– Zu Jakob Haringers Gedicht „Abend“ aus Jürgen Serke (Hrsg.): Das Schnarchen Gottes. –
JAKOB HARINGER
Abend
Wir suchen in Jeder die Andre,
Wir finden in Keiner was war!
All unser Sehnen verbrannte
Und war doch der Morgen so klar.
Weißt Du, die Veilchen und Ampeln –
Ach so verdämmern auch wir,
An unser mailiches Wandeln
Band sich bloß welkendes Haar.
Häuser! sie winken uns Gnade,
Doch ihre Türn warn verflucht,
Kindliche Sommergestade;
Ach wo bist Du, die mich sucht?
Toren, wir! ewig Verbannte!
Was hieß einst Glück und Altar…
Wir suchen in Jeder die Andre,
Wir finden in Keiner was war.
Auf einer Reise kam er, Sohn eines Salzburger Gastwirts, 1898 in der Nähe von Dresden zur Welt, und ein Vagant, ein Umhergetriebener sollte Jakob Haringer zeit seines Lebens bleiben. Man zählt ihn zu den Expressionisten, doch mit Ausnahme einiger seiner frühen Gedichte, die durch ihre kühne Wortwahl auffallen, findet man nur wenige spezifisch expressionistische Tugenden bei ihm. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen dichtete er nicht am Schreib-, sondern an den Wirtshaustischen, und statt als Anwalt der leidenden, geknechteten Menschheit aufzutreten, machte er sich lieber zum Anwalt seiner selbst, etwa wenn er unter der Überschrift „Ich und die Welt“ verlauten ließ:
Mich hat der liebe Gott als Erstes ganz Allererstes erschaffen – Euch schuf er ganz zuletzt, na, ihr seid auch danach.
Wer mit dem „Euch“ gemeint war, wird aus dem Prosastück „Abschied von allen Heiligen“ deutlich, in dem es heißt:
Was soll ich mit Euch! Die Ihr das Leben nie geliebt, die Ihr es verachtet und in Verzicht, Entsagung, kasteiend vegetiert, die Ihr stets nur über den Tod und sein Jenseits gedacht, nie an das Bunte, Satte, Große, Wilde, Herrliche unseres Lebens.
Besieht man sich Haringers Wirkungsgeschichte, so scheint es, als habe sich das Schicksal an ihm, der nur mit dem lieben Gott und den kleinen Leuten auf gutem Fuß stand, für solche Blasphemien bitter gerächt. Seinen zum Teil aus zusammengeschnorrten Geldern finanzierten Büchern waren nur geringe Auflagen beschieden, eine auf zehn Bände geplante Werkausgabe sollte nie erscheinen. Dem Hain des Vergessens – wie sein erster Gedichtband hieß – fiel seine Dichtung schon zu Lebzeiten anheim. Sicherlich, Haringer hinterließ ein alles andere als ausgewogenes Werk mit einem großen qualitativen Gefälle. Falls er die Kraft zur Selbstzucht und zur Arbeit an sich aufbringe, urteilte ein Zeitgenosse Haringers, so zweifle er nicht an seiner Zukunft. Aber eben an Selbstdisziplin mangelte es Haringer, der sein Talent verschwendete, ohne es vor Anforderungen zu stellen, und der nach Zechgelagen, wenn er zornig oder sentimental das Leben im Vokativ anfuhr, oft auch nur zustande brachte, was seinem letzten, postum erschienenen Gedichtband den Namen geben sollte: Lieder eines Lumpen.
Doch innerhalb des wunderlichen Gemisches aus reinen und verpatzten Tönen, das seine Lyrik als gesamte darstellt, trifft man auf Gedichte von makelloser Schönheit, die ganz von ihrer Sprache und Gestalt leben und in denen, wie in „Abend“, an die Stelle der lauten Botschaft die leise Melancholie tritt. Man kann sich anhand dieses Gedichts, das aus der Feder eines Dreißigjährigen stammt, fragen, ob Haringer je dauerhaft glücklich gewesen ist. Im bürgerlichen Sinne wollte er es gar nicht sein, aber er war es wohl auch nicht im Rahmen der eigenen Ansprüche. Der Schlawiner, für den er gehalten wurde, weil „Frauengeschichten“ seinen Weg säumten, dürfte kein Schlawiner aus Überzeugung gewesen sein.
Er lehnte die „Gnade winkenden Häuser“ nicht ab, er fand nur das nicht, was er suchte, und er war nicht bereit, das nur kurz währende Glück der Gewohnheit oder einem Kompromiß zu opfern. Er wollte, wenn das „Sehnen verbrannte“, die Sehnsucht nicht aufgeben, er weigerte sich – sieht man im Erwachsenwerden den Eintausch der Träume gegen das „Realitatsprinzip“ –, erwachsen zu werden. So hat ihn denn auch Hermann Hesse „ein Sonntagskind in einer Welt ohne Sonntag“ genannt. Er blieb unter den bekannteren Schriftstellern nicht der einzige, der Haringer schätzte. Ihre Anerkennung dürfte einzelnen, verstreuten Gedichten gegolten haben, die man einmal liest und nicht wieder vergißt. Das Gedicht „Abend“ in seiner liedhaften Einfachheit, mit seinen Urtopoi von Glück gehört zu ihnen. Der Augenblick des Katzenjammers, in dem man zu ihm zurückgreifen mag, dauerte bei Haringer ein ganzes Leben lang.
Hans Christian Kosler, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Zehnter Band, Insel Verlag, 1986
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