Hans Christian Kosler: Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Klein Sterbelied“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Else Lasker-Schülers Gedicht „Klein Sterbelied“ aus Else Lasker-Schüler: Werke und Briefe. Band I: Gedichte. –

 

 

 

 

ELSE LASKER-SCHÜLER

Klein Sterbelied

So still ich bin,
All Blut rinnt hin.

Wie weich umher.
Nichts weiß ich mehr.

Mein Herz noch klein;
Starb leis an Pein.

War blau und fromm!
O Himmel, komm.

Ein tiefer Schall –
Nacht überall.

 

Die große Genügsamkeit

Mit dem Tod stand diese Dichterin auf vertrautem Fuße. Nicht nur, daß einige ihrer Freunde bereits in jungen Jahren starben, daß sie mit ansehen mußte, wie ihr einziges Kind, der Sohn Paul, qualvoll an Tuberkulose dahinsiechte. Sie selbst ist in ihrem Leben viele Tode gestorben: an gebrochenem Herzen, an Einsamkeit. Gewiß, vieles, worüber sie in ihren Briefen an Karl Kraus klagte, war Übertreibung, ja ihr ganzes Wesen bestand aus Übertreibung.
Dennoch, das meiste, was Else Lasker-Schüler aus dem „Gewölbe des Herzens“ anderen an Gefühlen herantrug, blieb unerwidert. Schon ihr exzentrisches Äußeres das farbige Kostüm eines „Prinzen Jussuf von Theben“ – wie sie sich nannte –, stieß bei den zeitgenössischen Intellektuellen auf Unverständnis, ja auf unverhohlene Ablehnung. Karl Kraus, der sie förderte und sie als „stärkste und unwegsamste Erscheinung des modernen Deutschland“ pries, wich ihr persönlich aus und beantwortete ihre Briefe nur selten. Walter Benjamin nannte sie „im Umgang leer und krank – hysterisch“, Franz Kafka gar, der sich die Dichterin nur als eine durch die Kaffeehäuser wankende Säuferin vorstellen konnte, empfand bei der Lektüre ihrer Gedichte „nichts als Langeweile und Widerwillen“.
Wer so offensichtlich nicht dazugehört, sucht Zuflucht bei sich selbst, gefällt sich in der Vorstellung völliger Abwesenheit von der Welt. Daß sich Else Lasker-Schüler zusätzlich wie eine Außerirdische von Geburt vorkam, muß hinzugefügt werden. „Von wo ich kam / hat nie ein Mensch gewußt“, schreibt sie in dem Gedicht „Abendzeit“. Das Reich des Todes stellte sie sich ähnlich entrückt vor. Ich träume so fern dieser Erde, als ob ich gestorben wär, heißt es in einem Poem mit dem Titel „So lange ist es her…“ Nichts anderes als den Gedanken an den eigenen Tod hat auch das Gedicht „Klein Sterbelied“ zum Gegenstand, dessen anfängliche Rätselhaftigkeit sich durch die Kenntnis von Leben und Werk schnell erhellt.
Dies ist nicht – wie man erwarten sollte – das Lied auf einen Sterbenden, sondern es ist das Lied eines Sterbenden selbst, das Lied der Lasker-Schüler. Daß es offenbar aus der Perspektive eines Kindes geschrieben ist – ein „Klein Sterbelied“, von einem „kleinen Herzen“ herrührend –, mag zunächst irritieren. Doch für Else Lasker-Schüler lag die Gedankenwelt des Kindes gleichermaßen in einem Jenseits wie die des Sterbenden. Und als Kind hat sich die Dichterin zeit ihres Lebens gefühlt: „1000 und 2jährig“ kam sie sich vor.
Gottfried Benn, dem dieses Gedicht wie 16 weitere aus dem berühmten „Giselheer-Zyklus“ gewidmet ist, nannte Else Lasker-Schüler, die vergeblich um ihn warb, ein lyrisches Genie. Er wußte, weshalb. Denn während die Gedichte der „Großen“ wie Benn, George, Rilke aus dem zähen Ringen um das Wort entstanden, war das Dichten der Else Lasker-Schüler noch eine Art Naturereignis. Wie von magischen Kräften gesteuert, fügen sich die Worte zu Reimen, wachsen die Verse zu einem unangreifbaren, von der Gestalt dieser Frau merkwürdig autorisierten Ganzen. Davon zeugt auch dieses Gedicht, dessen kindliche Naivität weder erzwungen noch gekünstelt wirkt. Zu der Einfachheit der Worte und Reime gesellt sich die Ruhe und Ergebenheit, mit der der Tod imaginiert wird. Er hat nichts Bedrohliches, wird aber auch nicht verklärt. „Welt ohne Farbe, ohne Verlangen, ohne Greifen- und Fühlenwollen“, schrieb Else Lasker-Schüler 1913 an Karl Kraus, das sei der Tod.

Die große Genügsamkeit, das ist es.

In dem vorliegenden Gedicht ist sie in die schlichteste und schönste Form gebracht.

Hans Christian Kosleraus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zweiundzwanzigster Band, Insel Verlag, 1999

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00