Hilda Doolittle (H. D.): Denken und Schauen : Fragmente der Sappho

Doolittle (H.D.): Denken und Schauen : Fragmente der Sappho

SAPPHO FRAGMENTE
FRAGMENT 36

Ich weiß nicht, was tun:
mein Ich ist geteilt.
– SAPPHO.

Was tun? Ich weiß es nicht,
bin meines Ichs beraubt:
ist Singen süßeste Gabe?
ist Liebe lieblichste Labe?
Was tun? Ich weiß es nicht,
nun Schlaf so viel Gewicht
auf deine Augenlider legt.

Soll ich deine Ruhe unterbrechen,
verzehrend, scharf?
ist Liebe süßeste Gabe?
nein, Singen lieblichste Labe:
doch wärst du mir verloren,
welche Hingerissensein
könnt ich dem Lied entnehmen?
welch Lied wär dann noch da?

Was tun? Ich weiß es nicht:
mich umdrehn und löschen
das Rasen, das so brennt?
Mit meinem heißen Hauch
den kühlen brennen machen?
mich umdrehn und Schnee
in den Arm nehmen?
(ist Liebe süßeste Gabe?)
doch trostlos wäre
Flocke um Flocke Schnees,
lägest Du ratlos da,
erwacht – doch unerweckt.

Soll ich mich umdrehn
und trostlosen Schnee umarmen?
Lippen drücken auf Lippen,
die nicht erwidern,
Lippen drücken auf Fleisch,
das nicht schaudert noch schmilzt?

Ist Liebe süßeste Gabe?
soll ich mich umdrehn
und wildes Verlangen ersticken?
O ich bin scharf auf dich!
wie die Pleiaden ihr Weiß
in weißeres Wasser schütten,
so soll ich dich nehmen?

Mein Ich ist ganz gespalten:
zwei Ichs, die zaudern,
so völlig ebenbürtig,
was tun? Ich weiß es nicht:
eins widerstrebt dem andern
wie zwei weiße Ringer,
die dastehn, sich im Kampf
zu winden, zu umklammern,
doch keinen Muskel regen noch Nerv noch Sehne;
so wartet mein Ich,
mit meinem Ich zu ringen,
und ich liege still,
scheinbar in Ruhe.

Was tun? Ich weiß es nicht:
Akkord auf Akkord,
Ton sich türmend auf Ton
macht mein Hirn blind;
wie eine Wellenlinie warten mag zu fallen,
der Wind jedoch (indes sie wartet)
von ihrem Kamm
wegnehmen mag
Flocke um Flocke weißen Schaums,
der auffliegt,
zu fliegen scheint, zu pulsieren
und das Licht zu zerreißen,
so zaudert mein Ich,
über der Leidenschaft
bebend, doch noch zu vergehn,
so zaudert mein Ich
über meinem Ich,
lauschend der Lust zu singen.

Was tun? Ich weiß es nicht:
wird der Ton abbrechen,
die Nacht zerreißend
mit Riß auf Riß von Rose
und gestreutem Licht?
wird der Ton abbrechen, endlich,
wie die Welle zaudernd,
oder wird die ganze Nacht vergehn,
und ich liege lauschend wach?

 

 

Kommentare

1.
„Notes on Thought and Vision“: 1919, als H.D. diese Notizen schreibt, ist sie 33 Jahre alt. Erste große Erfolge und noch größere Enttäuschungen hat sie hinter sich. Ihre Ehe mit Richard Aldington ist gescheitert. Ihre eben geborene Tochter Perdita wird sie mit Bryher, ihrer geliebten Freundin, großziehen. Aber der Krieg ist vorbei. Sie sind im Begriff, ihre erste Griechenlandreise anzutreten. Anlaß genug, sich innerlich umzuschauen und methodisch ihrer seIbst zu versichern.
Es ist ein Essay, wenn auch nicht als Aufsatz angelegt und nicht zum Traktat zugespitzt; eher ein phänomenologischer Spaziergang mit allerlei Ausflügen ins Philosophische. Es sind Aufzeichnungen, in denen H.D. sich klarzumachen sucht, was sie unter künstlerischer Arbeit versteht, wie sie die eigene Arbeit betrachtet und wie ihr dabei zumute ist.
Zumute. Dafür hat das Englische den Terminus mind, der viele Formen von Bewußtheit in sich begreift, die vom Meinen bis zum Geist reichen und die körperliche Befindlichkeit nicht ausschließen. Zu viele Formen, als daß H.D. nicht versucht sein sollte, ihn weiter auszudifferenzieren und dem alltäglichen Geisteszustand ein Unter-Bewußtsein zu unterlegen und einen Über-Geist an die Seite zu stellen. Unterscheidungen, die mit denen moderner Psychologien teils zusammenfallen und teils kollidieren.
Aber das Terminologische einmal dahingestellt: in der Sache geht es H.D. darum, herauszufinden und darzulegen, was eigentlich in ihrem Kopf – und in ihrem Körper – vor sich geht. Denken und Schauen: ist es Inspiration oder harte Gehirnarbeit? Ist es eine Weise, eine Kunst des Wahrnehmens? Ist es Liebe? Ist es für Frauen leichter als für Männer? Wo und wie kommt der Körper ins Spiel?

2.
„The Island. Fragments of Sappho“ (1920): Diese Notizen entstanden 1920 im Zusammenhang mit H.D.s erster Griechenlandreise; als sie 1982 posthum erschienen, bekamen sie den Titel „The Wise Sappho“, unter dem sie heute meist zitiert werden.
Wenig, aber alles Rosen, sagte Meleager. Wenig? fragt H.D. Alles Rosen? Vielleicht war ihr gar nicht so bewußt, wie lange das 19. Jahrhundert gebraucht hatte, um im Fragment, im Bruchstück den „Torso“ zu entdecken, das „in sich vollkommene“, wiewohl nicht vollkommen erhaltene Werk. Aber spätestens hier wird es ihr klar. Die Gestalt der Sappho, in die sie seIbst sich einzuleben begonnen hat, der sie ihr ganzes Werk zuschreiben wird, ist ein eben solcher Torso, dessen „Brüche“, dessen „Offenheit“ zu seiner Wahrheit gehören, die uralt ist und zugleich präsent oder, wie man so gern sagt, modern.

3.
„Sappho Fragments“ (1921, 1924): „The four Sappho fragments“. heißt es in H.D.s Vorbemerkung zu Heliodora and Other Poems (1924), „are re-worked freely“. Diese Gedichte sind mithin keine Übersetzungen, sondern selbständige Gedichte H.D.s, die unter ein Sapphozitat gestellt sind und sich deutlich, aber – bis auf eine Ausnahme – antithetisch auf Sapphos’ Oden beziehen. Der ebenso bildkräftige (imagistische) wie schlichte Ton, der die Arbeiten H.D.s von Anfang an auszeichnet, gibt sich hier als Sapphoton zu erkennen.
H.D. konnte Sappho griechisch lesen, zitierte und numerierte ihre Fragmente aber nach der altehrwürdigen Sappho-Übersetzung von Henry Thornton Wharton (3rd Edition 1895); seine Textgrundlage war: Bergk, Theodor: Poetae Lyrici Graeci (Leipzig: Teubner, 1878-82).

Der Band

zeugt von der intensiven Beschäftigung der Autorin H.D. mit der Gestalt der Sappho, in die sie selbst sich einzuleben begonnen hat und der sie ihr ganzes eigenes Werk zuschreiben wird. Er besteht aus der Notizensammlung „Notes on Thought and Vision“ von 1919, dem Essay „The Island. Fragments of Sappho“ von 1920 und einer Reihe von Gedichten aus der Gedichtsammlung Heliodora and Other Poems von 1924, die unter ein Sapphozitat gestellt sind und sich deutlich und meist antithetisch auf Sapphos Oden beziehen. In ihren Aufzeichnungen versucht H.D. sich klarzumachen, was sie unter künstlerischer Arbeit versteht. Was geht dabei eigentlich in ihrem Kopf – und in ihrem Körper – vor sich? Denken und Schauen: ist es Inspiration oder harte Gehirnarbeit? Ist es eine Weise, eine Kunst des Wahrnehmens? Ist es Liebe? Ist es für Frauen leichter als für Männer? Wo und wie kommt der Körper ins Spiel?

roughbooks, Ankündigung

 

H.D. zwischen Lyrik und Philosophie

Genau 50 Jahre nach ihrem Tod werden Notizen der H.D., erstmals mit deutscher Übersetzung, bei Roughbooks veröffentlicht. Es sind zwei essayistische Schriften, ergänzt durch vier lyrische Werke aus einem Gedichtband, die in einem kleinen Büchlein unter dem Titel Denken und Schauen: Fragmente der Sappho zusammengefasst wurden.
Die US-amerikanische Schriftstellerin Hilda Doolittle ist unter der Abkürzung H.D. bekannt, wobei bekannt ein relativer Begriff ist. Da ihre Schaffenszeit bereits mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegt und bis heute wenige ihrer Werke ins Deutsche übersetzt wurden, dürfte sie wohl nicht Vielen ein Begriff sein. Zwischen 1918 und 1951 schrieb sie zahlreiche Gedichte und Romane, von denen die Reihe Madrigal zu ihren bemerkenswertesten gehört. Sie besteht aus vier autobiographisch geprägten Romanen und thematisiert Kunst und Liebe im Schatten des Krieges. Seit 2008 gibt es sogar eine deutsche Fassung des Romans Bid me to live unter dem Titel Madrigal. Sie  ist weiterhin für ihre Übersetzung und freie Bearbeitung griechischer Literatur bekannt.
Unter anderem beschäftigte sie sich mit der Lyrik von Sappho, von der heute nur noch geringe Teile ihrer Dichtung erhalten sind, die jedoch, wie H.D. selbst betonte, ein Vorbild und stilprägend für sie war. Dieser Beschäftigung mit der antiken Schriftstellerin ist auch die kleine Sammlung Denken und Schauen: Fragmente der Sappho auf der Spur.
Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Dabei befinden sich auf einer Doppelseite jeweils die originalen Texte und deren deutsche Übertragung. Anmerkungen des Herausgebers machen hierbei auf eventuelle  Unzulänglichkeiten des deutschen Textes aufmerksam und regen so zu einem Blick auf das Englische an. Der erste Teil trägt den Titel „Notes on Thought and Vision“, übersetzt mit „Notizen über Denken und Schauen“. Im Ganzen ist dies eine Art Selbstreflexion der Autorin, die versucht, sich über die Entstehung von Kunst mit der Frage, ob der Schöpfer durch Inspiration oder durch Denkleistung zu seinem Werk kommt,  klar zu werden. Des Weiteren beschreibt sie ihre persönliche Erfahrung beim Schreibprozess und versucht den Impuls in ihrem Körper zu verorten. Sie erklärt, dass der menschliche Verstand sich nach ihrer Meinung aus Körper, Geist und Übergeist zusammensetzt und Kunst nur dann entsteht oder richtig rezipiert wird, wenn der Übergeist dominant ist. Die genaue Bedeutung des Wortes „Übergeist“ lässt sich jedoch nur erahnen.
Der zweite Teil, „The Islands. Fragments of Sappho“, behandelt Leben und Werk der Dichterin Sappho aus der Sicht H.D.’s. Sie schwankt dabei zwischen Beschreibungen der Werkinhalte und des Lebens der Sappho und Einschätzungen derselben, driftet zuweilen auch ins Philosophische ab. Sie sieht Sapphos Empfindsamkeit und vor allem ihre Art, dies in Gedichten zu transportieren als größtes Talent, aber auch als Grund für die spätere Ächtung ihrer Poesie. Dabei nutzt sie immer wieder das Wort „gefühlsklug“ um ihre besondere Art von Genie zu unterstreichen. Schließlich fügen sich noch vier Gedichte von H.D. an, die aus dem Sammelband Heliodora and Other Poems entnommen sind und aus Zitaten Sapphos entstanden.
Die ersten beiden Teile dieser Sammlung waren ursprünglich gar nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen. Es sind vielmehr private Notizen der Autorin über ihren Werkgegenstand, die sich nicht an eine Leserschaft richten. Das hat natürlich zur Folge, dass es keine Erklärungen und keine Hintergrundinformationen gibt, die einem Leser, der nicht so tief in der Materie steckt, das Verständnis erleichtern würden. Der erste Teil, der separat von der Literatur entstand und daher noch am wenigsten Vorwissen verlangt, ist sehr abstrakt. Hier fehlt zu Beginn eine deutliche Begriffsklärung um der Argumentation folgen zu können. Dennoch gibt es einige spannende Thesen, die durchaus plausibel erscheinen. Der zweite Teil gestaltet sich noch zäher. Ständig fallen unbekannte Namen, Wissen über Ereignisse wird vorausgesetzt und persönliche Ansichten werden als selbstverständlich behandelt. Auch die Gedichte schweben etwas losgelöst im Raum und scheinen verschlossen, verweigern den Zugriff.
Als Einstieg in die Lektüre H.D.s oder Sapphos ist dieses Buch also denkbar ungeeignet. Dennoch gibt es Einblicke, die H.D. als bemerkenswerte Autorin erscheinen lassen und die Neugier auf ihre Prosatexte wecken. Auch, wenn man das Buch als Ergänzung zu ihren anderen Werken sieht, ist es sicherlich eine Bereicherung.

Geraldine Gau, literaturundfeuilleton.wordpress.com, 12.12.2011

Kommentar Gedicht von Hans Thill: Wash of Cold River

Günter Plessow: See Garten – H.D. und ihre Sappho
signaturen-magazin.de

Jan Kuhlbrodt im Gespräch mit Günter Plessow 1 + 2 + 3

 

H. D. – Muse und Dichterin

Sowohl für Gertrude Stein als auch für H. D. bedeutete Schreiben zugleich die Auseinandersetzung mit traditionellen kulturellen Konzepten, wobei sie im Zuge der Dekonstruktionsverfahren der Moderne auf ein Schreiben jenseits von Plot und Linearität zielten. Beide suchten eine Brücke zwischen den konzeptionell nicht zu vereinbarenden Vorstellungen von Weiblichkeit und Kreativität zu schlagen. In den Romanen des „Madrigal Cycle“ arbeitet H. D. sich an der Festschreibung von Frauen innerhalb männlicher Mythenbildung und dem daraus resultierenden Ausschluß aus der Kunstproduktion ab: Mit den Texten „Paint It To-Day“ (1921), „Asphodel“ (1921/22), „Her“ (1926/27) und „Bid Me to Live“ (1939)1 versucht sie, ein weibliches Muster für den nach männlichen Lebensmustern ausgerichteten Künstlerroman zu finden, das den Konflikt zwischen dichterischer und weiblicher Identität widerspiegelt. Die vier Romane behandeln H. D.s Scheitern In Bryn Mawr, ihre Freundschaft mit Frances Gregg, die Verlobung mit Ezra Pound, die Ehe mit Richard Aldington und die Geburt der Tochter Perdita.2

Die Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der Romane demonstriert H. D.s Zurückhaltung bei der Offenlegung ihres Privatlebens: Zu ihren Lebzeiten publizierte sie lediglich den letzten Text des Madrigal Cycles, „Bid Me to Love“, der gleichzeitig auch der am wenigsten experimentelle und von aller gleichgeschlechtlicher Erotik bereinigte ist. „Her“ wurde erst lange nach ihrem Tode, 1982, im Zuge feministischer Aufbereitung weiblicher Literaturgeschichte veröffentlicht; „Asphodel“ und „Paint It To-Day“ liegen vollständig nur als Manuskripte vor.3 In ihren „Notes on Recent Writing“, einer späten Erläuterung des eigenen Schreibens, die inzwischen unter dem Titel „H. D. by Delia Alten“ veröffentlicht sind,4 kommentiert sie ihr Schreiben folgendermaßen:

Madrigal: this story of writing or trying to write this story of War I was roughed out, summer 1939 in Switzerland. (…) I had been writing or trying to write this story, since 1921. I wrote in various styles, simply or elaborately, stream-of-consciousness or straight narrative. I re-wrote this story under various titles, in London and in Switzerland.5

Zudem machen die „Notes on Recent Writing“6 noch einmal deutlich, daß ihre Romane so stark intertextuell miteinander verbunden sind, daß sie Im Grunde nur einen zusammenhängenden Text darstellen. Als weiteren intertextuellen Bezug greift H. D. auf antike und archaische Mythen zurück, die sie palimpsestartig über ihre Geschichten legt. Der textuelle Rückgriff auf die griechische Antike, insbesondere auf die Dichtung Sapphos, verbindet H D. mit den befreundeten Imagists Ezra Pound und Richard Aldington.7 Sie alle benutzten die Ausgabe J.W. McKails: Select Epigrams from the Greek Anthology.8 Jedoch trägt der Rückgriff bei H. D. andersgeartete Implikationen als bei Aldington und Pound: Gerade die Ausgabe McKails behandelt die Texte der griechischen Dichterinnen gleichwertig mit denen der männlichen Dichter, was H. D. besonders in ihrem Essay „The Garland of Meleager“ lobend erwähnt.9 Die Motive für H. D.s Rückbezug auf Sappho sind nicht eindeutig zu klären. Zum einen scheint es ihr Wunsch gewesen zu sein, sich eine Tradition zu schaffen, in der auch Dichterinnen als gleichwertig anerkannt werden, wie es in ihren unveröffentlichten „Fragments of Sappho“10 anklingt,

This is her strength – Sappho of Mytilene was a Greek. And in all her ecstasies, her bumings, her Asiatic riot of colour, her cry to that Phoenician deity, „Adonis, Adonis“ – her phrases, so simple yet in any but her hands in danger of overpowering sensousness, her touches of Oriental realism are yet tempered, moderated by a craft never surpassed in literature. The beauty of Aphrodite it is true is constant, reiterated subject of her singing. But she is called by a late Scholiast who knew more of her than we can hope to learn from this brief fragments, „The wise Sappho“.
We need the testimony of no Alexandrian or late Roman scholiast to assure of the artistic wisdom, the scientific precision of metre and musical notation, the finely tempered intellect of this woman. Yet for all her artistic moderation, what is the personal, the emotional quality of her wisdom? This woman, whom love paralysed till she seemed to herself a dead body, yet bumt, as the desert-grass is bumt, white by the desert-heat, she who trembled and sweated at the mere presence of another, a person, doubtless of charm, of grace, but of no extraordinary gifts perhaps of mind or feature – was she moderate, was she wise?

Zum anderen ermöglicht ihr der Rückgriff auf Sappho, sich, analog zu McKails Anthologie der Antike, neben Pound und Aldington als gleichwertige Dichterin in einer geplanten Anthologie der modernen Dichtung zu etablieren.11
Eine nähere Betrachtung von H. D.s Rückbezug auf die Antike kann hier nicht geleistet werden, es sei nur darauf hingewiesen, wie unterschiedlich dessen Bewertungen ausfallen können: Während Thomas Swann H. D. eskapistische Tendenzen und Unfähigkeit in der Bewältigung der eigenen Alltagsproblematik unterstellt,12 vermuten Friedman und Gubar den Wunsch nach künstlerischer Identifikation mit dem lesbischen Vorbild Sappho.13 Ein weiterer Punkt, der ebenfalls nicht weiter verfolgt werden kann, ist H. D.s Auswahl der griechischen Dichter, die alle in der griechischen Spätzeit schrieben und die dabei selbst schon den Untergang der klassischen Kultur beklagten.14 Im Unterschied zu Gertrude Stein und Mina Loy, deren Experimente sich bewußt an den gesellschaftlichen und technischen Neuerungen des 20. Jahrhunderts orientierten, bestand H. D.s avantgardistisches Interesse eher an einer Transformation schon in der Antike vollzogener textueller Brüche in die Moderne hinein. In ähnlicher Weise urteilt auch Hugh Kenner mit seiner Beobachtung, daß die fragmentarisch überlieferten Texte der Antike durchaus mit ähnlicher Geisteshaltung rezipiert werden konnten wie frühe Texte der Moderne von Poe oder Mallarmé.15
H.D.s avantgardistisches Experiment des Übereinanderschichtens von Bedeutungsebenen und der intertextuellen Verweise wirkt sich auf die Figurendarstellung dahingehend aus, daß dieses nicht mehr innerhalb einer kohärent linearen Narration geschehen kann. Die „Selbstfindung“ der Künstlerinnenfigur vollzieht sich in der palimpsestischen Überlagerung mythischer Figuren: Medea, Eurydice, Undine erscheinen auf die Figur Julia/Hermione projiziert.
Sowohl „Paint It To-Day“ und „Asphodel“, die mit der Europareise Hermiones beginnen und mit der Geburt ihrer Tochter enden, als auch „Her“, das den Zeitraum zwischen dem gescheiterten Studium und der Verlobung mit George Lowndes umfaßt, beschreiben den Konflikt der Protagonistin Hermione als die Unvereinbarkeit widersprüchlicher Identifikationsmuster. Der Konflikt Hermiones, „Identitätslos“ zu sein, findet sich schon in der Kurzform ihres Namens, Her, angedeutet. Denn Her verkörpert auch die Reflexion des Personalpronomens „I“, das die Bezeichnung der Figur ermöglicht und diese zum fremdbestimmten Objekt werden läßt.

Myself, who was an unformed sort of nebulous personality at the time of the wandering round Frascati, shall have no name. People called me Miss Defreddi.16

Der Freund George Lowndes sucht In ihr die Muse und projiziert literarische Modelle auf die Figur Hermione.

He also said that she looked like a Greek goddess. There was that about George, he wanted to incarnate. Her knew enough to know that this was not Her. There was just a chance that George might manage to draw her out half-drowned, a coal scuttle, or push Her back, drowned, a goddess. Regarding him, very hat on the woodpath. Hermione became almost collegiate of the period, almost a person with hair up and long skirts.17

Das gegenteilige Identifikationsangebot von selbstgelebter Kreativität und Dichtkunst bietet sich in der Freundschaft mit Fayne Rabb, welche gegenüber den starr festgeschriebenen Rollenmodellen eines George Lowndes größere Auswahlmöglichkeiten verkörpert.

Her bent forward, face bent toward Her. A face bends towards me and a curtain opens, There is swish and swirl as of heavy parting curtains. Almost along the floor with its strip of carpet, almost across me I feel the fringe of some fantastic wine coloured parting curtains. Curtains part as I look into the eyes of Fayne Rabb. „And I’ll make you breathe, my breathless statue.“ „Statue? You – you are the statue.“ Curtains fell, curtains parted, curtains filled the air with heavy swooping purple. Lips long since half kissed away. Curled lips long since half kissed away. In Roman gold. Long ere they coined Roman gold your face – your face – your face – your face – your face – Faustine.18

Die sich ausschließenden Modelle schreiben sich in Hermiones Sexualität weiter: In der Freundschaft mit Fayne ist eine lesbische Faszination unübersehbar, die aber mit Hermiones Verlobung mit George unvereinbar ist. Durch die Assoziation von lesbischer Liebe und weiblicher Kreativität verneint der Text eine mögliche weibliche Identifikation als Dichterin innerhalb traditioneller kultureller Muster. Im Bild der Meerjungfrau, die weder für das Wasser noch für das Land taugt, findet die Desorientierung, die Hermione/Julia erfährt, ihren metaphorischen Ausdruck

I am Morgan le Fay (I am) and I belong to trees, woods and I have every right to my security in this little hut with its delicious cold and its delicious isolation and I don’t want to be worried.19

Aber auch die gleichgeschlechtliche Bindung taugt nicht als Garant für eine künstlerische, kreative Identität: Hermione muß eine Affäre zwischen dem Verlobten George und der Freundin Fayne entdecken, beide Identifikationsangebote verlieren ihre Grundlage. Der Roman endet mit dem Zusammenbruch Hermiones.

I was not what George wanted. He wanted fire to answer his fire and it was the tall sapling, the cold Laconian birch tree, the runner and the fearless explorer that drew spark from him. It was to disguise himself that George would so disguise me… under a winter bonfire. (…) Fayne will not reach out, will not accept the greatness. You must bear a double sword, a double burden. We are an octopus we are a creature even now seething with life cells.20

Ein ähnliches Szenario künstlerischer Identitätsfindung schafft H. D. in Bid Me to Live, diesmal jedoch gereinigt von lesbischen Konnotationen. Der Protagonistin Julia erscheinen körperliche Liebe und dichterische Kreativität als unvereinbar; vor allem die körperliche Liebe stellt in Julias Augen keine verläßliche Grundlage dar, was Ihr auch das Verhalten des Ehemannes bestätigt, der sie mit einer Freundin betrügt. Wieder reflektieren die Mythen die Trennung der Geschlechtsrollen und die damit einhergehenden Bilder von Sprachvermögen und Kreativität: Die Einwebung des Eurydice-Mythos erinnert an den Ausschluß von Frauen aus der Welt der Dichter und deren Verbannung in eine Welt der Sprachlosigkeit. Energisch weist der Dichter-Freund Rico Julia in die ihr gesteckten Grenzen der dichterischen Darstellung zurück.

What did Rico matter with his blood-stream, his sex-fixations, his man-is-man, woman-is-woman? That was not true. This mood, this realm of consciousness was sexless, or all sex. (…) This man –, this woman-theory of Rico’s was false, it creaked in the joints. Rico could write elaborately on the woman mood, describe woman to their marrow in his writing; but if she turned round, wrote the Orpheus part of her Orpheus – Eurydice sequence, he snapped back. „Stick to the woman-consciousness, it is the intuitive woman-mood that matters.“21

In den Romanen des „Madrigal Cycle“ ist Frauen eine eigene dichterische Sprache nicht gestattet. „women can’t speak and clever women don’t have children. So if a clever woman does speak, she must be mad. She is mad“,22 statt dessen wird den Schriftstellerinnen die Befähigung zur Sprache von männlichen Kollegen attestiert, die die Frauen damit zugleich zu Musen umkonzipieren.

Darrington had given her words and the ability to cope with words, to write words.23 Words were her plague and her redemption. George with his parody of their New England poet was cutting her again from moorings: (…) George (…) with his run of „foreign“ literature, was not progenitor to Hermione to stand dazed upon a woodpath. Almost, almost she heard words, almost, almost she discerned the whirr of arrows, almost, for a moment. George had made it come right.24

Damit erweisen sich H. D.s Künstlerromane als subtile Betrachtungen des Zusammenhangs von Sprachvermögen und Geschlechtszugehörigkeit. Das Sprachvermögen wird von Männern erteilt, von Frauen kann Hermione es nicht erhalten. Allerdings deckt gerade die männliche Sprache nicht den Bereich ab, von dem Hermione/Julia sprechen wollen und der in den Texten immer mit der Welt der Mutter identifiziert ist; sozusagen einer stummen Gegenwelt, die einer Sprache bedarf, die noch nicht existiert. In ihrem 1917 entstandenen Gedicht „Eurydice“ verleiht H. D. der traditionell sprachlosen Eurydice Stimme und Sprache und läßt diese eine eigene Welt jenseits der des Orpheus fordern:

At least I have the flowers of myself
and my thoughts, no god
can take that;
I have the fervour of myself for a presence
and my own spirit for light;
and my spirit with its loss
knows this
though small against the black
small against the formless rocks
hell must break before I am lost
before I am lost
hell must open like a red rose
for the dead to pass
.25

Vor diesem Hintergrund erhält H. D.s avantgardistisches, palimpsestisches Schreiben eine weiterführende Bedeutung: Es wird zur Verfahrensweise, zwei unterschiedliche Signifikationsmomente, die DuPlessis in Anlehnung an Julia Kristeva auf „Vater“ und „Mutter“ bezieht, zusammenzubringen.

Thematically, morally, textually in H. D. the erasure of the sign (mark, trace, index, imprint) of the „mother“ – the text made marginal by the signs of the „father“ – the text of dominance. But imperfect erasure. Can see both writings. Can see them as interactive. Could picture and valorize one (as opposed to the other).26

Aber H. D.s Texte bleiben nicht bei der Statuierung eines unversöhnlichen Widerspruches zwischen „Vater-“ und „Muttersprache“ stehen. Eine Art androgynes utopisches Ideal der Überschreitung der Geschlechtergrenzen ist in Aussicht gestellt, wobei die Kunst den Ort darstellt, an dem die bis dahin marginalisierte weibliche Sprache in Erscheinung treten darf.27 In diesem Kontext bedeutet H. D.s Experiment weit mehr, als reine Gegenbewegung gegen eine männliche Kultur zu sein. In einem eher „Sowohl-als-auch-Verfahren“ will sie beide Sprachschichten In einem Text erfassen.

There was one loophole, one might be an artist. Then the danger met the danger, the woman was a man-woman, the man was a woman-man. But Frederico for all his acceptance of her verses, had shouted his man-is-man, his woman-is-woman at her; his shrill peacock-cry sounded a love cry, death cry for their generation.28

Angela Krewani, in Angela Krewani: Moderne und Weiblichkeit. Amerikanische Schriftstellerinnen in Paris, Universitätsverlag C. Winter, 1993

 

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber

 

Renate Stendhal: „Schreiben oder Sterben“ – H. D.

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