– Zu Gottfried Benns Gedicht „Osterinsel“ aus Gottfried Benn: Gedichte. In der Fassung der Erstdrucke. –
GOTTFRIED BENN
Osterinsel
eine so kleine Insel,
wie ein Vogel über dem Meer,
kaum ein Aschengerinnsel
und doch von Kräften nicht leer,
mit Steingebilden, losen,
die Ebene besät
von einer fast monstrosen
Irrealität.
die großen alten Worte
– sagt Ure Vaeiko –
haben die Felsen zu Horte,
die kleinen leben so;
er schwält auf seiner Matte
bei etwas kaltem Fisch,
hühnerfeindliche Ratte
kommt nicht auf seinen Tisch.
vom Pazifik erschlagen,
von Ozeanen bedroht,
nie ward an Land getragen
ein Polynesierboot,
doch große Schwalbenfeiern
einem transzendenten Du,
Göttern von Vogeleiern
singen die Tänzer zu.
tierhafte Alphabete
für Sonne, Mond und Stier
mit einer Haifischgräte
– Boustrophedonmanier –:
ein Zeichen für zwölf Laute,
ein Ruf für das, was schlief
und sich im Innern baute
aus wahrem Konstruktiv.
woher die Seelenschichten,
da das Idol entsprang
zu diesen Steingesichten
und Riesenformungszwang –
die großen alten Worte
sind ewig unverwandt,
haben die Felsen zu Horte
und alles Unbekannt.
Dieses Gedicht wirkt so rätselhaft wie die kolossalen Steinskulpturen auf der Osterinsel, deren Geheimnis nie ganz entschlüsselt worden ist. Doch der Leser muß nicht selbst auf Rapa Nui gewesen sein – so nannten ihre Ureinwohner die an Ostern 1622 von dem Holländer Roggeveen „entdeckte“ Insel –, um die Verse zu verstehen: Es genügt, die von Benn benutzten Quellen zu konsultieren, und die dunklen Stellen des Gedichts erhellen sich ganz von selbst. Gemeint ist die 1926 erschienene Monographie von Friedrich Schulze-Maizier, der bei seinem Besuch der Osterinsel alles verfügbare Wissen über die Moai genannten Steinfiguren zusammentrug – einschließlich der irrigen Annahme, die Insel sei nicht von Polynesiern besiedelt worden.
Dort ist die Rede von einem Priesterkönig namens Ngaara, „Hüter gewisser Bräuche und Überlieferungen“, der für das Gedeihen der Hühner verantwortlich war:
Da beim Verzehren von Rattenfleisch die hühnerfeindliche Rattennatur in ihn übergegangen wäre, wäre sein hühnerfreundliches „Mana“ dadurch beeinträchtigt worden.
Auch der im Gedicht erwähnte Ure Vaeiko kommt namentlich vor, als letzter Insulaner, der die Rongo-Rongo genannten Hieroglyphen entziffern konnte:
Als man ihn aber aufforderte, die von der amerikanischen Expedition angekauften Tafeln zu lesen, lehnte er dieses Ansinnen ab, weil die Missionare es verboten hätten.
Nur soviel wird klar: In die Tafeln wurde mit Haifischzähnen eine Art Urtext geritzt, der „die großen alten Worte“ enthielt, geschrieben in Boustrophedonmanier (von griechisch bous = Rind, strepho = ich wende): laut Lexikon eine „Furchenschrift“, deren wie mit der Pflugschar gezogene Zeilen abwechselnd von links nach rechts und von rechts nach links verliefen. Moto Nui hieß eine vorgelagerte Insel, wo Seeschwalben nisteten, deren Eier von todesmutigen Schwimmern durch das von Haien wimmelnde Meer an Land gebracht wurden – eine Kulthandlung, für die man steinerne Tempel errichtete.
Damit sind die sachlichen Bezüge geklärt – nicht aber die Funktion der Verse im Kontext von Benns Werk und ihre Bedeutung für heutige Leser. Der Autor schrieb dieses und andere Südseegedichte 1927, als Deutschland keine Kolonien mehr besaß. Auf den Spuren Gauguins hatten Emil Nolde und Max Pechstein vor 1914 die kaiserlich-deutschen „Schutzgebiete“ Neuguinea und Palau besucht, und die „primitive“ Kunst der Polynesier hatte sie zu expressionistischen Werken inspiriert, in denen sich archaische Mystik mit unverstellter Sexualität verband. So auch hier: Bei Gottfried Benn, ähnlich wie im modernen Sextourismus, reimt sich Exotik auf Erotik, und die Südsee wird zur Metapher, die den Mittelmeerraum ebenso umschließt wie Mythen und Märchen fremder Völker – „Meer- und Wandersagen“, der Titel eines thematisch verwandten Gedichts, weist darauf hin.
Doch anders als der junge Brecht, der ebenfalls der Südseeromantik Tribut zollt, gerät Benn in gefährliche Nähe zur von nordischer Mythologie inspirierten Blut-und-BodenLiteratur, indem er die Wildnis der Zivilisation gegenüberstellt und sein Unbehagen an der europäischen Kultur in ferne Räume und Zeiten projiziert. So besehen war sein späterer Flirt mit dem NS-Regime kein Fehltritt, sondern nur konsequent. Was mit dessen borniertem Kunstverständnis inkompatibel war, ist Benns bis zum Zynismus reichende, urbane Ironie, gekoppelt mit einem entschiedenen Bekenntnis zur Moderne und einer Vorliebe für entlegene Fremdwörter, die er wie Pretiosen in seine Gedichte einbaut.
Gottfried Benns Exotismus und Primitivismus sind Welten entfernt von der dumpfen Deutschtümelei der Nazis, aus deren Sicht er ein kulturell entwurzelter, dekadenter Asphaltliterat war, ohne Sinn für Heimatliebe und soldatisches Heldentum. Doch gerade in der künstlerischen Komplexität und Sperrigkeit seiner Gedichte, die diese für die NS-Propaganda unbrauchbar machte, liegt Gottfried Benns bis heute fortwirkende Aktualität.
Hans Christoph Buch, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Dreißigster Band, Insel Verlag, 2007
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