Håkan Sandell: Tagebuch, Abendwolken

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Håkan Sandell: Tagebuch, Abendwolken

Sandell-Tagebuch, Abendwolken

EIS. DUNKEL
(Ovid; Metamorphosen, XI: 594–596)

Verborgen, bewahrt, ein gestürzter Stern,
nachts leuchtend, weißblaß, aus einem Guß,
unerschütterlich wie ein Gletscher.
Schnee und Eis zusammengepreßt, umhüllt
von Stein und Schatten und dichterem Dunkel.
Ein Salzblock, an dem Audhumbla leckt,
schrumpfend, mit erweichten Kanten, Ecken,
die runder werden, fleckiges altes Silber,
große aufbewahrte Eisstücke der Nächte,
die schwer ruhen mitten auf dem Innenhof,
von diesen dem dunkelsten aller Hinterhöfe;
ein Inlandeis, das sich nie zurückzog,
in wässerigen Schichten überm Katzennapf,
doch sonst in einer enormen fettweißen Scheibe,
Eismeteor der Entfremdung, sibirischer.
Die Treppenhausfenster des Nachbarhofs leuchten
in der Schmiedearbeit um die Einfachscheiben.
aus feuerrotem und seegrasgrünem Glas in
nachtwindbewegten Kristalleuchterprismen
chromatisch gegen das stille Treppenhaus
der galaktischen Spirale im Bernsteinlicht,
baumelnder Art-déco-Schmuck, ewig
in der Winternacht und doch so frostfragil,
daß ich mir vorstelle, ich könnte einen Stein
durch das Glas aller Jahre schmeißen,
bis das gesamte Jahrhundert mit gewaltigem
prasselndem Gesplitter zusammenstürzt
bis zur Jahrhundertwende, den dreißiger Jahren.
Einhundert Jahre schwarzer Hinterhöfe
in einem Augenblick, der so lange währt
wie der Eisblock, der nie schmilzt.
Sie machen mir angst, die Städte des Nordens,
verlassen von euch, die ihr überstürzt abreistet
unter diesem schwarzen Sternenhimel.

 

 

 

Ein schneeblauer Tag schnurrt Heiligabend entgegen,

wenn der 1962 in Malmö geborene Schwede die Phantome früherer Weihnachstfeste zur Geselligkeit in die Osloer Kruses Gate einlädt. Da fällt ein zaubrisches Licht durch Abendwolken. Engel sind keine Cherubine, sondern Wahrheitsträger und kommen körperbetont aus unteren Sphären. Es geht um Liebe und Tod, Krankheit und Glück, Freiheit und das alltägliche Leben im Exil. Ein Filmemacher entwirft die Szenerie: „Fünf Männer und eine Frau, zu Weihnachten eingeschneit“ – eine spannende Anti-Idylle, die bei aller versöhnlichen Gestimmtheit auf das Dekameron verweist und auf die Pest. Vermeintliche Idyllen geben unvermutet den Blick frei auf unterirdische Orte. Mitten im Warenhausgetümmel öffnet sich ein Guckloch zum Hades. Vielfältige Bezüge zur Musik, zu Orpheus, Odysseus und andere antike Gestalten oder zu Transzendenz und Herzensbildung der Romantik beleben die trivialsten Verhältnisse. Der seit 1998 in Norwegen lebende Sandell nennt sich selbst einen „Retrogardisten“. Seine Verse sind nicht auf avantgardistische Wortwelten erpicht. Sie notieren Momente jener „großen epischen Erzählung, welche Geschichte ist“, wie es in „Randzeichnung“ heißt. Ideen, Motive und Figuren vergangener Kunstepochen greift Sandell in seinem lyrischen Alltagstagebuch auf und wickelt sie auf überraschende Weise weiter. Vor allem die Gotik zieht sich durch sein gesamtes Werk. Welch eine turbulente Lektüre: mal gibt er den Heiligen Sebastian, mal geht er einen faustischen Pakt mit dem Leibhaftigen ein, lässt ihn die Feder führen – und pflegt ihn schließlich zu Tode. Zum Neujahrsball ist der Spuk zu Ende. Angesichts des Ausbleibens von Fortschritt und Wachstum bleibt ihm nur eins: sich hinlegen und die Augen schließen. Ungewiss, ob er von einem erneuten Kreislauf der Zeitalter träumt und von goldenem Neubeginn.

Dorothea von Törne, welt.de, 12.12.2009

Weiterer Beitrag zu diesem Buch:

Frank Milautzcki: Was unsere Avantgarde verschläft
fixpoetry.com, 8.11.2009

 

 

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