DER WEINSTOCK
I.
Wer hat dem Lockvogel
die Augen geblendet,
herausgerissen
der Drossel
die Zunge?
Soll ich leben in einem Land,
wo der Spiegel zerschlagen,
das Echo verboten,
wo sich im Menschen
nichts mehr wandelt
kein Fluß,
durch den Christophorus schreitet,
wo nur noch das Sichtbare herrscht
hinter den Zäunen?
Wer riß sie ab,
die wortgewaltige Traube,
die Gespräche
zwischen Stock
und Blatt?
Soll unser Acker
wilde Feigen tragen,
eine Frucht,
die immer nur verschweigt?
II.
Ich will die Liebe nicht
wie einen Mantel
um die Schultern legen,
der nur behütet,
wärmt,
den Schößling
will ich mir erziehen,
und wenn es not tut
ihn beschneiden,
der Pflanze
den Gleichmut nehmen,
sehen
wie die Rebe
in der Gemeinschaft wächst,
Trauben trägt,
wie in der Beere reift,
was später dann,
im Wein,
zum Bilde wird.
Keine Unvernunft
in der Natur.
Und wenn die Völker
wieder heimkehren
ein jedes
in seinen Weinberg,
der Wahrheit
und nicht dem Ruhm
ein Denkmal errichten
die eigene Spreu
vom Weizen scheiden
das lebendige Wort
vom toten –
erst dann
wird ER den Völkern
reine Lippen geben
und der Erde
als Wappen den
Rebstock.
Cibulkas Verse, von klassischem Bau, stehen Rilke nahe, nahe auch dem Naturgedicht eines Peter Huchel. Aber sie sind unverwechselbar, haben einen eigenen Ton. – Immer schon hat der Baum in dieser Lyrik eine große Rolle gespielt; Lebensbaum hieß die vorletzte Sammlung (1977), „Liebesbaum“ eines ihrer zentralen Gedichte. In der Sammlung Rebstock steht die Rebe für das Geheimnis des Glücks, das der Dichter abzuschreiben versucht, „nachts / im Rebenlicht, / wenn an den Stöcken / die Botschaft / reift“. Der Rebstock wird befragt, wenn die Drohung der Welt laut wird – „Rebstock, / poetischer Spiegel, / hörst du nicht / wie nachts / die Erdachse knarrt?“ – „Rebstock, / soll ich dir den Rücken kehren, / weil mich bitter macht / die Welt?“ Dennoch ist es die Rebe, ist es ihre Frucht, die das lyrische Ich beflügelt und ihm neue Hoffnung gibt.
Das alte Sinnbild führt in mythische und biblische Zeiten zurück, Archaisches steigt herauf, aber es ist noch aktuell wie vor Jahrtausenden – „Herodes lebt, / jagt nach dem Kind“, „Orpheus, / die Saiten deiner Lyra / verstimmt“. So kann sich im Gedicht „Weinstock“ die bittere Gegenwart artikulieren:
Soll ich leben in einem Land,
wo der Spiegel zerschlagen,
das Echo verboten,
wo sich im Menschen,
nichts mehr wandelt,
kein Fluß,
durch den Christophorus schreitet,
wo nur noch das Sichtbare herrscht
hinter den Zäunen?
Es schließt sich das verheißene Glück an, wenn die Völker „wieder heimkehren, / ein jedes / in seinen Weinberg der Wahrheit“:
erst dann wird ER den Völkern
reine Lippen geben
und der Erde
als Wappen
den
Rebstock
Es ist das Versöhnliche des Sinnbilds, daß der Wein, gekeltert, neue Lebenskraft gibt, „Traubenblut“, und dem Leben Dauer verleiht – „Liebeswort, / das aus der Kelter steigt“. Der Rebstock hält die Erinnerung an ein vollkommenes Glück fest:
Der Garten Eden
spiegelt sich
im Wein.
So steht auch in diesem Band ein Liebesgedicht an Ruth. Sie war schon im Lebensbaum der Angelpunkt der lyrischen Hoffnung: „Das Buch Ruth“, wie sie die zentrale Figur des gleichnamigen Prosabuches war: Ruth, lebendige Gegenwart und alttestamentliche Figur in einem, die Moabiterin, die ein untergehendes Geschlecht weiterführt zum Hause Davids, Sinnbild einer nie ablassenden Hoffnung.
Ferdinand van Ingen, Deutsche Bücher, Heft 4, 1980
Heinz Puknus: Vor Zehn Jahren starb Hanns Cibulka – Gedenkstunde in Gotha
Thüringer Allgemeine, 20.6.2014
Hans-Dieter Schütt: Wie das Dunkel leuchtet
nd, 19.9.2020
Hans-Dieter Schütt: Der Langsamgeher
Thüringische Landeszeitung, 17.9.2020
Heinz Puknus: Hanns Cibulka zum 100. Geburtstag
Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen, Heft 71, 2020
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