mit dem quakfrosch zu vergleichen
der mit bruchband und dextropur versehen
einen antiken dragonersäbel erheben wollte…

gegeben am 17. mai 1955 in Wien

dieses pamphlet ist von 25 personen unterschrieben (auch von mir); von diesen beteiligen sich 7 am aufmarsch (artmann, wiener, kölz, dick hermann u.a.), mit transparenten bewaffnet (siehe: 22. mai 1955, Wiener Zeitung). herr dompfarrer dr. dorr verweist sie des kirchengrundes. die polizei führt sie vom stephansplatz zur nächsten wachstube und legt ihnen nahe, sich zu zerstreuen.
gerhard rühm baut kurze stücke (werden, zu, spiel für damen, diskurs über die mode, imaginäres spiel; wort in der zeit 2/64) und konstellationen. in erwartung eines reisestipendiums schreibt artmann den wunderschönen szenischen dialog: „lob der optik“. wahrhaftig kommt das geld. er fährt nach spanien. es folgen die kurzen stücke: „die ungläubige colombina“, „die schwalbe“, „die mißglücke luftreise“, (die arche, wien 1960; ateliertheater, wien 1961), „prognose am vormittag“. er schreibt geschichten: „von denen husaren und anderen seiltänzern“ (piper, 1959). rühm schreibt dialekttheater (die jause: literarisches cabaret 1958; die arche 1961) artmann veröffentlicht in den „neuen wegen“ und macht weiter dialektgedichte. auch ernst kein schreibt jetzt dialektgedichte (alpha, jänner 1956, folge 8). artmann setzt seine „xxv epigrammata“ in teutsche alexandriner. gerhard rühm: „synthese“ (märz 1956; in der „arche“, 1961 als „vereinigung“ aufgeführt). oswald wiener schreibt zwei einakter: „die sorge“ und „die freude“. friedrich achleitner macht konstellationen. im juli schreibe ich: „der analfabet tritt in rudeln und einzeln auf. er überfällt ausflügler“ (einakter mit 17 szenen). auf artmanns bücherbord finde ich das lehrbuch der böhmischen sprache von heinrich terebelsky. ich überrede h.c. zu unserer ersten MONTAGE. er hat bedenken: wegen der rechte, und überhaupt. wir wissen nichts von john dos passos, arp’s arpaden (1917!) u.s.w. und freuen uns der erfindung. so entsteht das „lehrgedicht für deutsche“ und „11 verbarien“ (eröffnungen 12). rühm ist begeistert. zu dritt montieren wir die „magische kavallerie“ (september; eröffnungen 12). auch achleitner und wiener akzeptieren die montage. (= vorgefundene textteile werden neu geordnet. als material dienen vor allem konversationslexika, alte lehrbücher, zeitungen u.ä.). die voraussetzung für gemeinschaftsarbeiten ist gegeben. die montage über die montage (ein montierter text aus einem fachbuch über montage von maschinen. dieser text soll in der maschinenhalle einer großen fabrik verlesen werden. wir werden overalls tragen), das flagello-mechanische manifest (eine alte schreibmaschine wird auf einem niederen wägelchen durch die straßen gezogen; einer schlägt mit der peitsche, neunschwänzig und mit bleikugeln, ein- oder mehrere male in die tasten. das gedicht wird ausgespannt, abgestempelt, und an umstehende verkauft) und eine lesung im riesenrad (vorstadium der „kinderoper“ und des literarischen cabarets 1958 und 1959. die idee wurde später in abgeänderter form von leherbauer realisiert und leider entwertet. er mietet das riesenrad, statt das publikum für jede umdrehung wieder den normalen fahrpreis bezahlen zu lassen, das ungestört und öffentlich laufen soll, das riesenrad) werden beschlossen. es kommt nie dazu. wir nennen uns monteure. ernst jandl und friederike mayröcker treten in artmanns umgebung auf. montagen von artmann: kleine percussionslehre (edition 62/2), anatomie und linearperspektive der melone (1957), das märchen vom rotkäppchen und vom bösen wolf, other statistics. intuitive montage (freie form der m.): elegische ode an den kaiser krum. friedrich achleitner: vorbereitungen zu einer hinrichtung (1957, montage mit weiß (edition 62/2), montage mit himmel und hammer, der schöne hut oder der häßliche hut (1958); abschnitte, heft 2, dezember 1961), die gute suppe (1958; manuskripte 10/64) von mir: gestern heute morgen (publikationen 1, märz 1957), hermetische geografie (Stein der weisen; fietkau verlag, berlin 1963), triumph (publikationen 2). gerhard rühm: „ist hier platz? nehmen sie maß! die säge, die axt. eine oper, ein schauspiel“ (edition 62/2), dienstag (einblattdruck, klaus burkhardt, stuttgart) etc. rühm hat sich am intensivsten mit der montage beschäftigt und, während es die anderen nach einiger zeit wieder aufgaben, hat er noch sehr lange zeit montiert („aktueller querschnitt“, abschnitte, heft 3/62, stuttgart). viele gemeinschaftsarbeiten: u. a. „der fliegende holländer“ v. rühm und mir (movens, limes, 1960; die arche, 1961) und noch 1961 „super rekord extra 100“ v. achleitner und rühm (kapfenberger kulturtage). rühm setzt seine wortgestaltungen fort (erkennen, zyklus, fasen). artmann bringt die erste nummer seiner „publikationen“ mit wieland schmied, andreas okopenko, ernst kölz, quirin kuhlmann, ernst jandl, friederike mayröcker, ernst kein und mir (im märz 1957) heraus. wiener, rühm, achleitner lehnen es ab, in dieser gesellschaft vertreten zu sein.
dennoch kommt es am 20. juni zu einer lesung der gruppe (achleitner, artmann, bayer, rühm, wiener) im intimen theater. rühm bringt spontane lautgestaltungen, simultangedichte (auch mit wiener); rühm, wiener, achleitner projizieren ihre konstellationen; tonbänder laufen; artmann schreit lautgedichte (chlfsn, leliphat) und schlachtrufe. alle bringen montagen. besonders gefällt „die kleine percussionslehre“ und „vorbereifungen zu einer hinrichtung“. im „magnum“ erscheint ein artikel. man wird auf artmann aufmerksam. oswald wiener schreibt „der mensch“. unbemerkt ist er zum theoretiker der gruppe geworden. er gibt anregungen. seine theorien bilden das rückgrat vieler versuche. als artmann mit seiner „schwoazzn dintn“ ankommt und, des erfolges ungewohnt, dieser und jener versuchung unterliegt, leitet wiener seinen sturz ein (was artmann höchst gleichgültig war) und übernimmt die führung der ,wiener dichtergruppe‘ (zu dieser bezeichnung siehe auch: dora zeemann, neuer kurier, 23.6.1958). im mai 1958 hat gerhard rühm eine große ausstellung seiner wort- und lautgestaltungen in der galerie würthle. bertl rauscher, damals leiter der ,jungen generation‘, bietet uns eine kleine bühne. noch am gleichen abend entwerfen wiener und ich die ersten szenen. wir laden rühm, der schon seit langem eine ansehnliche sammlung sehr schöner eigener chansons hat, und achleitner zur mitarbeit ein. am 6. dezember 1958 haben wir unser erstes cabaret in der „alten welt“ (wien 6., windmühlgasse). h.c. artmann sitzt im zuschauerraum. wir bringen kritik durch darstellung von realitäten. (wirkliche radiosendung – ein kritischer beitrag: ein kleiner volksempfänger tönt auf der bühne sein echtes, zufälliges, aber unbedingt schlechtes programm). wir singen, agieren, tanzen und verblüffen. am 15. februar 1959 folgt das 2. literarische cabaret im porrhaus in gleicher autorenbesetzung, aber mit einem wesentlich größeren aufgebot an akteuren. es wird schwieriger, als wir dachten. wir zerhacken ein klavier, achleitner wird geschoren, gerhard rühm erwacht auf der bühne, wir singen unsere lieder, es gibt endlose pausen, wir haben nie geprobt. wieder sitzt artmann im zuschauerraum. „der schlüssel zum paradies“, „von denen husaren und anderen seiltänzern“ und „hosn rosn baa“ sind erschienen oder werden erscheinen. bald darauf werde ich wegen unsittlichen lebenswandels aus der gruppe ausgeschlossen (unter anderem habe ich mich von kurt regschek portraitieren lassen!). als nach einem jahr oswald wiener den teil seiner werke, die ihm zugänglich waren vernichtete und er das schreiben für lange zeit aufgibt, löst sich die ,wiener dichtergruppe‘ auf. artmanns lokale berühmtheit zerfällt in delogierung und steuerformulare. wieder macht er sich auf den weg. poesie als weltanschauung.

Konrad Bayer, 1964, Vorwort

Nachwort

„Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.“ So beginnt Artmanns „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ aus dem Jahr 1953. Artmann hat eine Menge geschrieben, hatte auch 1953 schon eine Menge geschrieben, und er hat viel gesprochen, hat einer weltweiten freien Poesie das Wort geredet, im Nachkriegs-Wien vom Blatt weg etwa spanische und französische Lyrik übersetzt, sie im Caféhaus Freunden verständlich gemacht, ihr Wirkung verliehen. Dennoch – und genau das macht sein anfangs zitierter Satz klar: für Artmann ist Dichtung nicht Lebenszweck, sondern eine Selbstverständlichkeit seines Lebens; er findet, und er erzeugt Dichtung, läßt Gefundenes und selbst Geschriebenes zurück, um Neues zu schreiben und aufzufinden; hin und wieder macht er auch Rückgriffe.
Nur wenn man diese Haltung Artmanns kennt, läßt es sich verstehen, daß er keine vollständige, oder auch nur annähernd vollständige Sammlung seiner Gedichte (oder auch kurzen Prosa oder auch Theaterstücke) besitzt, daß er alle sogenannte Ordnungsarbeit gern seinen Freunden überläßt, nicht unfroh allerdings, daß sie doch jemand übernehmen will. Die wichtigste Vorarbeit für diese möglichst vollständige Ausgabe seiner Gedichte leisteten Peter O. Chotjewitz und ich, nachdem wir den Plan gefaßt hatten, für Artmann zu irgendeinem Geburtstag eine Art Festschrift herauszugeben:
Diese Festschrift erschien schließlich im Frühjahr 1967 in dem Mini-Verlag Ulrich Ramsegers in Hamburg unter dem Titel Der Landgraf zu Camprodón. Sie enthält mehrere der damals für verschollen gehaltenen Gedichte; Vollständigkeit konnten wir nicht anstreben, unsere private Sammlung von Artmann-Texten hatte aber einen beträchtlichen Umfang erreicht und es Chotjewitz ermöglicht, einen ausführlichen, sehr informativen Essay über Artmann zu schreiben, der einen wesentlichen Bestandteil der Festschrift ausmacht.
Unsere Sammelarbeit war von Andreas Okopenko unterstützt worden, der von 1951 bis 1953 die hektografierte Zeitschrift „publikationen einer wiener gruppe junger autoren“ herausgegeben hatte, und der uns Artmann-Texte aus seinem Besitz zur Verfügung stellte, solche, die in der – längst nicht mehr aufzutreibenden – Zeitschrift veröffentlicht waren, sowie unveröffentlichte. Mit Hinweisen und unveröffentlichten Artmann-Arbeiten aus seinem Besitz half uns damals und mir in den vergangenen Monaten Hannes Schneider, Redakteur der österreichischen Zeitschrift für Literatur & bildende Kunst: Eröffnungen. Beiden sei nochmals gedankt.
Als Urs Widmers Plan, eine vollständige Ausgabe der Artmann-Gedichte im Suhrkamp Verlag herauszubringen, im Frühjahr 1968 zu einem realistischen Vorhaben und ich mit der Aufgabe betraut wurde, diesen Band zusammenzustellen, konnte ich auf die mit Chotjewitz zusammengetragene Sammlung zurückgreifen und dabei so gut wie sicher sein, daß mir kein jemals veröffentlichtes Gedicht von Artmann entgehen könne. Wir hatten seinerzeit selbst bzw. mit Hilfe der beiden schon genannten Artmann-Freunde alle Veröffentlichungen Artmanns aus den verschiedenen literarischen Zeitschriften zusammengetragen. Artmanns erste Veröffentlichung ist im Januar-Heft 1950 der vom Theater der Jugend in Wien herausgegebenen Kulturzeitschrift junger Menschen: Neue Wege zu finden; das Gedicht: „ich könnte / viele bäume malen…“ (eine Variante dieses Gedichts steht in der Abteilung „auf meine klinge geschrieben“: „ich kann viele bäume malen…“). Aus der Zeitschrift Neue Wege ist auch die Mehrheit der frühen – in diesem Band in der Abteilung „1949-1954“ vereinigten – Gedichte entnommen. „Die ersten Gedichte“ aus den Jahren 1945/46 gab mir Artmann im August 1968 in Berlin; er hatte sie soeben aus Wien mitgebracht, hatte endlich die Schubladen seines alten Schreibtischs durchgestöbert. Vier dieser ersten Gedichte auf Papier, das an den Faltstellen schon brüchig und eingerissen ist – waren von ihm seinerzeit mit dem Pseudonym Ib Hansen versehen worden.
Artmann verließ Wien 1960, machte sich in Malmö ansässig, kam 1962 für einige Zeit nach Berlin, kehrte nach Schweden zurück, übersiedelte 1964 nach Berlin, 1966 nach Graz, 1967 wieder nach Berlin und ist seit Anfang September 1968 nur noch auf Reisen, ohne feste Adresse, unschlüssig, wohin er seinen festen Wohnsitz verlegen soll. Seine Manuskripte bleiben oft bei Herausgebern oder Redakteuren von Zeitschriften, bei Verlagen, oder er deponiert sie bei Freunden, wenn ein Ortswechsel bevorsteht. Selten macht er Durchschriften seiner Arbeiten; er gibt Unikate aus der Hand, und es war notwendig, solche Unikate oder Fotokopien davon zusammenzubringen, um diese möglichst vollständige Sammlung seiner Gedichte veranstalten zu können.
Die Sammlung, die Chotjewitz und ich zustande gebracht hatten, war umfangreich, aber keineswegs auch nur annähernd vollständig. Der 1966 im Walter Verlag, Olten und Freiburg i. Brsg., erschienene Gedichtband Verbarium bot eine willkürliche Auswahl; die Überschriften der Abteilungen in diesem Band stammten von Artmann, die Auswahl und Anordnung der darin zusammengefaßten Gedichte nicht. Manches der fehlenden Gedichte war früher schon veröffentlicht, war greifbar, von anderen wußte man bloß, daß sie existiert haben mußten. Von Gerhard Rühm erhielt ich wesentliche Hilfe: er stellte mir eine Liste zur Verfügung, in der nicht nur die Titel von Zyklen und einzelnen Gruppierungen aufgeführt waren, sondern auch die darin enthaltenen Gedichte. Ich stellte fest, daß mir rund zwanzig Gedichte fehlten. Sie fanden sich bei Otto F. Walter in Neuwied, und Otto F. Walter schickte prompt Fotokopien aller Artmann-Gedichte, die er noch hatte. (Dafür sei ihm herzlich gedankt!) Otto F. Walters Sammlung entsprach genau der Liste, die mir Rühm gegeben hatte; sie bestand aus den Arbeiten, deren Manuskripte Artmann 1960 Konrad Bayer überlassen hatte, von dem sie an Otto F. Walter gelangt waren. Ich besaß nun nicht bloß vollständige Zyklen und von Artmann betitelte Gruppierungen von Gedichten, sondern auch die ursprünglichen vom Autor getroffenen Anordnungen, und zwar: von „epitafe“, von „böse formeln“, von „lieder zu einem gutgestimmten hackbrett“, von „reime, verse und formeln“ und von „absteigende lieder“. Ich stellte Überschneidungen fest: In „reime, verse und formeln“ fanden sich auch „böse formeln“, „lieder zu einem gutgestimmten hackbrett“, „treuherzige kirchhoflieder“ und „absteigende lieder“. Ich entschloß mich, die kleineren Unterteilungen beizubehalten, die zweimal eingereihten Gedichte aus „reime, verse und formeln“ zu entfernen. Das letzte Wort sollte schließlich Artmann selbst haben; er war nur zu der Zeit, da ich den Band zusammenstellte, nicht zu erreichen. Ich mußte also vorläufig alle Entscheidungen allein treffen. Von „reime, verse und formeln“ gab es drei verschiedene, verschieden umfangreiche Zusammenstellungen: ein Hektogramm des Österreichischen Rundfunks, eine Zusammenstellung von Albert Paris Gütersloh, der sich 1959 trotz dem außerordentlichen Erfolg von Artmanns Gedichten im Wiener Dialekt med ana schwoazzn dintn vergeblich bemühte, diese Fassung von „reime, verse und formeln“ als Gedichtband in Österreich publizieren zu lassen, und schließlich Artmanns ursprüngliche Zusammenstellung, die von Otto F. Walter an mich gelangt war. In dieser authentischen und umfangreichsten Zusammenstellung war jedes einzelne Gedicht datiert; diese Datierungen wurden – wie im übrigen alle Datierungen von Manuskripten – in dem vorliegenden Band beibehalten. Ein einziges Gedicht blieb undatiert: es fehlte die Fotokopie, doch war es auf Rühms Liste eingetragen, so daß ich es entsprechend einordnen konnte: das Gedicht „komm schnell in den garten ludmilla“ entnahm ich dem Hektogramm des Österreichischen Rundfunks. In Rühms Liste sind auch „treuherzige kirchhoflieder“ aufgeführt: vier. Das entspricht genau der gleichnamigen Abteilung in Verbarium. In einer Besprechung von Verbarium schrieb Hannes Schneider in Heft 7/1967 der Eröffnungen: „… ,treuherzige kirchhoflieder‘… gibt es neun, hier vier“. In dem vorliegenden Band gibt es davon sieben, da mir Artmann doch auch noch ein Päckchen Manuskripte gegeben hatte. An dieser Anzahl und an der Anordnung änderte Artmann nichts, als er das gesamte Manuskript durchsah. In Heft 5/Mai 1956 der österreichischen Literaturzeitschrift Wort in der Zeit sind allerdings drei der „kirchhoflieder“ mit den Bezeichnungen „vii., viii., ix.“ abgedruckt, ihnen folgt ein „epigramma“, von dem es dort heißt: „dieses epigramm schließt die sammlung der ,kirchhoflieder‘ ab“. Das „epigramma“ fehlt jetzt bei den „treuherzigen kirchhofliedern“; Artmann hatte es seiner „Vergänglichkeit und Auferstehung der Schäfferei/XXV Epigrammata in teutschen Alexandrinern gesetzet“, die 1956 geschrieben und 1959 als Anhang zu dem Band Von denen Husaren und anderen Seil-Tänzern (bei Piper in München) veröffentlicht wurde, als „Prologue“ vorangestellt: „bei mavors & apoll / bei venuß auff dem linnen / …“ Vor einigen Tagen (das meint Anfang Dezember 1968) rief mich Artmann aus Trento (Alto Adige) an. Ich erhielt bestätigt, was anzunehmen nahelag; nämlich, daß Artmann seine Gruppierungen oft veränderte, ja, daß es im Mai 1956 gar nicht neun „kirchhoflieder“ gegeben haben muß, ihm lediglich diese Zahl gefiel, und er eines Tages genau neun geschrieben haben wollte.
Andreas Okopenko schrieb 1965 einen Brief an Chotjewitz, in welchem er sich über das Schreiben in der ersten Hälfte der Fünfzigerjahre und immer auch im Hinblick auf Artmann äußerte: „Man improvisierte oft bei Besuchen, diktierte es dem Freund oder sprach es einfach und schrieb es dann nicht nieder; man verschmiß es, vergaß es, verbrannte es. Die Produktion hatte etwas narrenfreies, man wußte, man würde die Sachen kaum unterbringen.“ Okopenko veröffentlichte in seinen publikationen einer wiener gruppe junger autoren im Juni 1952 Artmanns „entwurf zu einer klage für einen gefallenen“. Artmann setzte die Zeitschrift 1957 als neuer Herausgeber unter dem vereinfachten Titel publikationen mit zwei Nummern (im März und im Juni) fort. Dieser Zeitschrift (Juni-Heft) sind die „inventionen“ entnommen, die dort mit 1954 datiert sind. Es hat davon vermutlich mehr gegeben, die ziemlich gewiß als verloren angesehen werden müssen. Im Sommer 1968 schickte die Witwe Konrad Bayers die „drei lieder“ an Urs Widmer; das Manuskript war undatiert. Artmann konnte aus verschiedenen Erinnerungen schließen, daß sie 1953 entstanden sein mußten.
Ich verfügte über Originalmanuskripte von „verbaristische szenen“, „sieben lyrische verbarien“, „erweiterte poesie“, „imaginäre gedichte“ (unter diesem gruppentitel hat es nie mehr als ein Gedicht gegeben: „st. pancraci-weih in flagurn“); zwei vereinzelte Gedichte, datiert mit „Juni 1955“ („:: deutsche ansprache auf das einhorn“ und „:: zehn deutsche verse für cleovigildo“) bekam ich von Gerhard Rühm. – Ich habe keine eindeutige Nachricht von verlorenen Gedichten aus den Fünfzigerjahren, keine genauen Hinweise, keine Titel, glaube auch nicht, daß besonders auffällige, besonders aufschlußreiche Arbeiten fehlen können, viel eher, daß eventuell verschollene Gedichte durch vorhandene gültig repräsentiert sind. Artmann hatte 1957 immerhin auch die Möglichkeit, in den beiden von ihm selbst herausgegebenen Heften der publikationen eigene vereinzelte Arbeiten, die er für repräsentativ hielt, zu veröffentlichen; und er hat diese Möglichkeit genützt. Neben „inventionen“ sind im Juni-Heft 1957 zu finden: „:: ansprache auf das einhorn“ (das Adjektiv „deutsche“ fehlt), ebenso das mit 1956 datierte Gedicht „im eis erstarrten quell“. Von ihm selbst zusammengestellte Zyklen, Gruppierungen, oder imaginäre Gedichtbändchen – jeweils mit eigenem Titel −, die aus diesem Zeitraum stammen, konnte ich schließlich ja doch zusammentragen.
Von Artmann selbst bekam ich die Originalmanuskripte von „die ausnehmend schönen lieder des edlen caspar oder gemeinhin hans wurstel genannt“, „Anselm, Antonia und der böse Caspar oder ein kleines handbuch zum mißbrauch der lasterhaftigkeit“, „ein büchlein zaubersprüchlein“, „lieder eines österreichischen feldhornisten nebst einem vater unser desselben“, von einigen Gedichten aus der Gruppe „auf meine klinge geschrieben“ (die nicht in der gleichnamigen Abteilung von Verbarium enthalten sind), von der umfangreichen, nie vollständig und nie in der authentischen Reihenfolge veröffentlichten Gruppe „hirschgehege und leuchtturm“, von dem Gedicht „all’armi lancilotteschi“, von dem Zyklus „flaschenposten“, von dem Gedicht „le roi déguisé en cerf sodomisant sa comtesse“ und von dem Zyklus „landschaften“. Ich bekam diese Manuskripte nicht auf einmal, das eine oder das andere hatte ich nur irgendwann geliehen und fotokopieren lassen, ständig im Bestreben, die seinerzeit von Chotjewitz und von mir begonnene Sammlung zu vervollständigen, ständig in der Hoffnung, daß eines Tages eine möglichst vollständige Sammlung von Artmann-Gedichten publiziert werden könnte. Echte Montagen wurden in den vorliegenden Band nicht aufgenommen; lediglich ein Gedicht mit Montagecharakter, dessen Manuskript sich bei Gerhard Rühm befand: „wer sein herz im gehirn“. Nicht aufgenommen wurden auch die Gedichte im Wiener Dialekt; sie sind zu finden in den Bänden: med ana schwoazzn dintn (Otto Müller Verlag, Salzburg 1958) und hosn, rosn, baa, Dialektgedichte von Friedrich Achleitner, H.C. Artmann und Gerhard Rühm (Wilhelm Frick-Verlag, Wien 1959).
Sämtliche Gedichte, die der Band Verbarium enthält, sind in die vorliegende Sammlung eingegangen, ebenso die in Einzelbändchen erschienenen Zyklen. Die sechzig „persischen quatrainen“ waren in zwei Bändchen erschienen: persische quatrainen / ein kleiner divan (collis-press, Paul Eckhardt-Verlag, Hommerich 1966) enthielt quatraine i-xxxiij, shâli-mâr / der persischen quatrainen anderer teil (collis-press, Paul Eckhardt-Verlag, Stuttgart 1967) quatraine xxxiv-lx. Allerleihrausch erschien 1967 in Berlin; in dem Bändchen fehlt allerdings das Gedicht „grüß gott, grüß gott, herr frankenstein“. Artmann hatte das fertige Manuskript unserem Freund Uwe Bremer gezeigt und erzählt, daß Rainer Pretzell in seinem Verlag ein Bändchen daraus machen wolle. Uwe las die Gedichte und bedauerte, daß er nun dieses Frankenstein-Gedicht nicht mehr haben könne, um es zusammen mit einem eigenen Holzschnitt für ein Rixdorfer Flugblatt der Werkstatt Rixdorfer Drucke zu verwenden (dazu mußte es eine Erstveröffentlichung sein). Artmann nahm das Gedicht und reichte es Uwe Bremer; es erschien auf dem 5. Rixdorfer Flugblatt. Jetzt ist es wieder repatriiert.
Ein Wort zu den Abteilungen „auf meine klinge geschrieben“ (der Zwischentitel stammt von Artmann und wurde bereits in Verbarium verwendet) und „Elf vereinzelte Gedichte aus den Sechzigerjahren“ (dieser Ordnungstitel stammt von mir), Artmann hatte mir im August 1968 noch einige Gedichte für die erstgenannte Abteilung gegeben und mir dabei auch den Zwischentitel bestätigt; drei der darunter zusammengefaßten Gedichte waren nämlich 1961 in Heft 4 der Eröffnungen mit der Überschrift erschienen: „Aus dem noch unveröffentlichten Zyklus: ,gedichte in eine klinge zu ritzen‘, Kärnten 1960“. – Einige der vereinzelten Gedichte aus den Sechzigerjahren stehen in Verbarium, die übrigen gab mir Gerhard Rühm im Oktober 1968; es waren Unikate. Artmann freute sich sehr, daß diese Gedichte wiedergefunden waren (er hatte keine Ahnung mehr von ihrem Verbleib), als er das Gesamtmanuskript dieses Bandes durchsah. Die erste Zeile von einem der Gedichte wählte er als Titel für den ganzen Band: ein lilienweißer brief aus lincolnshire.
Ich besorgte die von mir aus gesehen letzte Ordnung dieser Sammlung Ende Oktober 1968 in Frankfurt am Main als Gast von Klaus Reichert in dessen Wohnung. Ich kam darauf zu sprechen, daß Artmann auch in schwedischer Sprache Gedichte geschrieben habe, er mir im Spätherbst 1962 bei einem Besuch in Wien ein Heft von Bonniers Literära Magasin, der in Stockholm erscheinenden größten skandinavischen Literaturzeitschrift, gezeigt habe, in dem zwei seiner schwedisch geschriebenen Gedichte abgedruckt waren. Ich besaß diese Gedichte, und Reichert meinte, daß sie unbedingt in die vorliegende Sammlung aufgenommen werden müßten. Im November 1966 las Lars Gustafson, der auch Redakteur von Bonniers Litterära Magasin ist, in der Akademie der Künste zu Berlin. Ich bat ihn um Abschriften der 1962 erschienenen Artmann-Gedichte. Die „Två dikter“ (Zwei Gedichte), die mir Gustafsson daraufhin schickte, sind in diesem Buch jetzt enthalten.
H.C. Artmann selbst hat das Manuskript im November 1968 genau durchgesehen, änderte die Anordnung der ersten Abteilung, fügte das Gedicht „der frauenzerstückler“, das im Originalmanuskript als erstes Gedicht einer künftigen Sammlung „balladen“ bezeichnet gewesen war, den „absteigenden liedern“ hinzu, entfernte das Gedicht „ein furz“. Ich hatte es aufgenommen, um zu demonstrieren, wie freizügig Artmann verfahren kann: „ein furz / im uhrgehäuse – / oh zeus!…“ ist eine Variation des Gedichts „eine laus / im uhrgehäuse / o zeus…“ aus „reime, verse und formeln“; Artmann ersetzte „laus“ durch „furz“ und „juckreiz“ durch „geschmack“, als er das Gedicht für Günter Bruno Fuchs abschrieb, der es in seiner Anthologie zeitgenössischer Nonsensverse Die Meisengeige 1964 veröffentlichte.
Artmann war im übrigen mit meiner Anordnung einverstanden, hat sie autorisiert. Als er mich aus Trento anrief, sagte er mir noch, daß er sich sehr gefreut habe, daß ich so viele Gedichte aufgetrieben hätte, auch eine Menge solcher, an die er gar nicht mehr gedacht habe. Lediglich schwedische Gedichte gingen ihm ab, er sagte, er habe rund zwanzig geschrieben, die seien aber wohl verloren, er habe auch keine Ahnung, wo sie sein könnten.
Dieser Band enthält Artmann-Gedichte aus 21 Jahren; auf Vollständigkeit der Sammlung wurde größter Wert gelegt, nicht zuletzt, um Legenden und Gerüchte mit einer Realität zu konfrontieren, die das Licht der Öffentlichkeit keineswegs zu scheuen braucht. Daß diese Sammlung dennoch nicht perfekt sein kann, ist ihr großer Vorteil, ist ein nicht vom Tisch zu fegender Hinweis auf die Lebendigkeit und Freiheit der Poesie, die sich jeder Institutionalisierung zwangsläufig entzieht.

Gerald Bisinger, Dezember 1968

 

… Dieser umfangreiche Band

vereinigt über 450 Gedichte von Artmann und bringt zudem in einem Anhang die Gedichte, die Hannes Schneider aufgefunden hat, nachdem diese Sammlung 1969 erschienen war. Er enthält wohl seine sämtlichen Gedichte von den ersten, 1945, unter dem Pseudonym Ib Hansen geschriebenen, bis zum Zyklus „Landschaften“ – mit Ausnahme der reinen Dialektgedichte. Artmanns Gedichte sind zumeist spontan entstanden und dennoch von höchster formaler Artistik.
Es gibt kaum methodische Versuche, die Artmann nicht unternommen hätte. In seinen Gedichten haben die konsequenten Sprachversuche der Wiener Gruppe eine sehr individuelle Realisation gefunden. Artmann schreibt keine Bekenntnisgedichte, sein lyrisches Ich versteckt sich in hundertfacher Verkleidung. Mit unverkrampfter Leichtigkeit verfügt er über die formalen Möglichkeiten der Weltliteratur (oder jenes abseitigen Teils davon, den er als Tradition betrachtet), er erfindet Wörter, ganze Sprachen. Die Jahrhunderte sind in seinen Gedichten gleichzeitig vertreten, Robinson Cruso steht neben Donald Duck, barocke Sprache neben Wiener Slang…

Suhrkamp Verlag, Klappentext, 1982

 

H.C. Artmann / ein lilienweißer brief aus lincolnshire

Als sich die Wiener Gruppe 1959/60 auflöste, gehörte H.C. Artmann nicht mehr dazu. Bei ihren zwei literarischen Kabaretts saß er im Publikum. An der Kinderoper war er nicht beteiligt. Als sie 1964 ,posthum‘ aufgeführt wurde, hatte er Österreich längst verlassen und lebte abwechselnd in Schweden und Berlin. Obwohl Artmann der eigentliche Initiator und Anreger der Gruppe war und an allen methodischen Experimenten maßgeblichen Anteil hatte, fällt seine geringe Beteiligung an den Gemeinschaftsarbeiten auf. Er ging von vornherein seinen eigenen Weg.
Aufgrund einer Reihe von Publikationen der letzten Jahre läßt sich das Volumen und die Bedeutung der einzelnen Autoren wie ihrer Gemeinschaftsproduktion heute bereits verhältnismäßig gut überblicken. Achleitner schrieb wenig. Er wandte sich nach der Auflösung der Gruppe wieder ganz der Architektur zu. Von Konrad Bayer erschien 1965 der kopf des vitus bering und 1966 unter dem Titel seines Romans der sechste sinn sein Gesamtwerk. Rühm gab 1967 mit einem umfassenden Vorwort den Band Die Wiener Gruppe heraus, der neben allen Gemeinschaftsarbeiten jeweils typische Einzelarbeiten enthält. Seine eigenen Arbeiten kamen im vorigen Jahr gesammelt in dem Band Fenster heraus. Oswald Wiener hatte sich von seinen früheren Arbeiten distanziert. Ab 1962 konzentrierte er sich auf seinen Roman Die Verbesserung von Mitteleuropa, den er in diesem Jahr veröffentlichte. Artmanns Dichtungen erschienen verstreut und meist in bibliophilen Ausgaben mit kleinen Auflagen. Von seiner Prosa und seinen Dramen ist vieles noch unveröffentlicht. Nun gab Gerald Bisinger unter dem von Artmann gewählten Titel ein lilienweißer brief aus lincolnshire Artmanns gesamte Lyrik, soweit sie erhalten ist, heraus.
Der Band umfaßt über 450 Gedichte aus 21 Jahren. Er beginnt mit Artmanns ersten, noch zögernden (für damals immerhin bemerkenswerten) Versuchen in den Jahren 45 und 46, die er mit Ib Hansen signierte, und endet mit den 21 Texten des Zyklus landschaften von 1966. Verlorengingen die meisten schwedisch geschriebenen Gedichte Artmanns, von denen nur noch zwei aufzutreiben waren. Verlorenging, nach seinem Produktionsquotienten zu schließen, auch ein Teil seines Frühwerks.
Die für Artmann typische und eigentlich auch erst artistisch ins Gewicht fallende Produktion beginnt aber erst mit den epitafen von 1954, und ab den 50er Jahren scheint, wie Gerald Bisinger in seinem Nachwort vermutet, nichts Wesentliches mehr verlorengegangen zu sein. Dies, obwohl Artmann seine Gedichte nie sammelte, kaum Abschriften oder Durchschläge von ihnen machte, sie seinen Freunden schenkte oder einfach bei ihnen liegenließ.
So deprimierend es für Artmann gewesen sein mag, für seine Gedichte lange Zeit keinen Verleger gefunden zu haben: es ist eher ein Vorteil als ein Nachteil für ihn, jetzt erst kompakt mit seinem lyrischen Gesamtwerk in eine breitere Öffentlichkeit zu treten. Denn die kleinen Sammlungen und Zyklen, die bisher von ihm erschienen, auch die Auswahl verbarium von 1966, verführten zu Fehlurteilen, mußten es beinahe zwangsläufig tun.
Zweierlei ist für das Verständnis Artmanns wichtig. Seine Auffassung der Poesie als einer Form zu existieren, fixiert in der Präambel seiner „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“:

Es gibt einen Satz, der unangreifbar ist, nämlich der, daß man Dichter sein kann, ohne auch jemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben. Vorbedingung ist aber der mehr oder minder gefühlte Wunsch, poetisch handeln zu wollen.

Diese Einstellung Artmanns erklärt, weshalb das fertige Gedicht für ihn nur noch ein sekundäres Interesse besitzt. Sie erklärt weiterhin seine poetische Leichtigkeit, die ihn oft an einem Tag mehrere Gedichte endgültig formulieren läßt, und sie erklärt schließlich auch den fragmentarischen Charakter, der den meisten seiner Gedichte eigen ist.
Der Fragmentcharakter hat aber noch einen anderen Grund, und das ist der zweite Punkt, der für das Verständnis Artmanns wichtig ist: er schreibt keine Einzelgedichte und keinen Einzelstil. Seine Arbeiten sind von vornherein als Bruchstücke einer größeren Gesamtkonzeption angelegt. Er schreibt Gedichte, die als Teile von Zyklen, Sammlungen oder ganzen Büchern gedacht sind, auch wenn von dem ursprünglichen Plan unter Umständen nur wenige Texte oder im Extremfall nur ein einziger realisiert werden. Dabei bedient er sich bei jedem neuen Projekt anderer Schreibverfahren, Stile und Stilvariationen. Manchmal treten Überschneidungen ein. Polyglott wie er ist, wechselt er auch in verschiedene Sprachen über.
Artmann ist ein Sprachspieler, der in allen Epochen und Stilen zu Hause ist. Von den provencalischen Trouvères bis zum Barock, vom Volks- und Kinderlied zum Hölderlinvers, von der Klassik zur Montage, vom Surrealismus und von Lorcas Romanzentrochäen zur ,methodischen Invention‘ (wie die Wiener Gruppe ihre Permutations- und anderen mathematisch orientierten Verfahren nannte), die er aufgelockert handhabt, von den festen Metren historischer Stile zu den in Silben und bloße Phoneme zerhackten Lautgedichten und Klangassoziationen seiner Schlachtrufe und imaginären Sprachen.
Es hat wenig Sinn, einzelne Gedichte oder Gedichtpassagen zu zitieren. Sie beweisen für sich und aus dem Zusammenhang genommen nichts. Artmanns Reichtum ist auch weniger die Vollendung als die Vielfalt seiner Diktion.
Um trotzdem ein paar Beispiele zu geben: In den „treuherzigen kirchhofliedern“ treibt er die barocken Sprachverhalte bewußt zum völligen Leerlauf der Worte:

o tod du tröstlich
umgestürzte fackel tod
du grünes stundenglas
du allgerechte lanze
steig auf steig auf
mit deinem tränennassen kranze
du edles licht…

Daneben stehen ,einfache grammatische Meditationen‘ folgender Art:

vogelschreie.
über dir die
gartenkalten
hieroglyphen
abgeschlagen
wie gebüsche.
über dir der
gartenkalten
hieroglyphen
vogelschreie.

Daneben ein Gedicht wie „dover“ mit dem Hölderlinschluß:

… zu kosten bleibt uns
genien und selbstmördern
das enge salz des meeres.
gewußt hätten wir
von vielem.

Daneben die Barocknachahmungen der ,persischen quatrainen‘ und der Epigramme „Vergänglichkeit und Auferstehung der Schäfferei“, daneben die verspielten Einfalle der „reime, verse und formeln“ und anderer Sammlungen:

eine laus
im uhrgehäuse…
o zeus!
eine laus
zwischen
den zähnen
der zeit…
wenn die
räderchen
erst einmal
den juckreiz
verspüren –
dann
ist es
aus…

Daneben die Kinderliedpersiflagen „allerleirausch“ mit schwarzer Romantik, Horror, Wildwest, Science-fiction.
Zu den Höhepunkten von Artmanns Poesie gehören die Zyklen „hirschgehege & leuchtturm“ (1962) und „landschaften“ (1966). Es sind fast durchweg Variationsgedichte, deren meist zweizeilige Strophen in sich eine satzartig abgeschlossene Einheit bilden:

der graf mit dem einglas aß von den kuchen
er hatte ein nordlicht verkauft er war reich

eine lange reihe ford neunzehndreißig hielt
vor der villa die puppen kamen es donnerte stark

eine um die andere kam zu dem grafen gesichter
wie milch und porzellan es donnert im winter

den grafen reute der verkauf des nordlichts
er war reich die puppen erschienen zum tee

es donnerte stark der graf mit dem einglas
ließ kuchen servieren man trank dazu tee

usw.
Das Verfahren dieser Gedichte umschreibt Artmann in seinem Beitrag zu „Ein Gedicht und sein Autor“ so:

Ich bin ein Kuppler und Zuhälter von Worten und  biete das Bett;… ich setze… Worte in Szene, und sie treiben ihre eigene Choreographie.

Durch die Mittel der Variation und Wiederholung, durch immer wieder neue Kombinationen einfacher Elemente gelingen ihm Gedichte von eigenwilligem ästhetischem Reiz. Das Repertoire seiner Elemente scheut dabei weder Banalitäten noch romantische Klischees, es bewegt sich mitunter sogar am Rande des Kitsches. Doch Artmanns raffinierte Kombinatorik, sein Einfallsreichtum, seine überlegene Handhabung des sprachlichen Materials, die auch noch die verstecktesten rhythmischen Nuancen einkalkuliert, erheben seine Gedichte scheinbar mühelos in den Bereich der Kunst. Mit Recht warnte Peter Bichsel in seinem Nachwort zu verbarium vor voreiligen Urteilen. Gedichte wie „ich bin ein polares gestirn“ oder „ich muß ein lob des trommelns dichten“ (um nur zwei Beispiele aus „hirschgehege & leuchtturm“ zu nennen) können sich unter den besten der gegenwärtigen Lyrik sehen lassen.
Es gibt von Artmann ein kurzes Gedicht, das so etwas wie ein Selbstporträt ist:

wenn ich,
ein mann ohne stern,
mit meinen puppen erfriere,
wer schmeißt mir
eine rose zu?

– Als Achleitner, Rühm und Artmann nach einem Titel für ihre gemeinsamen Dialektgedichte suchten, sollte jeder von ihnen mit einem für ihn typischen Wort vertreten sein. Der Band hieß dann hosn rosn baa. Rosen war natürlich Artmanns Kennwort. Es spricht für Artmanns Größe als Dichter, daß er es vermag, das für die moderne Poesie tabuisierte Vokabular von Rosen, Lilien, Schwänen, Schwalben und Küssen zu verwenden, ohne in Lächerlichkeit, Plüsch und Kitsch abzusacken. Im Grunde ist er vielleicht der nun doch endgültig letzte Romantiker.
Wieland Schmied schrieb einmal über Artmann, er habe wie Pound in den Literaturen vergangener Jahrhunderte nach Zeitgenossen gesucht, und er sei dabei unter anderen auf die walisischen Dichter des Mittelalters, die provencalischen Trouvères und auch auf Cavalcanti und Villon (den er ins Wienerische übersetzte) gestoßen. Das ist der eine Berührungspunkt mit Pound. Es gibt, meine ich, noch einen andern. Man hat von Pound gesagt, seine Gedichte wirkten wie aus einer anderen, fremden Sprache übersetzt. Etwas ähnliches gilt auch für Artmann. Seine Lyrik hat über weite Partien eine indirekte Aussageform, so als wären die Gedichte in Anführungszeichen geschrieben. Auch er ist ein Träger von Masken. Neben der metaphorischen Spontaneität, der Parodie und der systematischen (und systematisch aufgelockerten) Kombinatorik ist das dominierende Merkmal seiner archaischen Modernität das Stilzitat. Verbunden auch manchmal mit der Gefahr einer direkten Identifizierung mit dem Ausgesagten – der Gefahr eines literarischen Malskat.
Schade ist, daß in Artmanns gesammelte Gedichte seine Dialektgedichte aus den Bänden med ana schwoazzn dintn und hosn rosn baa nicht aufgenommen wurden. Sie sind nicht nur ein wesentlicher Bestandteil seines Werks. Sie sind inzwischen bereits ein Stück Literaturgeschichte geworden. Schließlich war es Artmann, der mit seinen Beispielen die Anregung zu einer neuen Form des Dialektgedichts gab, die sich nach der Wiener Gruppe in den Arbeiten der Schweizer Marti und Eggimann fortsetzte.

Helmut Mader, Neue Rundschau, Heft 3, 1969

Alte und neue Kunststücke von H.C. Artmann

Der österreichische Dichter H.C. Artmann, der lange Zeit nur einem kleinen Kreis glühender Verehrer bekannt war, hat sich inzwischen als literarischer Zauberkünstler etabliert. In jedem Jahr überrascht er nun seine Leser mit neuen poetischen Kunststücken, sein Werk ist über viele (oft kleine, wenig bekannte) Verlage verstreut, und der Artmann-Fan muss schon gut aufpassen, wenn er keine der zahlreichen Neuerscheinungen dieses Sprachartisten verpassen will.
Erfreulicherweise hat sich in jüngster Zeit auch der grosse Suhrkamp Verlag dieses Dichters angenommen und sorgt dafür, dass Artmanns Werke wenigstens zu einem Teil gesammelt und einem grösseren Leserkreis zugänglich gemacht werden. Die wohl wichtigste Artmann-Publikation bei Suhrkamp ist der über 500 Seiten starke (aber leider nur broschierte) Band Ein lilienweisser Brief aus Lincolnshire, in dem – mit Ausnahme der Dialektgedichte – die gesamte seit 1945 geschriebene Lyrik von Artmann enthalten ist. Dem Band ist ein Artmann-Porträt des vor einigen Jahren aus dem Leben geschiedenen Konrad Bayer vorangestellt, und in einem Nachwort gibt Gerald Bisinger Rechenschaft über die Zusammenstellung des Buches, das vom Lyriker selbst autorisiert worden ist.
An diesem Band lässt sich am besten studieren, wie virtuos Artmann die verschiedensten lyrischen Formen beherrscht, wie selbstverständlich er die poetischen Masken wechselt, wie sich dichterische Spontaneität mit höchster Artistik verbindet. Zwar wird man nicht gleich Peter O. Chotjewitz zustimmen mögen, der geschrieben hat:

Artmann ist der wahrscheinlich einzige wesentliche Dichter, den die deutsche Literatur nach 1945 hervorgebracht hat.

Man wird aber feststellen, dass H.C. Artmann einer der eigenwilligsten und gewandtesten deutschsprachigen Poeten der Gegenwart ist, der sich jedem Zugriff, jeder literaturhistorischen Zuordnung immer wieder flink entzieht und mit jedem Gedicht für eine neue Ueberraschung sorgt.
Freilich kann der Suhrkamp Verlag wohl nicht alles publizieren, was H.C. Artmann verfasst – es sei denn, er wollte eine eigene Sonderabteilung speziell für diesen Universal-Poeten einrichten. (…)

Wa., Die Tat, 14.6.1969

Singsang mit Höllengelächter 

H.C. Artmann – wer ist das? Ein Mann aus St. Achatz am Walde in Niederösterreich, geboren im Jahre 1921, der Gedichte schreibt. Ein Vagabund, der mal in Wien, mal in Berlin oder in Malmö oder in Graz anzutreffen ist, neuerdings sich aber meistens auf Reisen befindet, ohne feste Adresse. Für das „breitere“ literarische Publikum ist er bisher mehr ein Gerücht gewesen als ein Begriff.
Wer genau Bescheid wissen will, der kann sich jetzt durch eine Sammlung Artmannscher „gedichte aus 21 jahren“, betitelt ein lilienweißer brief aus lincolnshire und erschienen bei Suhrkamp, umfassend unterrichten lassen. Es handelt sich um ein gewaltiges Konvolut von mehr als 500 großformatigen Seiten, eine beinah vollständige Retrospektive (in der nur leider die mundartlichen Sachen fehlen), zusammengestellt und mit einem editorischen Bericht versehen von Gerald Bisinger und eingeleitet durch einen manifestartigen Text von dem verstorbenen Konrad Bayer aus dem Jahre 1964. Wer sich durch diesen Schinken einmal durchgearbeitet hat, der wird kaum noch leugnen können, daß wir es in diesem Autor mit einem der produktivsten und vielseitigsten, einem der raffiniertesten, aber auch wildesten, ja bösartigsten Gedichteschreiber zu tun haben, die zur Zeit im deutschen Sprachraum am Werke sind.
Was Artmann mit der Wiener Gruppe, mit den Rühm, Bayer, Jandl und Mayröcker, aber auch mit deren bundesdeutscher Verwandtschaft (von Heißenbüttel über Bense bis Bazon Brock) verbindet, das ist ein Verhältnis zur Sprache, das den Wortlaut, ja schließlich den Laut schlechthin gewissermaßen verabsolutiert, eine unbedingte Materialbesessenheit, die das Wort nicht als „Ausdruck“ von etwas, sondern um seiner selbst willen sucht. Nicht Gefühle, sagt er, will er zum besten geben, sondern „Worte in Szene setzen“.
Ein solches Verfahren kann, wenn es nichts weiter ist als die orthodoxe Anwendung eines Prinzips, höchst langweilig und steril sein. Aber diesem Wiener Sprühteufel fehlt, zum Unterschied von gewissen deutschen Vertretern der „konkreten“ Lyrik, jede Begabung zur Pedanterie. Seine „Verbarien“ wie er die Hervorbringungen seiner Muse genannt hat, strotzen von motivischem Leben; seine ganze mächtig ausgreifende Produktion ist ein sprachliches Elementarereignis, und das liegt gewiß nicht an den Worten „an sich“, sondern an der Potenz dessen, der nach ihnen greift.
Man spürt das noch dort, wo er, wie zum Beispiel in einer Erklärung vor dem Literarischen Colloquium Berlin (1967), nur seine Methode zu beschreiben versucht:

Ich habe Vorstellungen und setze sie ein. Dieser Einsatz entfremdet mir in gewisser Weise meine privaten Vorstellungen: denn Worte haben eine bestimmte magnetische Masse, die gegenseitig nach Regeln anziehend wirkt; sie sind gleichsam ,sexuell‘, sie zeugen miteinander, sie treiben Unzucht miteinander, sie üben Magie, die über mich hinweggeht, sie besitzen Augen, Facettenaugen wie Käfer und schauen mich unaufhörlich und aus allen Winkeln an. Ich bin Kuppler und Zuhälter von Worten und biete das Bett; ich fühle, wie lang eine Zeile zu sein hat und wie die Strophe ausgehen muß (…) 

Von hier aus könnte man Linien ziehen: zurück zu Baudelaire und seinen „correspondances“, hinüber zum „klassischen“ Surrealismus der zwanziger Jahre, der ja um seiner traumlogischen Bildersprache willen als eine radikalere Fortsetzung der symbolistischen Kunstübung verstanden werden kann, ferner zu Ezra Pound und Joyce, dem Joyce von Finnegans Wake, zu den deutschen Dadaisten, zu Hans Arps Nonsenspoesie, zu Hugo Balls Lautgedichten, zum „lettrisme“ des Franco-Rumänen Isidor Isou. Alle diese Namen gehören zu den Voraussetzungen des Artmannschen Unternehmens.
Das „Einzugsgebiet“ seiner Sprache fällt beinah zusammen mit einer Totalansicht der avantgardistischen Lyrik der Epoche, aber wie wäre seine eigene, ganz persönliche Handschrift zu bestimmen? Sein eigenes Stilprinzip, so scheint es, ist die Prinziplosigkeit, ist ein chamäleonhaftes Changieren von Muster zu Muster, eine Art „progressiver Universalpoesie“ (wie die frühen Romantiker sagten) bei durchweg eingehaltener ironischer Distanz gegen alle verfügbaren Stilmittel, ein entfesselter, radschlagender, Allotria treibender Manierismus, der nicht nur in zeitgenössischen Diktionen zu glänzen versteht, sondern auch in historisch längst erledigten Formen und Tonfällen seine Virtuosität entfaltet, zum Beispiel in dem Zyklus „Vergänglichkeit und Auferstehung der Schäfferei. XXV Epigrammata in teutschen Alexandrinern gesetzet“, wo er mit den Bukolikern des Hochbarock zu wetteifern scheint, oder in der Serie „persische quatrainen, ein kleiner divan“, wo er dem großen Hafis, wenn nicht seinem Weimarer Dolmetscher ein mondsüchtiges Echo liefert.
Schließlich kann er, ein närrischer Pfingstgeist, in allen möglichen fremden Zungen dichten, kann’s auf schwedisch und spanisch, auf französisch, englisch und sogar auf plattdeutsch, kennt sich in Sprachen aus, die es gar nicht gibt, produziert wahre Sprachensalate mit Anklängen ans Lateinische, ans Alt- und Mittelhochdeutsche, an die Merseburger Zaubersprüche und an T.S. Eliots Sweeney Agonistes, der ja seinerseits eine Parodie auf Milton ist. So entsteht, was er „erweiterte Poesie“ nennt oder „erfindungen“ oder „imaginäre gedichte“: Poesie als Fremdsprache!
Also ein Autor, der mit den Stilelementen x-beliebiger Wortkulturen Komödie spielt, alle naselang die Rolle wechselt, immer nur wie durch Masken spricht: Wie kommt es, daß man ihn trotzdem ein Original nennen muß? Offenbar gibt es Situationen, in denen der manierierte Gestus nicht nur erlaubt, sondern sogar notwendig ist, wenn man eine glaubwürdige Spur von sich selbst hinterlassen will. Was H.C. Artmann betrifft, so wird man bei einigem Studium erkennen, daß er mit den Wurzeln seiner poetischen Natur nicht überall und nirgends zu Hause ist, sondern an einer ganz bestimmten Stelle: im hochbarocken Wien, im Schatten der Pestsäule am Graben.
Wollte man ihm einen Ahnherrn zuschreiben, der sein künstlerisches Temperament und die Breite seiner Möglichkeiten gleichsam vorweggenommen hat: Witz und Furor seiner Sprache, das Künstliche, das Burleske, das Mundartliche – mit Fernwirkungen hinüber zum Wiener Volkstheater, bis zu Nestroy und Qualtinger und den „ausnehmend schönen liedern des edlen caspar oder gemeinhin wurstel genannt“, deren unser Autor ein ganzes Konvolut zusammengebracht hat –, man müßte, denke ich, den großen Bußprediger Abraham a Santa Clara, vulgo Hans Ulrich Megerle, nennen, den Verfasser von „Merks Wien“ und „Auf auf ihr Christen“ und eines vierhändigen Hauptwerkes über „Judas den Erzschelm“.
Hier erkennen wir ihn wieder, und von hier aus erklärt sich auch der plausibelste, weil gewissen modischen Stimmungen am weitesten entgegenkommende Teil seines Werkes: die ausgesprochen „schwarze“ Poesie. Die barocke Manier entspricht einem barocken Erlebnis: Tod, Pest, Vergänglichkeit sind die Stigmata dieser Welt.
Aber der im eigentlichen Sinne makabre Effekt wird erst dort erzielt, wo die gewählte Form eine eher naive, unschuldig populäre und gemütvolle Stimmung zu suggerieren scheint: wo in Volks- und Soldatenliedern das Entsetzen lauert, in raffiniert einfältigen Vierzeilern ein Wiener „Frauenzerstückler“ bei der Arbeit gezeigt wird, wo in der Abteilung Kinderreime (allerleirausch) ein ganzes Pandämonium von Vampiren, Werwölfen, Ratten und Fledermäusen, Menschenschlächtern und -fressern entfesselt wird, wo der unvergeßliche Massenmörder Harmann im Bunde mit Dracula und Frankenstein, mit Django und Goldfinger, mit Batman und James Bond für grausam gute Laune sorgt. Hier mischt sich Singsang mit Höllengelächter der Drehorgel- und Moritatenton altmodischer Rummelplätze mit allerneuestem Pop-Geschmack, Nestroysche Heiterkeit und Bosheit mit underground und Pornographie. Da läuft freilich allerhand mutwillige Clownerie mit unter und allerhand rasch gefingerte Reimerei. Und doch kann man das im Grunde Pathetische dieser Frivolitäten nicht gut überhören. Man spürt den motivischen Zusammenhang mit der Friedhofs- und Wurmfraßpoesie des Barock, man glaubt eines der großen Kardinalthemen der dichterischen Phantasie wiederzuerkennen: die uralte Klage über das Unheil unserer Sterblichkeit. 

Hans Egon Holthusen, Christ und Welt, 31.8.1969

Bizarrer Liebhaber der Poesie

Das exzentrische Volumen des lilienweißen briefs aus lincolnshire hat den für Artmann gewiß fatalen Anschein eines lyrischen Lebenswerkes. Jedoch scheint dieser Gedichtband nur der vorläufige Abschluß einer Editionswelle zu sein, mit der die österreichische Literaturavantgarde der fünfziger und frühen sechziger Jahre bei uns bekanntgemacht wurde. Eine Welle des Ausgrabens, Sammelns, der Resümees und Vergegenwärtigung von Ursprüngen, die sich in den Arbeiten etwa von Handke, Jonke oder Wolfgang Bauer fortsetzen. Und gewisse Physiognomien der Artmann-Gedichte, der Autor selbst sowie die Voraussetzungen, die zur Zusammenstellung dieses Buches führten, müssen zusammen gesehen werden mit besonderen österreichischen Situationen, für die es in Deutschland keine Parallele gibt und unter denen sich die Literatur abzukämpfen hatte.
Dem Band vorangestellt ist ein Porträt des Autors, 1964 von Konrad Bayer geschrieben. Es ist keine isolierte Feinanalyse Artmanns und seines Werks, sondern eher ein Gruppenbild innerhalb eines Milieus, die Darstellung vorwiegend gemeinschaftlicher Arbeiten und Aktionen. Die dichte Verwobenheit, ja Abhängigkeit und Fluktuation verschiedenfältiger Interessen, die Animosität und Idiosynkrasie gegenüber der kulturellen Bürokratie und intriganten Provinzialität Wiens ist aus diesem Bild zu ersehen, auch die Exzentrik jener, die von der Öffentlichkeit in den Untergrund gepreßt werden, schließlich die handfest praktizierten geistigen Ausschweifungen von Leuten, denen eine gesellschaftliche Wirkungsbasis und Anerkennung verwehrt ist.
Kühl und bitter, wie es der Art von Konrad Bayer entsprach, zeichnet er den Weg der Wiener Gruppe bis etwa 1959 nach, unter fast lückenloser Nennung aller Arbeiten, die bis dahin entstanden sind. Artmann allerdings hatte sich schon 1958 der Gruppe entfremdet, und zwar – wie Bayer meint – aus Gründen des Erfolgs seiner schwoazzn dintn, mit dem ihn die Gesellschaft zu adaptieren versuchte, während seine Freunde nach wie vor in der Anonymität verblieben. Die starke Gruppenintimität jedoch, das Freundschaftsgefolge, die nachwandernden Bewunderer des „Meisters“, überhaupt das Klüngelhafte im literarischen Leben Österreichs, brachten es fertig, daß kaum ein Text Artmanns verlorenging, während er selbst, genialisch-unbekümmert, seine Gedichte „verschmiß“, sie in seinen dauernd wechselnden Wohnorten liegen ließ oder sie ohne Abschrift aus der Hand gab. Das Nachwort von Gerald Bisinger macht deutlich, welche Querverbindungen, welches Ausforschen, Sammeln, Bewahren von anderer Seite diese mustergültige Edition erst ermöglichten.
Die Aktionseinheit der Wiener Gruppe gründet sich zum großen Teil auf Artmanns „Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes“ von 1953. Gleichzeitig macht sie die poetische Pose, in der Artmann sich bis heute bewegt, und damit auch das Rollenhafte seiner Poesie begreiflich. Nach Artmann kann man Dichter sein, ohne jemals auch nur ein Wort geschrieben zu haben. Wichtig ist der außerordentliche und bewußte Wunsch, poetisch zu handeln. Die alogische Geste allein kann zu einem Akt von ausgezeichneter Schönheit, ja zum Gedicht erhoben werden. Dieser Akt ist frei von aller Ambition nach Anerkennung, Lob und Kritik. Er darf nicht der Öffentlichkeit ausgeliefert werden, er ist „ein Act des Herzens und der heidnischen Bescheidenheit“. Und:

Der poetische Act ist materiell vollkommen wertlos und birgt deshalb von vornherein nie den Bazillus der Prostitution. Seine lautere Vollbringung ist schlechthin edel.

Das sind Aufrufe zur Extemporation, zum Happening, zur offenen, surrealistischen Form. Sie signalisieren die Asozialität der Gruppe, den Gesellschaftswiderstand und begründen die Gleichgültigkeit Artmanns gegenüber jeder Veröffentlichungstaktik, wie er sich überhaupt wenig um die Konsequenzen schert, die seine rasch wechselnden Ideen hervorrufen. Die Apotheose des poetischen Aktes bildet die Grundlage seiner Poesie in ihren verschiedenen Realisationen. Als Kunstprodukt von höchster Natürlichkeit und Spontaneität schließt er in sich ein die prononcierte Attitüde, das Rollenerlebnis, die Kostümierung, das vollkommene Anverwandeln verschiedener Sprachschichten und Fremdsprachen, die in der Selbstverständlichkeit des Sprechens ihre idiomatische Isolation verlieren.
Mimetische Begabung und ein forciertes sprachsinnliches Temperament, das fortwährend auf die eigene Subjektivität verweist, führen Artmann immer an der Gefahr eines „chemisch gereinigten“ Modernismus, an der Dürre der bloßen Kalkulation vorbei, die z.B. in der Gruppenerfindung des „methodischen Inventionismus“ (1954) angelegt sind. Hier versuchte man, eine Anzahl von Wörtern oder Wortstöcken („Verbarien“) nach dem Goldenen Schnitt oder nach mathematischen Reihen zu ordnen, um auf mechanischem Weg zu einem schematisch-harmonischen Schwebezustand zu kommen. Artmann jedoch setzt nicht ein fremdes, nur konstruktiven Zwängen gehorchendes Wortmaterial ein, sondern eines, das seinen phantastischen Neigungen zur subtilen Morbidität und Kunstnatur entgegenkommt. Die mechanische oder mathematische Zusammenordnung der einzelnen semantischen Teile ist bei ihm ersetzt durch ein Prinzip, das er die „magnetische Masse“ oder „Sexualität“ der Wörter nennt, die gegenseitig nach Regeln anziehend wirken.
Die inventionistische Manier durchzieht eine ganze Reihe seiner Zyklen („7 lyrische verbarien“, „erweiterte poesie“, „imaginäre gedichte“, „böse formeln“, „flaschenposten“). Man kann sie – modifiziert zu denken – die konstruktive Seite seiner Lyrik nennen. Eine andere bildet das folkloristische Element: Sprüche, Kinderverse, Beschwörungen, Lieder wie jene vom „edlen caspar oder gemeinhin hans wurstel genannt“ oder „treuherzige kirchhoflieder“; dazu gehören das büchlein zaubersprüchlein, allerleirausch etc. In den besten Fällen ist beides ohne Rest ineinander übergegangen mit dem Ergebnis jener selbstbewußten, artifiziellen, manchmal auch kapriziösen Zurschaustellung von Naivität, die Artmann vom poetischen Akt fordert.
Der Kostümwechsel, die Anverwandlung geographisch und zeitlich weit auseinander liegender Literaturen und Kulturen kann Listen füllen. Barock und 18. Jahrhundert; Linné ebenso wie Quevedo, Rabelais, Villon, Daisy Ashford und Dracula, die Kelten, die Schweden, die Spanier; Subkulturen verschiedener Provenienz gehören zu den Stoffmassen, die in der kontinuierlichen Anwendung eines großen Talents sich niedergeschlagen haben. Manches allerdings, die „persischen quatrainen“ etwa oder „vergänglichkeit und auferstehung der schäfferei“ bereichern das Sprachfigurenkabinett Artmanns nur um schöne Reminiszenzen.
Die Hauptzyklen der Sammlung sind auf meine klinge geschrieben (1960), hirschgehege & leuchtturm (1962) und landschaften (1966). Artmann, der nie mit animistisch-psychologischen Voraussetzungen ans Gedicht heranging, also mit Ausdruck suchenden Gefühlen, verbindet hier äußerste, erotisch gespannte Subjektivität mit der pantomimischen Eigenbewegung der Sprache. Seine verschiedenen Formübungen, z.B. die in diesem Band nicht aufgenommenen „echten“ Montagen, seine lang vorbereiteten Nomenklaturen poetischer Reizwörter treten am deutlichsten in den landschaften zu gedrängten Bild- und Ereignisfolgen zusammen, deren surrealer Automatismus fortwährend vom Autor aufgefangen und gesteuert wird: eine Dialektik zwischen Methode und Inkonsequenz, die für Artmann und alle seine Arbeiten bezeichnend ist. Wahrscheinlich bildet sie auch den Schlüssel zu seiner sprunghaften und unbekümmerten Produktivität, mit der vieles, in verschiedenen Stoffkreisen und Gattungen begonnen, nicht immer ausgeführt wird und dann in Bruchstücken kursiert.
Der Ruhm allerdings, der Artmann nicht nur aus literarisch exklusiven Kreisen langsam zuwächst, führt rasch zu einer verstärkten „Einvernahme“ durch Verlage und damit zu äußeren Zwängen, unter denen dann wohl oder übel etwas zu Ende gebracht und veröffentlicht werden muß. Das gilt vor allem für seine jüngst publizierten Prosastücke. Diesem Fanatiker für abseitige, unterströmige Literatur – vieles, wie die magisch-mystischen Geschichten von Lovecraft oder der Stokersche Dracula, ist von Artmann gefördert worden – unterläuft hier ein Eklektizismus, der nicht immer durch eigene Phantasieleistungen oder Neumontierungen aufgehoben ist. Horrorelemente, bizarre schwarz-romantische Vorfälle etwa in dem Band Die Anfangsbuchstaben der Flagge zeichnen sich eher durch einen Effekt des Wiedererkennens aus als durch überraschende Schockwirkung. Deutlich ist der fundamentale Spaß des Autors an Mustern und Attrappen der Subkultur, an Vampiren, titanischen Fledermäusen, magischen Weltvernichtungsformeln und am „seltsamen spiel und walten der natur die nicht aufhört, dem menschen immer und immer wieder neue rätsel vorzusetzen“. Und Spaß macht die hölzern-gravitätische Beweglichkeit der Sprechweise, die Artmann seinen Attrappen angepaßt hat und die eine ironisch-befreiende Transparenz ergibt.
Ein reines Füllstück und nur aus Gründen der Ökonomie der schon früher erschienenen Prosa Fleiß und Industrie beigegeben, scheint mir „Frankenstein in Sussex“ zu sein, diese Geschichte um Alice (im Wunderland), die auf ihren vorwitzigen oberirdischen Erkundigungen durch „den Schornstein in ein tief erdinneres Gebäude und in die Hände eines Monsters oder Golems gerät. Phantastische Befreiungsversuche u.a. eines Dandy sowie eines Hippie unter der Schirmherrschaft der Frau Holle füllen die dreißig Kürzestkapitel, die eigentlich nur eine negative Folie für Fleiß und Industrie abgeben. Hier haben wir eine Beschreibungsfolge vorwiegend anachronistisch-poetischer Handwerksberufe, denen Artmann die Antinomie einer äußerst sinnlich-konkreten Surrealität abgewinnt: Kabinettstücke zwischen Poesie und Prosa. Der Umstand, daß Artmann jetzt eine editorische Schallmauer durchbrochen hat, leistungsfähige Verlage ihn umwerben und großzügige Zusammenstellungen seiner Arbeiten ermöglichen, soll nicht verschleiern, daß Pressendrucke und Kleinstverlage hier eine Menge an Vorarbeit geleistet haben. Artmann hatte die Neigung, an möglichst vielen Stellen seine Texte erscheinen zu lassen, außerhalb des offiziellen Marktes, zugänglich nur den Kennern dieses „bizarren Liebhabers“, in kostbaren Ausstattungen, so daß selbst die „Fabrikation“ zum poetischen Akt wurde. So ist neuerdings hinzuweisen auf die bibliophile, jetzt verbilligt erschienene Neuausgabe der Dracula-Episoden: die Destillation eines Schauerromans, in dem gleicherweise die Anglomanie Artmanns wie sein Hang zum böhmisch-atavistischen vampirischen Urweltmythos zum Zuge kommt. Vierzehn feinziselierte, auf „transsylvanisches“ Schaudern eingestimmte Radierungen von Uwe Bremer begleiten den Text.

Wolfgang Maier, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5.7.1969

Die neuesten Kunststücke des H.C. Artmann

Drei Verlage präsentieren in diesem Frühjahr vier neue Artmanns. Grund zur Freude für jeden Leser, der die Artmannschen Sprach- und Stilkünste schätzt und mit diebischem Spaß beobachtet, wie dieses literarische Chamäleon die Farben wechselt, wenn es Erzähl- und Gedichtgattungen der verschiedensten Zeiten sich nähert und anpaßt. Artmann spricht gern mit verstellter Stimme, man weiß es: Er redet wie der Erzähler von pikaresken Romanen, raunt draculisch-vampirisch, gibt sich wie der kleinbürgerlich-reinliche Verfasser von Ständekatalogen und übersetzt den Villon so in sein heimatliches Idiom, daß man meint, der Verfasser der deftigen Ballade von der dicken Margot sei ein Wiener gewesen. Doch seine glücklich leichte Hand beim Hinwerfen frecher Stilkopien spielt ihm bisweilen Streiche: Die Hand schreibt dann weiter, wenn dem Kopf nichts Rechtes einfällt. 

(…)

Die gewichtigste Publikation Artmanns in diesem Frühjahr aber stellt zweifellos die umfangreiche Sammlung seiner Gedichte unter dem Titel ein lilienweißer brief aus lincolnshire dar. Gerald Bisinger nahm die Mühe auf sich, die verstreuten Poeme zu sammeln, nach verborgenen Abdrucken und bei Freunden versteckten Abschriften zu fahnden. Und dafür sei ihm gedankt, denn Artmann sollte nicht nur als epischer und lyrischer Horrormythologe bekannt sein; die anderen Varianten seines lyrischen Maskenspiels, seine Exerzitien in Barocklyrik, in persischen Quatrainen, in Epitaphen, Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln sind ebenso reichhaltig wie seine epischen Chamäleonstaten. Er spricht ja nie als er selbst, trägt stets eine literarische Maske, aus der es immer anders tönt; er liefert Stilübungen, die aber nie nur Parodien sind: Dafür kann er selbst zu viel, dafür ist zu viel an Surrealismus, Wiener Melancholie und Freude an Sprachexperimenten in seine Gedichte eingegangen. Seine Fähigkeiten zu literarischer Mimikry werden an den Gedichten schlagend offenbar; verglichen mit seinen XXV Epigrammata oder seinen treuherzigen kirchhofliedern erscheinen Arno Holz’ Freß-, Sauff- und Venuslieder geradezu grobschlächtig und kabarettistisch; sein kleiner divan mit pseudopersischen Vierzeilern läßt einen ratlos mit der Frage zurück, ob das nun kostbarste Lyrik oder subtilster Kitsch ist.
Doch auch seine Grenzen werden deutlich. 1958 wurde er als Haupt der Wiener Gruppe abgesetzt, weil er nicht mehr mit ganzer Strenge den sprachrevolutionären Intentionen, die er selbst verkündet und bei seinen Freunden gefordert und gefördert hatte, treublieb. In der Tat, manchmal hat man das Gefühl, daß er in den fast unangenehm schönen, verdächtig kostbaren, geradezu hinterhältig selbstgenießerischen Gedichten vieler Zyklen ein wenig unter dem Preis ein Talent verkauft hat, das ihn doch einst zu Lautgedichten, zu Dialektpoemen, zu den wahrhaft kühnen lyrischen verbarien und in den letzten Jahren zu den ungewöhnlichen landschaften befähigt hatte. So groß der Spaß an seinen unglaublich schönen Stilimitationen ist, in denen er den Kitsch durch sein Können fast adelt: Als Autor der Gedichte med ana schwoazzn dintn, die aller künftig ernstzunehmenden Mundartdichtung einen Maßstab gesetzt haben (und die in dem vorliegenden Band aus unerfindlichen Gründen nicht enthalten sind), wird er eher in die Annalen neuester deutscher Literatur eingehen denn als Verfasser des herrlichen Tands der persischen quatrainen. 

Jörg Drews, Süddeutsche Zeitung, 10./11.5.1969

zu einem manuskript von h.c. artmann

vielleicht braucht auch ein schriftsteller fortune. artmanns begabung steht für mich außer zweifel. ich kenne von ihm seinen berühmten band med oana schwoazzn dintn und sein drittel des buches hosn rosn baa. vermutlich hat er sich gesagt, daß diese poesie auf die dauer doch einer flucht in die spezialität ähnlich sieht. das vorliegende manuskript sucht, teilweise, ein anderes extrem auf: die größte allgemeinheit. damit meine ich die hochstilisierte „einfachheit“ vor allem des ersten teiles. der ausdruck „kunstgewerbe“ liegt nahe. die indizien liegen auf der hand: etwa das archaisieren („das gilbe bergland“, das „pulverhorn“ statt der maschinenpistole) oder das schwelgen in silber, gold und diamant. aber es steckt dahinter eben doch eine absicht, die nicht ganz von schlechten eltern ist. das ist die suche nach einer zweiten unschuld. kaum etwas wäre schwerer zu erreichen. artmanns naivetät ist die eines preziösen, höchst nervösen manieristen. sie ist eigentlich zitat. daher ihr altertümlicher gestus, daher ihr mangel an ironie (die ironie liegt stets außerhalb des textes & vor ihm). statt der zweiten unschuld stellt sich nichts anderes ein als eine dritte romantik – daß sie aus dritter hand kommt, wird dabei stillschweigend eingestanden. (rühmkorfs parodien sind insofern ernster, als sie aufs parodierte eingehen: für artmann genügt es schon, die alten vokabeln zu arrangieren.) die gedichte der ersten hälfte trauern um den freischütz, aber sie erwecken ihn nicht zum leben. der anblick ist melancholisch.
eine intensive kritik der texte hätte noch allerlei zu nörgeln. ich meine die kleinen grammatischen und metaphorischen schnitzer, die sich an einem so preziösen text besonders rächen („mit nüssen ernährte ich mich“ – statt: von nüssen. „der nachtigall horchen“: zweifelhaft. „ein stern geht hoch“ – unfreiwillige assoziation an ,,hochgehen„ – mit einer mine – und so weiter. in dem sonst eher gelungenen gedicht „schöner stern“ heißt es: „richtpol liebender lippen“ – eine metapher, die nicht nur ungenau, also schlecht, sondern die in diesem gedicht ganz unmöglich ist, sie stammt aus der hochfrequenztechnik.)
indessen scheinen mir, auch von solchen details abgesehen, die gedichte im ton der zweiten unschuld allesamt unglaubwürdig. aus einer akzeptablen ist artmann nur in eine andere, weit fragwürdigere spezialität geraten. vulgär gesprochen: im kack-naiven. gebildete umschreibungen: siehe oben.
das konvolut enthält aber noch zwei andere arten von gedichten. ich meine erstens die verfremdeten moritaten vo[m] typus der frau lynch, der katarina, des doktors, der anna lisa, den grafen mit dem einglas. hier liegt ein ganz anderer zugriff vor. diese gedichte haben allen charme einer alten jahrmarkts-darbietung, und ihre bunte exotik zitiert gleichsam die etiketten alter zigarrenschachteln. das ist weit weniger ambitiös, auch „oberflächlicher“, jedenfalls gelungener als die reihe vom unschuldigen freischütz. allerdings: zu einem buch reicht es nicht. ein buch aus lauter gedichten dieser art[] wäre aber möglich, als das was man einen „literarischen leckerbissen“ nennt – wiederum also als spezialität, hübsch illustriert und eingebunden – warum nicht.
daß aber in artmann mehr steckt, daß er gewissermaßen selber jemand ist, nicht nur ein spieler mit sprach-marionetten, das zeigen mindestens zwei gedichte in diesem konvolut: „wenn ich, ein mann ohne stern“ – und: „ein reißbrett aus winter“. das ist so hervorragend frisch, daß der ganze flitter des übrigen dagegen bleich wirkt. ja, wenn er so schriebe, wie er ist –
fortune müßte er haben, und ein minimum an selbstvertrauen. bis dahin – schade.

26’12’1963

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Hans Magnus Enzensberger Lektoratsgutachten aus dem Siegfried Unseld Archiv abgedruckt in Tobias Amslinger: Verlagsautorenschaft. Enzensberger und Suhrkamp, Wallstein Verlag, 2018

Weitere Beiträge zu diesem Buch:

Anonym: Notzucht mit Monstrum
Der Spiegel, 7.7.1969

Ernst Nef: Ich bin Schnorrhabardian. Die verstreuten und nun vereinten Gedichte Hans Carl Artmanns
Die Zeit, 11.7.1969

Anonym: More a way of life
The Times Literary Supplement, 25.9.1969

Rüdiger Engert: Bald kommt Artmann auch zu Dir
Literatur und Kritik, Heft 43, 1970

Curt Hohoff: oder aber: kleidung fantasiehistorisch
Merkur, Heft 266, 1970

 

Theater am Neumarkt

– Autorenabend mit H.C. Artmann. –

Es soll für die Veranstalter dieses Autorenabends, das sind die Herausgeber des Spektrum, nicht leicht gewesen sein, diesen rastlosen Wanderer zwischen zwei Welten und genialischen Dichter, H.C. Artmann, nach Zürich zu verpflichten. Doch hatte es sich herumgesprochen, dass da einer komme, nicht nur, um uns das Gruseln zu lehren, sondern um mit der schöpferischen Kraft der Imagination und einer völlig genuinen, bilderreichen und eigengesetzlichen Sprache in neue Bereiche des Daseins vorzustossen, vielleicht in ein ruhseliges, fernes Traumland, um den fratzenhaften Dämonien der Zeit zu entrinnen, mit denen wir in Artmanns Werk auf eine unheimliche und bedrängende Weise konfrontiert werden. Er entlarvt uns allesamt, entkleidet uns unserer anscheinenden Biederkeit, die wir doch nicht so harmlos sind, wie wir vorzugeben scheinen in unseren bürgerlichen Maskierungen und Zwangsjacken. Unsere altvertrauten und weitgehend entdämonisierten Kinderverse, wie sie in Allerleirauh gesammelt vorliegen; will er in ihrer ursprünglichen Form, in einer harten und bösen und doch kindertümlichen Sprache, wiederherstellen, und deshalb parodiert er diese Kinderreime unter dem Titel Allerleirausch, bei denen auch Erwachsenen unheimlich zumute wird, unter dem Motto:

warte, warte noch een weilchen,
bald kommt artmann auch zu dir,
mit dem kleenen hackebeilchen,
und macht schabefleisch aus dir.

Diese „neuen, schönen Kinderreime“, die Artmann in seine weitgestreute Lesung von Proben aus Poesie und Prosa miteinbezog, finden wir in dem bei Suhrkamp herausgekommenen voluminösen Band: Ein lilienweisser Brief aus Lincolnshire. Es sind Gedichte aus 21 Jahren. Darnacht zählt Artmann, mit dem Jahrgang 1921 zur mittleren Generation deutschsprachiger Dichter.
Dieser vielseitig begabte Dichter, der mehrere Idiome beherrscht, hat sich eine eigene, urwüchsige Sprache geschaffen, die dem alten Kirchenslavisch entnommen ist und für die er eigene Schrifttypen, dem griechischen Alphabet ähnlich, geschnitten hat. Man hörte davon eine Probe aus dem Erzählband Drakula, ein transsylvanisches Abenteuer. Grösstes Vergnügen bereitete Artmann seinen vielen jugendlichen Zuhörern mit zahlreichen Proben in reiner Wiener Volkssprache, wie man sie in der grossen Arbeitervorstadt Ottakring, wo Artmann aufwuchs, spricht. Doch sind sie für nicht Eingeweihte schwer verständlich, auch wenn sie med ana schwoazzn dinten geschrieben sind. Aber was soll man da ohne beigegebene Textunterlagen dazu sagen? Zuhören, und sich an dem derb-gemütlichen Klang solcher Verse und Skizzen erfreuen.

A. S., Die Tat, 13.12.1969

Fragmentarisches über H.C. Artmann und eine Freundschaft

Da mir HC – als die Person, die er war – sowieso ständig zwischen alle Theorien dazwischenkommen würde, habe ich beschlossen, das Verfahren umzukehren, also anstatt mir die Theorien von den Anekdoten ruinieren zu lassen, umgekehrt die Anekdoten auf Theorietaugliches hin abzuhorchen. Wir hatten es uns, es war in Izola auf Istrien, auf einer Hotelterrasse gemütlich gemacht. Später übersiedelten wir auf den Balkon unseres Zimmers und sprachen, unsere Stimmen mögen schon ein wenig lauter gewesen sein, fröhlich dem Wein zu: Plötzlich tauchte auf dem Nebenbalkon ein Herr auf – vier Uhr früh – und mahnte uns giftig zur Ruhe. – Am Morgen dann, die Sonne schien schon ins Zimmer herein, hörten wir wieder die Stimme dieses Herrn vom Nebenbalkon, wahrscheinlich saß er gerade beim Frühstück: Na, mehr brauchte es nicht! HC flitzte hinaus und rief unserem Nachbarn zu: „JETZT wollen WIR schlafen!“ – Seine Erklärung war klar und laut, und es war ihr deutlich anzuhören, daß er, HC, sich völlig im Recht fühlte: Der Nachbar hatte uns um vier Uhr morgens gestört, und jetzt störte er, HC, ihn eben um neun Uhr morgens. HC war imstande, wo alle rot sehen, grün zu sehen und auch dabei zu bleiben:
Eigensinn, Skurrilität, Charakterstärke oder Engstirnigkeit – und wahrscheinlich alles miteinander vermischt, die Anlage war aber wohl auch verantwortlich dafür, daß er als Künstler unbeirrbar an seinen Urteilen und am eingeschlagenen Weg festhielt. Mochten die anderen ruhig etwa die Comic-Hefte belächeln, die Groschenromane abtun, die barocken Manieristen als verblasen ansehen – für ihn bedeuteten sie etwas! (Und dann sind die anderen hinterdrein gelaufen; freilich auch, was die populären Sachen betrifft, weil die aus den USA herüberschwappende Pop-Welle den Vorlieben HCs unterstützend zu Hilfe kam; Andy Warhol, HC und andere zogen am selben Strick – ja, sowas kommt vor.)
Bis in seine Sechziger scheute HC körperliche Auseinandersetzungen nicht, fliegende Fäuste, das ertüchtigende Handgemenge. „Santiago – und drauf auf sie!“ Er war aber nie ein Freund von Schilderungen über derlei Vorfälle, das prahlerische Ausmalen derartiger Szenen liebte er nicht; eher waren sie ihm ein bißchen peinlich. – HC hatte keinen Sinn für Härte und Grausamkeit; er verabscheute Krieg und Militär. Wenn er je grausam war, dann aus Unterlassung.
Mannstümelnde Kraftmeierei, wie etwa bei Hemingway, findet sich bei ihm nicht. – Ihm fremd war auch jene andere Grausamkeit, wie sie aus einer Vorliebe für das schnörkellos Präzise und Reine entsteht – und wie wir sie etwa in den Gedichten der Achmatowa finden. Fremd war ihm auch das Politische, so weit es sich nicht gemüthaft präsentiert.
Im Lauf der Jahre bin ich mit HC in Hunderten Wirtschaften verkehrt. Wir bevorzugten ursprünglich aus finanziellen Erwägungen – das Einfache und Volkstümliche. Für gewöhnlich saßen wir allein, deutlich separiert vom anderen Publikum, und unterhielten uns über unsere Angelegenheiten. Im Gegensatz zu mir schätzte HC aber, wenn der Wirt ihn etwa erkannte und begrüßte und also heraushob. Im übrigen hatte er den gegenläufigen Gusto: Auch mit Leuten, die in keiner Weise mit ihm mitkonnten, war er geduldig und freundlich, gab ihnen das Gefühl (oder erweckte zumindest den Eindruck), daß er sie vollnahm. Während ich poetisch immer postuliert hatte, daß dem Dichter nichts zu banal und abgeschmackt sein darf, weil sich im Gang der Analyse ALLES als wertvoll und nützlich herausstellen kann, war HC in der praktischen Anwendung dieses Lehrsatzes firmer, freilich wieder mit dem inneren Widerspruch und Pferdefuß, daß er gern aufs Extraordinäre im Gewöhnlichen, aufs Bizarre und Exotische aus war (was mir wiederum fremd ist).
Auf unseren Moped- und später Motorradfahrten fuhr HC fast immer voran. Manchmal hatte er, wohl aus Takt und Kameraderie, das Gefühl, er müsse mir auch einmal die Vorfahrt überlassen. Aber ich fuhr meist nur für kurze Zeit vorn, weil ich das Unbehagen von HC an der Situation deutlich im Nacken spürte und weil mir selber kaum etwas daran lag, voran zu fahren. Was ich suchte, war etwas anderes. So fuhr denn er voran, fast grundsätzlich gegen jede Verkehrsregel und immer der Nase nach: Eigentlich beachtete er nur rote Ampeln – und auch die nicht immer. Wir kamen, wenn auch auf gewaltigen Umwegen, schnell vorwärts – weil wir ja eigentlich kein bestimmtes Ziel hatten. Aber während ich, könnte man sagen, erfrischt und aufgekratzt von Unvernunft und Gefahr, von vornherein versöhnt auch mit möglichen Katastrophen, dahinfuhr, gab es für HC immer nur ein einziges, riesiges Glück – in dem dann, gewissermaßen als unabgesprochener Betriebsunfall, das Unglück auch vorkam. HC war gern der Erste und deshalb auch ideal besetzt als Anführer eines avantgardistischen Kunstaufbruchs: Stichwort Wiener Gruppe. Sein Geltungsstreben wurde aber durch die Aufhebung des landläufig Vernünftigen auf liebenswerte Weise konterkariert. Freiheit ist mir immer über alles gegangen – und mit HC war ich da an der richtigen Adresse. In dieser Hinsicht stimmten wir völlig überein, Entzweiung inklusive. Das Glück ist da vorne – irgendwo. Also – los! Hätte sich HC je in Definitionen versucht – aber nein, zu meiner Definition von Langeweile hätte er wohl gesagt, naja, Peter… – oder etwas in der Art. (HC hatte nie auch nur die geringste Schwierigkeit, sich leicht und selbstverständlich anzuverwandeln, was ihm in den Kram paßte.)
Kam es mit den Mopeds zu Pannen, war der erste Impuls von HC, sie einfach irgendwo stehen zu lassen. – Mißmutig schieben wir unsere Räder eine heiße, schattenlose Straße hinunter, irgendwo in Bayern, ein bißl wie Don Quichotte, ein bißl wie Sisyphos. Der Himmel ist blau, die kleinen Wolkenbällchen dazu passend weiß (wir sind in Bayern). Aber dann lernen wir einen Automechaniker kennen, ein schattiger Biergarten ist nicht weit, die Sache beginnt, sich zu entwickeln… – Die Fähigkeit, fünf gerade sein zu lassen, den Zufall, wie er einem vor die Füße fällt, aufzugreifen, ja, das sind „poetische“ Tugenden. – Man braucht sie, nebenher gesagt, auch in der seriösen Wissenschaft. (Es gibt auch Fragmentarisches im Werk von HC; das heißt, wenn sich die Sache nicht in einem Anlauf ergab – dann blieb sie eben liegen.)
Ich habe diesen Betrieb einer ewigen Jugendlichkeit einmal als VERSCHWENDUNGSWIRTSCHAFT bezeichnet. Etwas Unfertiges ist an solchen Menschen. Hatte der eine einmal, gegen jede Wahrscheinlichkeit, die Absicht, zurückzustecken oder klein beizugeben, übernahm der andere gleich den Part der Aufmunterung, der Begeisterung, der kompromißlosen Linie – und so ging die Reise fort.
Ich bin, denke ich, immer mehr und weiter gereist als HC – gewiß war es in den späteren Jahren so. Aber die Stimmung des Aufbruchs, der Expedition umgab selbst unsere Ausfahrten von der Josefstadt in den Wienerwald, wo mich HC immer wieder mit ENTDECKUNGEN konfrontierte: etwa einem Wirtshaus am Tulbinger Kogel, an dem wohl niemand hätte etwas entdecken können, außer eben HC.
Er hatte kaum einen unmittelbaren Zugang zur Natur, zu allem simpel Phänomenalen. Er schwärmte zwar oft und gern über irgendetwas, begeisterte sich für dies und das. Aber hinter den Dingen, die er da anpries, kamen bald die WORTE zum Vorschein. Die Wirklichkeitsschicht, könnte man sagen, war sehr dünn. So hat er sich immer wieder gewundert über meine Lust an der Beschreibung, auch über meine Fähigkeit dazu, während er selber, beinah im Moment, von den Dingen zu den Mythen kam: wie nachzulesen in seiner Literatur.
Es gab da eine Oberfläche bei HC; und ein Geheimnis: Ich spiele euch etwas vor: Damit etwas in mir spielt. Aber: Je mehr ihr an mich glaubt, desto besser werde ich spielen. Jetzt spiele ich! Was ich denke, wißt ihr nicht. Geht euch auch nichts an. Schnauze! Auf’s Denken kommt’s auch weniger an, Freunde: Sei DA! Mit der Vergangenheit habe ich nichts am Hut. Habe ich keine Vergangenheit, so werde ich vielleicht umso mehr Zukunft haben? Da lag auch ein Übergang: Die Präferenz für das Künftige, für das, was noch nicht Sache und Norm geworden ist: Wenn wir auch mit ganz verschiedenen Absichten und von verschiedenen Ausgangspunkten her in diese Richtung strebten, es macht Spaß, die Welt offenen Augs vor einem erstehen zu lassen.
Man WEISS, sieh an, mehr über seine Freunde, als man sich träumen läßt. Jedenfalls mehr, als man sich DENKT.
Es gab da diesen Pakt im Grundsätzlichen: Mach es mit dir alleine ab, das Dunkle, das Traurige, das Mörderische. Was uns betrifft, wir kennen nur das Helle, Heitere, das Holde!… was uns gewogen ist. (Nur wenn die Sorgen so groß wurden, daß man sie nicht mehr übersehen konnte, wurden sie Thema.) Wer nicht auf sein Spiel einging, den konnte HC nicht leiden. Wie jeder Spieler liebte er sein Spiel. Vielleicht fühlte er sich auch bedroht und belauert. (Wie einer, der die Aufdeckung eines Geheimnis’ befürchten muß.) – Wenn du eine Rolle spielst, mußt du sie gut spielen!
HC – ein einsamer Mann? Ein Freund der Einsamkeit? – Einsam war er jedenfalls. Und in gewissem Sinn auch ein Freund der Einsamkeit: Sich einen guten britischen Tee zu kochen, fernzusehen oder noch einmal fernzusehen – das gefiel ihm prima. Er rief selten an. War aber, tauchte man bei ihm auf, so gut wie immer bereit, alles liegen und stehen zu lassen, um stante pede aufzubrechen. (Mir war unerwarteter Besuch immer ein Greuel; HC tauchte fast nie unerwartet auf – was ich gerne für Diskretion hielt.)
Ich denke, er WARTETE irgendwie auf Besuch, auf Anrufe oder Briefe. Auch in seinen Texten und Gedichten dringt er selten in den Bereich der reinen Anschauung vor, in jene Landschaft, WO DU GANZ ALLEIN BIST: Es sind da immer – über die Sprachverfangenheit, um es jetzt einmal so zu nennen – feine und subtile Fäden, die in Richtung Publikum laufen, zu den anderen, den Menschen, die teilhaben und mitmachen. HC stößt sich nie völlig von den anderen ab; er bleibt ihnen, über die Sprache, immer verbunden. Sprache das ist für ihn etwas Großartiges und Wunderbares, etwas, das man ewig studieren kann und das einen nie enttäuscht. (Die Vorstellung etwa, daß Worte erbärmlich sind und nichts leisten; daß Sprache unzureichend ist, menschliches Machwerk – das war ihm, im Gegensatz zu mir, ganz fremd.)
„Verloren gut ist hin / es sprang mir nur voran“ – barocker Tand (aus ,Vergänglichkeit und Auferstehung der Schäfferei‘) oder Lebensweisheit? – Es gibt immer wieder Stellen in seiner Dichtung, wo sich das Gespielte mit dem Echten deckt, wo das Kostüm direkt auf dem Körper aufliegt. Aber diese Stellen sind gut verborgen, fein eingewoben in reiches Geflecht, das Sinn und Verstand blendet, in alle möglichen Richtungen zerstreut. Und so, aus dem Verborgenen heraus, wirkt es auch, das Gedicht.
HCs Sinn für Hierarchie war stark entwickelt: Doch war es eine Gegen-Hierarchie zur wirklichen Welt, ein eigener Entwurf. So war die Kollision vorhersehbar. – Wie oft hat er einen Trip, wie wir es nannten, der Einladung von Leuten, „die wichtig sind und etwas zählen“, vorgezogen. Fachmännisch gesprochen ist Artmann derjenige unter den Dichtern deutscher Sprache, der am besten Bescheid weiß über die Möglichkeiten, die in der Sprache, im Wort selber liegen – eben über jene Kräfte, die uns, wie Wittgenstein sagt, beim Gebrauch der Sprache ,behexen‘. Als er in Wien einmal aus seinen gesammelten Gedichten vorlas, kam es mir beim Zuhören vor, als sei ich in Ali Babas Höhle geraten und Zeuge der phantastischen Szene: Der Räuberhauptmann packt seine Kiste aus, und herausrinnen die Juwelen, die Diamanten und Perlenketten; das Gold! – Wie das leuchtet und glitzert! Wie das glänzt und funkelt!
Im Anfang war das Wort: Was Artmann anlangt, eben nicht als Nomos und Gesetz, sondern als gerades Gegenteil: als machtvoller Strich durch die Rechnung, als Farbmasse, als Lichtexplosion. – Obwohl er andererseits ein großer Formkünstler ist.
Dereinst wird er, ein echter Mann des Volkes, gerühmt sein als EINE Verkörperung unserer kollektiven Seele; als zum Grundbestand unserer Kultur gehörig. Und das ist nur eine Seite der Medaille. Er ist so unglaublich lebendig.
Einmal wieder unterhalten wir uns über Politik und die aktuelle politische Lage. Ich erwähne Koloman Wallisch, den Arbeiterführer, der im 34er-Jahr hingerichtet wurde und an den jetzt eine Ehrentafel in der Vorhalle des Parlamentes erinnert (gegen die Anbringung im Inneren verwahrte sich damals die ÖVP). Darauf HC, berührt und fast gerührt: „Dir fallt immer grad das Richtige ein!“
Ich sitze mit der kleinen Emily im halbdunklen Musikzimmer im Haus im Moor, in Salzburg, und lasse, von Schwermut bestimmt, immer wieder ein trauriges irisches Lied auf dem Plattenspieler laufen: HC, sonst durchaus ein Freund solcher Musik, mißbilligt für heute meine Auswahl und legt, nachdem er das Fenster aufgestoßen hat, eine ganz andere Musik auf.
Ja, so war das. So könnte es – vielleicht – gewesen sein.

Peter Rosei, aus: Peter Rosei: Die sog. Unsterblichkeit. Kleine Schriften, Sonderzahl Verlagsgesellschaft, 2006

Frauenlob bei Artmann und im Schlagertext

Der Verehrer, Anbeter und, wie er meint, Kenner der Frauen und ihrer Schönheit ist in Wahrheit ihr schlimmster Feind.
Wie sein weibliches Pendant, der Vamp, ist er als Saurier vom Aussterben bedroht, er hat im doppelten Wortsinn die Geschichte der Unterdrückung hinter sich. In unserem Jahrhundert erst war es der Wissenschaft im Mäntelchen einer behaupteten Objektivität vergönnt, im Namen und mit dem Prestige der ganzen männerdominierten Zunft zu sagen – wie Freud etwa –, was das Wesen der Frau sei und wie es zu sein habe, um einem männlichen Normenkatalog zu genügen.
Seit Jahrhunderten aber haben die Künstler das Bild der Frau nicht nur, wie ihre Zeit es sah, widergespiegelt, sondern mitgeschaffen und fixieren geholfen. Je größer ihre Kunst, um so weniger Lust und Kraft hatten zu allen Zeiten die Frauen, sich gegen diese Bilder von sich aufzulehnen.
Artmann ist so ein Frauenkenner und -liebling, der Zauber seiner Gedichte, von denen hier allein die Rede sein soll (für meinen Zweck kann und muß ich seine Prosa und Theaterstücke nicht berücksichtigen), sollte einen nicht dazu verführen, seine vier Haupttypen von Frauenbildern als unvermeidliche Ingredienzien zu akzeptieren (als wäre hier von exotischen Vögeln oder Pflanzen die Rede), und als müßte man diesem Zauber zuliebe Gemeinheiten und Gemeinplätze überhören.
Wo immer Artmann von Frauen spricht, und das geschieht oft, sind sie

a) Kannibalinnen, gefährlich verzehrend;
b) kopf- und seelenloser Augenschmaus, sein Lieblingswort für sie: Puppen;
c) in Regressionsphantasien erträumte Ernährerinnen;
d) Teenager-Töchter, als deren begönnernder und inzestlüsterner Vater er sich gefällt.

Ich werde mich nur fallweise der gebräuchlichen Praxis bedienen (und das nicht ohne Unbehagen), Text- und in diesem Fall Gedichtstellen ideologisch aus dem Zusammenhang zu lösen, wie in den positivistisch bestimmten Naturwissenschaften, etwa der Medizin, wo im Namen der Hypothese von der histologischen Beschaffenheit eines winzigen Gewebestückes auf den ganzen Organismus geschlossen wird, ohne die Vielfalt der gleichzeitig bestehenden Strukturen. Mechanismen, oder wie immer man sagen will, berücksichtigen zu können. Ich lese nun aus dem lilienweißen brief aus lincolnshire:

antonia,
du kannibalin,
ist dir
mein hals nicht genug?
sie beißt mir
die augenbrauen
wie die schuppen eines fisches
weg!
ist sie ein seeadler geworden
der dem ozean
ins fleisch stoßt?
meiner seel,
klagt anselmo,
wenn das so weiter geht,
dann bleiben mir
grad noch die augensterne
und die haut
an den fingerspitzen ..
aber sei’s drum:
antonien sehen
und fühlen
ist mir ein himmel
aus rutschiger seide und
den bezauberndsten farben,
die sich ein mensch
überhaupt vorstellen
kann…

Hier werden einmal die alten männlichen Ängste vor weiblicher Unersättlichkeit gleichwohl masochistisch genossen, viel häufiger dürfen Husaren, Zauberer oder zwielichtige Grafen (wie in allen Blaubarttexten, auf die ich nicht eingehen kann) die sadistischen Phantasien ihres Meisters gegen Frauen ausleben.
Zu meiner Behauptung, der „Churfürstliche Sylbenstecher“, wie sich Artmann auf einer Visitkarte nennt, liebe die Frauen als Puppen und Haustiere, lese ich zunächst das Gedicht vom „grafen mit dem einglas“:

der graf mit dem einglas aß von den kuchen
er hatte ein nordlicht verkauft er war reich

eine lange reihe ford neunzehndreißig hielt
vor der villa die puppen kamen es donnerte stark

eine um die andre kam zu dem grafen gesichter
wie milch und porzellan es donnert im winter

den grafen reute der verkauf des nordlichts
er war reich die puppen erschienen zum tee

es donnerte stark der graf mit dem einglas
ließ kuchen servieren man trank dazu tee

der graf vertrieb sich die zeit mit den puppen
er war reich es donnert im winter noch kuchen

meine puppen sagte der graf mit dem einglas
sind wie milchporzellan es donnerte stark

das nordlicht kam in die hand eines führers
der kommandierte es rasch und direkt an die front

es donnerte stark die puppen erzitterten sehr
sie meinten zu sterben sie tranken viel tee

das nordlicht erschien vor dem feind es war
bald von kugeln durchlöchert es donnerte stark

es donnert im winter dem grafen entglitt oft
das einglas es fiel zwischen kuchen und tee

es reute ihn sehr das nordlicht verschachert
zu haben das trieb nun durchlöchert im wind

der graf war sehr reich und es donnerte stark
die puppen die sagten adieu sie gingen hinaus

ein ford um den andren verschwand sie traten so
zart die pedale die puppen der graf war sehr reich

es reute ihn sehr das nordlicht durchlöchert
zu sehen er trank etwas tee es donnerte stark

In einem Ausschnitt aus „ich bin ein polares gestirn“ heißt es:

es donnert in den eisbergen ich knacke mit den fingern
drei eskimomädchen liegen wartend in meinem seehundbett

einer meiner namen ist seehund die mädchen gehen nackt
im schnee sie erneuern ihre schönheit in meinem glitzern

ich kaufe ihnen häute in den besten läden von ganz alaska
ich bin auch ein sehr nördlicher totempfahl winternachts

wenn ich mit meinem glitzern zu bett gehe so werfe ich
die drei eskimomädchen auf den boden sie kreischen sanft

sie kommen wieder zurück sie kratzen mein glitzern stark
ich liebe mein glitzern aber die eskimomädchen mag ich auch

ich hänge ihnen viele kinder an schönste robben und bären
seehunde und alke alle meine namen fülle ich in ihren bauch

Nun mag man Artmann zugute halten, daß er sich nicht immer tierisch ernst nimmt und sich auch selbst als Eisbär, Robbe und Seehund darstellt; nur sind die Frauen, die er zu verehren vorgibt, immer wieder nichts als Versatzstücke einer – versteht sich – exotischen oder kostbaren Szenerie, oder herumkommandierbare Lustobjekte, für die ein Fingerknacken genügt, um sie herbeizulocken oder wegzuschicken. Daß Artmann, der sich zeit seiner lange dauernden Armut aus dem heimischen Kabinett in das erlesene Ambiente adeliger Herrschaften geträumt hat, dem Kitsch nahe ist, hat Peter Bichsel in seinem Nachwort zu verbarium angemerkt:

Es ist zwar ein edles Unterfangen, den Kitsch von den Gedichten wegschwatzen zu wollen, aber ein eitles.

Daß er vielen Schlagertexten, vor allem jenen der 50er und 60er Jahre, ideologisch nahesteht, möchte ich im Bewußtsein der gewaltigen Differenz in der Qualität dennoch behaupten und vorführen (oder darf man Goldschnüre mit Suppennudeln nicht vergleichen, und welcher Vergleich brächte mehr, der von Goldschnüren mit Goldschnüren?). Zu meiner weiteren Behauptung von den Versorgerinnen und Inzesterchen lese ich ein Beispiel, wo von beiden die Rede ist:

ich trinke die milch meiner frauen ich habe viele frauen
ich habe weder töchter noch söhne aber viele frauen habe ich

die vögel tanzen gemalt auf meinen töpfen in den töpfen
habe ich beeren gesammelt manchmal enthalten sie auch die milch

meiner frauen oder das fleisch erlegter tiere meine frauen
sind meine fleischversorgerinnen sie müssen auf die jagd gehen

jägerinnen sind sie sie haben grünes haar und grüne augen
viele von ihnen sind zwölfjährig viele aber auch schon vierzehn

Der Dichter und Wortführer einer formalen Avantgarde, der sich im Gestus so rebellisch und anarchistisch darstellt, zeigt sich in seiner Frauenschilderung und Frauenverehrung so bieder und brutal, wie sich das Patriarchat in der kleinbürgerlichen Sphäre nun mal artikuliert. Der formale Avantgardist, besonders wenn er wie H.C. Artmann vom Surrealismus kommt, braucht von der Welt, in der er lebt, nichts zu verstehen, er schafft sich ja eine eigene Sprache, die wie der Traum nicht zum Verstehen gemacht ist. Dieses System darf kraft seiner Innovation (z.B. der Benützung von raren Metaphern und Assoziationssprüngen) inhaltlich die ärgsten Kalauer wiederholen, und einem emotionalen Gartenzwergreich, das uns im Schlager und in der Werbung ohnedies ständig, nur eben unorigineller strukturiert, umgibt, als Verstärker dienend, läßt es dieses in neuem Glanz erstehen. In diesem Reich ist Frauenhaß die alltägliche und daher unbemerkte Verkehrsform, bei Artmann heißen die Frauen, wie gesagt, Puppen, im Schlager und nicht nur im englischen, Baby, gleich bleibt die Herablassung und Geringschätzung. Vergleichbar ist auch eine Sicht, die die weibliche Schönheit verdinglicht, vergleichbar die infantile Haltung gegenüber imaginierten und wirklichen Rivalen, überhaupt die Reflexionsscheu und die hinter viel Brimborium und Gestik schlecht versteckte Enge des Erfahrungshorizonts. Was denkt der Großmeister denn Unkonventionelles? Ein wilder Kleinbürger zeigt hunderttausend zahmen Kleinbürgern, daß er so denkt wie sie, daß er aber in der Verkleidung von bösen Ringelspielbesitzern, boshaften Kasperln und gräflichen Frauenmördern immer noch ein bißchen gemeiner und kindischer ist, als sie sich auch nur zu denken getrauen. Staunend steht Peter O. Chotjewitz auf der Suche nach Artmann vor der Vielfältigkeit seiner Posen und Verkleidungen:

Husar oder Surrealist, Volksdichter oder sich barockisch unterwerfende Kreatur, Agitator oder chinesischer Hofdichter, Weltreisender oder Wiener Vorstadtpoet, ruheloser Wanderer oder stadtbekannter Bürger, Rauf- und Trinkbold oder empfindsamer Lauscher an Nachtigallenschnäbeln, Donaumonarchist mit antisemitischen Neigungen oder anarchistischer Freigeist, galanter Liebhaber oder Carrasco der Schänder. (Chotjewitz, Der neue selbstkolorierte Dichter)

Ich vermisse bei der Aufzählung den in allen verborgenen, gestikulierenden Kleinbürger und frauenverachtenden Patriarchen.
Während in Artmanns Texten die Banalität und patriarchalische Brutalität (die bezeichnenderweise nicht einmal Berufskollegen aufzufallen pflegt) von den komplizierten poetischen Techniken und Mustern verdeckt ist, hat der Schlager auf einem anderen komplizierten Weg aus den Theorien ideologischen Ramsch zu jener grobschlächtigen Direktheit gefiltert, die der Naive für wahr hält, weil er hier alles zu verstehen glaubt. Artmann ist Monarchist, möglicherweise weil er als Anti-Intellektueller sich mit den neuen, schwerer zu durchschauenden Hierarchien nicht zurechtfindet, und, wie Jörg Drews meint, auch aus einem ästhetischen Grund. Zitat:

Die ständische Welt, vom alten Zarenreich bis zum englischen Adel, ist bunter, abbildbarer, erzählbarer, reicher an Individuen als die moderne Gesellschaft, die nach abstrakten, nur kompliziert zu beschreibenden Normen funktioniert. (Drews, Ein Herbst in Schweden)

Der Schlager der 50er und 60er Jahre schildert ebenfalls eine heile Kleinbürgerwelt mit dem Blick in die oberen Ränge und den alten nicht bezweifelten Geschlechterrollen. An Gemeinsamkeiten findet sich: die Exotik der Schauplätze, das Voyeurtum der Gentlemen oder Matadores, das Sprechen mit fremdländischem Akzent, die puppenhafte, austauschbare und oft nur partiell geschilderte Reklame, Schönheit der Besungenen, die Verfügbarkeit der Schönen, sobald sie erobert sind; die Männer sind von Beruf Jäger, Kapitän, Präsident, Ritter oder Reiter, die Frauen sind Tänzerinnen, haben bestenfalls einen Vornamen und irgend etwas Sehenswertes an sich. Beispiel:

Das machen nur die Beine von Dolores
daß die Senóres
nicht schlafen gehn
denn die Toreros und die Matadores
die wollen Dolores
noch tanzen sehn
und jeder wünscht sich
dann nur das eine
sie möcht alleine
für ihn sich drehn

Auch die Sorte des infantilen, verschämt unverschämten Voyeurismus findet sich mal hier mal dort. Bei Artmann:

katarina rutscht unversehens
vom laufbrett ab
ihr rock geht hoch bis an die dunkle grenze.

Dazu ein drastischeres Schlagerbeispiel:

Ich hab das Fräulein Helen
baden sehn,
das war schön,
da kann man Waden sehn,
rund und schön,
im Wasser stehn.
Und wenn sie ungeschickt
tief sich bückt,
sooooo,
dann sieht man bei der Frau
ganzgenau,
ooooooooh

… im Wasser stehn,
man fühlt erst dann
sich recht als Mann,
wenn man beim Badengehn
Waden sehn
kann

Was ein rechter Mann fühlt, weiß Artmann so gut wie der Schlagertext, und ebenso, mit welchen weiblichen Listen und Fallstricken man rechnen und wie man sie bestrafen muß (wie der Paranoiker, der eigene Aggressivität im vermeintlichen Feind, dem er sie andichtet, nicht wiedererkennt):

frau waldfrau waldfrau
tu mich nicht wecken
tu mich nicht necken
tu mich nicht pecken
sonst reit ich dir nach
auf meinem schnecken
schau diesen stecken
groß zum erschrecken
damit hau ich dich blau

Artmann montiert den gefundenen Kitsch nicht mit kühlem Kalkül, Gerhard Rühm spricht in diesem Zusammenhang von intuitiver Montage, die, wie ich meine, Artmann so verblüffend und zu Herzen gehend gelingt, weil er mit dem Ironisierten eine verzwickte Verwandtschaft hat.
Wenn Frauen bei Artmann gerade nicht gevögelt, verhauen, zerstückelt oder gefressen werden, bekommt schon manchmal eine Tänzerin einen ironischen Liebesbrief. „liebe verehrte orchideengrüne primaballerina / aus windsor am kamp massachusetts udssr recommandé“, in welchem dezent ein Jaguar 60, ein schlüsselfertiges Badezimmer im Berliner Hilton, eine Filmwohnung in Döbling im Demelschokoladentortenstil und anderes als Ziel ihrer Wünsche suggeriert wird.
Im Schlagertext ist offener Sadismus selten, die puppenhafte Tänzerin, die mit kleinen Tricks und Lügen, die ja zu den naturwüchsigen Waffen der Weiblichkeit gezählt werden, sich um die Gunst der Herren und Kunden abstrampelt, um so häufiger. Daß gerade die ansprechendsten Exemplare käuflich sind, wird hier und dort als selbstverständlich angenommen, der weltgewandte Altmeister fragt in der jeweiligen Landessprache „How much, Schatzi“, wie auch der Titel eines Prosabandes lautet. Dazu als Schlagerbeispiel, von Bill Ramsey gesungen:

Kennt ihr die Zuckerpuppe
aus der Bauchtanzgruppe,
von der ganz Marokko spricht,
die kleine süße Biene
mit der Tüllgardine
vor dem Babydollgesicht?
Suleika – Suleika,
heißt die kleine Maus,
heißt die Zuckerpuppe
aus der Bauchtanzgruppe
und genau so sieht sie aus.
Da staunt der vordere Orient,
da staunt der hintere Orient,
da staunt ein jeder der sie kennt,
und mancher Wüstensohn
hat sie schon
als Fata Morgana gesehn,
ja sogar mir, sogar mir
blieb bei ihr
das Herz fast stehn.
Denn diese Zuckerpuppe
aus der Bauchtanzgruppe
rückte näher peu à peu,
dann hob die süße Biene
ihre Tüllgardine
vor mir plötzlich in die Höh.
Elfriede, Elfriede!, rief ich durch den Saal,
denn die Zuckerpuppe
aus der Bauchtanzgruppe
kannte ich aus Wuppertal.

Ähnlich dick aufgetragene Ironie läßt sich auch bei Artmann leicht finden, der sich trivialer Vorlagen ironisch bedient, manchmal aber auch nur zu bedienen glaubt. Daß ihm oft die reflektierende Distanz (oder die Distanz der Reflexion) fehlt, würde er als echter Narziß seinen wenigen Kritikern, die er kurzerhand zu Feinden und Trotteln erklärt, nicht glauben.
H.C. Artmann hat vor wenigen Tagen seinen sechzigsten Geburtstag gefeiert. Ein alter Haudegen, der die Welt um sich, wie gesagt, noch nie verstanden hat, sich sein Märchenwunderland aus Sprache geschaffen hat, in dem surreale Husaren und Vampire herumschwirren, die Weltsicht der Geisterbahn, in der goscherte Weiber, sofern sie auftreten, schwere Strafen erleiden:

DER FRAUENZERSTÜCKLER

erst schneidt er ab ihr linkes bein
um nächsten tag ihr rechtes bein
und mauert die beiden im keller ein
nach soviel liebesstunden ..

was fang ich mit den händen wol an
die mir manch schönes spiel getan?
die werd ich auch abschneiden!
nach soviel liebesstunden ..

und als die hände abgeschnitten sind
weint er vor sich hin wie ein kind
weil aus dem leib kein blut mehr rinnt
nach soviel liebesstunden ..

die händ und füß sind im sichern verbleib
nun ist er allein mit kopf und leib
drauf blühn der verwesung rosen
nach soviel liebesstunden ..

er trennt den kopf ihr ab vom rumpf
wirft ihn in den brunnen .. plumpf ..
und schleicht zurück auf sein zimmer
nach soviel liebesstunden ..

was fang ich mit dem leib wohl an
der mir manch schönes spiel getan?
den will ich in zwölf Stücke schneiden ..
nach soviel liebesstunden ..

doch als er ihre brüste schnitt
da machte das messer nimmer mit, o gott!
das messer verlor seine schärfe
nach soviel liebesstunden ..

so schneidt er von ewig zu ewigkeit
an seiner verstorbnen gelegenheit .. nur zu!
vergeblich mit lauernden augen ..
nach soviel liebesstunden ..

Befremdlich und untersuchenswert ist sein Einfluß, von dem ich nicht glauben kann, daß er aufs Formale beschränkt ist, seine Verstärkerfunktion auf ein ohnehin reichlich vorhandenes Potential an ältesten Vorurteilen gegen Frauen und Tschuschen etwa, denn die altmeisterliche Brillanz macht für viele die alten Hüte wieder tragbar.
André Heller etwa, der dem alten Zauberer nicht das Wasser zum Rasieren reichen kann, wurde vielleicht ermutigt, Frauen zu stummen exotischen Schaustücken zu degradieren, Wolfi Bauer, der außer von Artmann noch vom Aktionismus angeregt wurde, der seinerseits Stücke von Artmann und Bayer eskalierte, zu den Massakern an den Frauenrollen seiner Stücke.
Die Schlagertexte der letzten Jahre haben etwas von ihrer Plumpheit verloren. ihre Frauenverachtung kommt jetzt dezenter daher, während sich ein Teil der jungen literarischen Avantgarde noch immer am Konservativismus des alten Artmann orientiert.

Elfriede Gerstl, aus Elfriede Gerst: Behüte behütet, Literaturverlag Droschl, 2013

 

GEHEIMSPRACHE FÜR H. C.

Lawrence of Arabia
griff von der Leinwand herab,
verzerrt, wir saßen in
der ersten Reihe, ganz außen.
(So entstehen Perspektiven.)

In deinem Zimmer stülptest du
einen Pullover über mich:
zum Schutz für den nächsten Tag,
an dem ich Freiheit suchte,
die du, erfahrener, kanntest.
Dem Lehrmeister dankte ich.

Einmal im Süden des Landes,
du kamst aus dem Schilf
als Schäfer (der Dichter!),
nicht unweit davon gedieh die Schäferin,
reifte heran für spätere Jahre.

Wir begleiteten dich zur Schmiede,
zum Schuster. Deine Verwandlungen
verwandelten sich in Bilder,
auch Draculas Schrecken.

Wie immer, du warst die Nähe
der Poesie, der Flug
der Wörter ins Weite.

Gewahrend und sanft
ist der Meister der Formen
für die Jüngeren der Jüngere.

Alfred Kolleritsch

 

 

Der Mond isst Äpfel… sagt H.C. Artmann. Die H.C. Artmann-Sammlung Knupfer

Clemens Dirmhirn: H.C. Artmann und die Romantik. Diplomarbeit 2013

 

 

Adi Hirschal, Klaus Reichert, Raoul Schrott und Rosa Pock-Artmann würdigen H.C. Artmann und sein Werk am 6.7.2001 im Lyrik Kabinett München

 

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 1)

„Spielt Artmann! Spielt Lyrik!“ (Teil 2)

 

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shi 詩 yan 言 kou 口
Nachrufe auf H.C. Artmann: FAZ ✝︎ Standart ✝︎ KSA
70. Geburtstag10. Todestag

Zum 100. Geburtstag des Autors:

Michael Horowitz: H.C. Artmann: Bürgerschreck aus Breitensee
Kurier, 31.5.2021

Christian Thanhäuser: Mein Freund H.C. Artmann
OÖNachrichten, 2.6.2021

Christian Schacherreiter: Der Grenzüberschreiter
OÖNachrichten, 12.6.2021

Wolfgang Paterno: Lyriker H. C. Artmann: Nua ka Schmoez
Profil, 5.6.2021

Hedwig Kainberger / Sepp Dreissinger: „H.C. Artmann ist unterschätzt“
Salzburger Nachrichten, 6.6.2021

Peter Pisa: H.C. Artmann, 100: „kauf dir ein tintenfass“
Kurier, 6.6.2021

Michael Stavarič: „Immer verneige ich mich, Herr Artmann“
Die Furche, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: Die Reisen des H.C. Artmann
Wiener Zeitung, 9.6.2021

Edwin Baumgartner: H.C. Artmann: Tänzer auf allen Maskenfesten
Wiener Zeitung, 12.6.2021

Cathrin Kahlweit: Ein Hauch von Party
Süddeutsche Zeitung, 10.6.2021

Elmar Locher: H.C. Artmann. Dichter (1921–2000)
Tageszeitung, 12.6.2021

Bernd Melichar: H.C. Artmann: Ein Herr mit Grandezza, ein Sprachspieler, ein Abenteurer
Kleine Zeitung, 12.6.2021

Peter Rosei: H.C. Artmann: Ich pfeife auf eure Regeln
Die Presse, 12.6.2021

Fabio Staubli: H.C. Artmann wäre heute 100 Jahre alt geworden
Nau, 12.6.2021

Ulf Heise: Hans Carl Artmann: Proteus der Weltliteratur
Freie Presse, 12.6.2021

Thomas Schmid: Zuhause keine drei Bücher, trotzdem Dichter geworden
Die Welt, 12.6.2021

Joachim Leitner: Zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann: „nua ka schmoezz ned“
Tiroler Tageszeitung, 11.6.2021

Linda Stift: Pst, der H.C. war da!
Die Presse, 11.6.2021

Florian Baranyi: H.C. Artmanns Lyrik für die Stiefel
ORF, 12.6.2021

Ronald Pohl: Dichter H. C. Artmann: Sprachgenie, Druide und Ethiker
Der Standart, 12.6.2021

Maximilian Mengeringhaus: „a gesagt, b gemacht, c gedacht, d geworden“
Der Tagesspiegel, 14.6.2021

„Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt“
wienbibliothek im rathaus, 10.6.2021–10.12.2021

 

 

Ausstellungseröffnung „Recht herzliche Grüße vom Ende der Welt!“ in der Wienbibliothek am Rathaus

 

Lovecraft, save the world! 100 Jahre H.C. Artmann. Ann Cotten, Erwin Einzinger, Monika Rinck, Ferdinand Schmatz und  Gerhild Steinbuch Lesungen und Gespräch in der alten schmiede wien am 28.10.2021

 

Sprachspiele nach H.C. Artmann. Live aus der Alten Schmiede am 29.10.2022. Oskar Aichinger Klavier, Stimme Susanna Heilmayr Barockoboe, Viola, Stimme Burkhard Stangl E-Gitarre, Stimme

 

Bild von Juliane Duda mit den Texten von Fritz Schönborn aus seiner Deutschen Dichterflora. Hier „Uferartmann“.

 

Ausschnitte aus dem Dokumentarfilm Die Jagd nach H.C. Artmann von Bernhard Koch, gedreht 1995.

 

H.C. Artmann 1980 in dem berühmten HUMANIC Werbespot „Papierene Stiefel“.

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