Hans Christoph Buch: Zu Georg Heyms Gedicht „Lichter gehen jetzt die Tage“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Georg Heyms Gedicht „Lichter gehen jetzt die Tage“ aus Georg Heym: Werke. 

 

 

 

 

GEORG HEYM

Lichter gehen jetzt die Tage

Lichter gehen jetzt die Tage
in der sanften Abendröte
Und die Hecken sind gelichtet,
Drin der Städte Türme stecken
und die buntbedachten Häuser.

Und der Mond ist eingeschlafen
mit dem großen weißen Kopfe
hinter einer großen Wolke.
Und die Straßen gehen bleicher
durch die Häuser und die Gärten.

Die Gehängten aber schwanken
freundlich oben auf den Bergen
in der schwarzen Silhouette.
Denn die Henker liegen schlafend,
unter’m Arm die feuchten Beile.

 

Gegen Gott und die Welt

Georg Heym war der Talentierteste und Aggressivste einer Gruppe zorniger junger Männer, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs zwar nicht das wilhelminische Deutschland, aber dessen Kunst und Literatur aufmischten: ein genialer Wüterich, der mit der Note „mangelhaft“ in Deutsch, Latein, Griechisch und Mathematik das Joachimsthalsche Gymnasium verließ und „gäb’ es nur Krieg, gesund wär’ ich“ in sein Tagebuch notierte:

Aber der elende preußische Dreckstaat lässt mich zu nichts kommen.

Heym war ein „rebel without a cause“, dessen aus pubertärem Weltschmerz gespeiste Gewaltphantasien auf Rolf Dieter Brinkmann vorausweisen, der im Mai 1975 in London von einem Taxi überfahren wurde: ein „dummer“ Tod wie der Georg Heyms, der bei dem Versuch, seinen ins Eis eingebrochenen Freund Ernst Balcke zu retten, im Januar 1912 in der Havel ertrank.
Gemessen daran ist der vorliegende Text eher untypisch für den expressionistischen Bürgerschreck, der mit seinen Provokationen die saturierte Gesellschaft verstört und gleichzeitig sich selbst zerstört hat. Heyms Gedicht kommt auf leisen Sohlen daher, und die elegischen Eingangsverse wirken sanftmütig und beinahe idyllisch im Vergleich zu der makabren Schlussstrophe, die als Pointe zu charakterisieren so irreführend wäre wie das Modewort „schwarzer Humor“. Hier wird eine Todesverfallenheit sichtbar, die das Werk des früh verstorbenen Autors von Anfang an durchzieht, ähnlich wie die Verse des mit Heym seelenverwandten Georg Trakl, der „alle Straßen münden in schwarze Verwesung“ dichtete, bevor er sich unter dem Eindruck der Schlacht von Grodek im November 1914 mit einer Überdosis Kokain das Leben nahm. Man könnte abergläubisch werden beim Gedanken an die hochbegabten Künstler und Dichter – von Franz Marc bis Ernst Stadler –, die in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verbluteten, und noch mehr beim Gedanken an die Massenmorde der Nationalsozialisten, deren aufhaltsamer Aufstieg mit dem „Schandfrieden“ von Versailles begann. So besehen offenbart Georg Heyms Gedicht eine geradezu prophetische Qualität: Während die „freundlich“ im Wind schaukelnden Gehängten an frühere Zeiten gemahnen, musste ich bei den Schlusszeilen „Denn die Henker liegen schlafend, / unter’m Arm die feuchten Beile“ daran denken, dass die NS-Justiz Widerstandskämpfer mit Äxten enthaupten ließ und Fleischhauern, die sich als Henkersknechte verdingten, Geldprämien zahlte, wie es Arnold Zweig in seinem Roman Das Beil von Wandsbek geschildert hat.
Aber schon im fahlen Licht der ersten Strophe kündigt das Unheil sich an. Die Naturidylle täuscht, und die „gelichteten Hecken“, in denen „der Städte Türme stecken“, wirken wie eine Spielzeuglandschaft, deren Schöpfergott so unschuldig und zugleich gewalttätig ist wie ein spielendes Kind. Das Bild des Mondes, der den „großen weißen Kopf“ hinter einer Wolke verbirgt, um nicht mit ansehen zu müssen, was unten auf der Erde passiert, lässt nichts Gutes erahnen, ähnlich wie der Anblick der Straßen, die „bleicher“ durch Häuser und Gärten gehen, als seien sie vor Schreck erblasst.
In seinen Tagebuchnotizen, die dem Autor zur Selbstverständigung und gleichzeitig als literarisches Laboratorium dienten, hat Georg Heym diesen Sachverhalt genauer ausgeführt. „Der gute Gott sitzt oben hinter den Wolken und rührt sich nicht“, schrieb er am 26. Juni 1910.

Warum zeigt Er sich nie, he? Weil er liebelos ist, kalt und stumm wie die Wolkenbilder, die ewig die der Erde abgewandten Köpfe vor sich her tragen.

Und als sei das nicht drastisch genug, lästerte er zwei Monate später mit an Georg Büchner erinnernder Radikalität:

Wahrhaftig, gäbe es einen Gott, man müsste ihn an seinem Schlafrock auf das Schafott zerren für seine endlose Grausamkeit.

Hans Christoph Buchaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Vierunddreißigster Band, Insel Verlag, 2011

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