Hans Christoph Buch: Zu Durs Grünbeins Gedicht „Schwarzer Mittwoch“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Durs Grünbeins Gedicht „Schwarzer Mittwoch“ aus Durs Grünbein: Erklärte Nacht. 

 

 

 

 

DURS GRÜNBEIN

Schwarzer Mittwoch

Als du so traurig warst, sah ich zum erstenmal
Die leere Schulbank, das zerhackte Kinderbett im Rücken.
In deinen Augen schwimmend, sah ich erst, wie kahl
Uns jede Gegenwart umgab. Das Brüchige, die Lücken
Von Tag zu Tag, sie füllten sich und wurden kalte Grachten.
Weit weg wie Island lag, bereift, die frühe Wiese,
Durch die man barfuß ging und wußte nichts vom Schlachten.
Undenkbar, daß man Kuh und Schaf dem Fließband überließe,
Daß man sich schämen würde für den handgestrickten Schal.
Frivole Freuden kamen, doch es ging vielleicht die größte.
Das alte Lied – Schuhsohlen werden in der Sonne hart.
Man läuft herum, verliert sich, spürt den Mangel überall.
An diesem schwarzen Mittwoch, heimwärts auf der Fahrt,
Als du todtraurig warst, ich konnte dich nicht trösten.

 

Poetische Verlustanzeige

Dieses Gedicht ist ganz und gar untypisch für Durs Grünbein, dessen Lyrik sich aus zwei Quellen speist: antiker Literatur und moderner Naturwissenschaft. Der 33jährig mit dem Büchner-Preis ausgezeichnete Autor ist ein poeta doctus, der mehr aus dem Kopf als aus dem Bauch heraus schreibt, ein postmoderner Klassizist mit einer imponierenden Ahnengalerie, die von Lukrez bis Gottfried Benn und weiter bis zu Joseph Brodsky reicht. Mit ersterem hat Grünbein den Hang zum philosophischen Lehrgedicht gemein, mit letzterem das ernstgemeinte Spiel mit der Tradition, die er erneuert und sehr selbstbewußt fortschreibt. Was ihn mit Gottfried Benn verknüpft, ist ein Hang zum Biologismus, der sich mit zynischem, manchmal auch kaltschnäuzigem Materialismus paart.
Von alldem ist nichts zu spüren im vorliegenden Gedicht, das unter Verzicht auf intellektuelles Imponiergehabe ohne Umschweife die Dinge beim Namen nennt. Nur im wie ein Bühnenmonolog klingenden jambischen Vers, der an barocke Alexandriner erinnert, hallt das Bildungsprogramm nach, dem Grünbeins Poesie sich verschrieben hat.
Worum geht es? Wie jedes gelungene Gedicht läßt auch dieses mehrdeutige Interpretationen zu: Der Text ist auf einen düsteren Ton gestimmt, aber er gibt keine Auskunft darüber, ob die geschilderte Depression durch innere oder äußere Faktoren ausgelöst wurde wie etwa durch das Ende einer Beziehung. Ich möchte eine riskantere Lesart vorschlagen: Erst wenn man sie wörtlich nimmt, offenbaren Wendungen wie „die leere Schulbank, das zerhackte Kinderbett im Rücken“ ihren kaum verschlüsselten Sinn. Vielleicht beziehen diese Worte sich auf ein ungeborenes Kind, und anders als vor einem Vierteljahrhundert, da Frauen und Männer auf der Titelseite des Stern verkündeten: „Wir haben abgetrieben!“, ist der trotzige Stolz von damals dem Gefühl unwiederbringlichen Verlusts gewichen, der Grünbeins Gedicht durchzieht und wie eine Todesanzeige mit schwarzem Trauerrand versieht.
Seit Friedrich Wolfs 1929 uraufgeführtem Stück Zyankali – Paragraph 218 gilt die Abtreibung primär als soziales Problem, und die Verantwortung für das Individuum wird an die Gesellschaft delegiert. Von dieser Art Sozialkritik führt ein langer Weg zu Grünbeins Gedicht, dessen stille Traurigkeit dort, wo vom Schlachten die Rede ist, umschlägt in Schuldbewußtsein und Scham:

Undenkbar, daß man Kuh und Schaf dem Fließband überließe
Daß man sich schämen würde für den handgestrickten Schal.

Der Hinweis auf Grachten in Holland und bereifte Wiesen in Island ist kein geographisch zu weit hergeholter Vergleich, sondern ein Versuch, den Grad der Kälte anzuzeigen, welche ins Leben des Protagonisten Einzug hält, der – überflüssig zu sagen – nicht mit dem Verfasser des Gedichts identisch ist.
Wie existentiell der Verlust empfunden wird, zeigt sich daran, daß der Text eine naheliegende Frage ausspart, die einen naturwissenschaftlich und philosophisch kompetenten Autor wie Grünbein eigentlich interessieren müßte: zu welchem Zeitpunkt menschliches Leben beginnt und ob ein Embryo als Individuum anzusehen ist? Anstatt die öffentliche Kontroverse über Bioethik im Medium der Poesie fortzusetzen, artikuliert das lyrische Ich seine Emotionen ungefiltert und ungeschützt:

An diesem schwarzen Mittwoch, heimwärts auf der Fahrt,
Als du todtraurig warst, ich konnte dich nicht trösten.

Das Gedicht wird zum Aufschrei der gequälten Kreatur, dessen künstlerische Qualität in seiner gewollten Kunstlosigkeit liegt.

Hans Christoph Buchaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Achtundzwanzigster Band, Insel Verlag, 2005

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