– Zu Jürgen Theobaldys Gedicht „Rille“ aus Jürgen Theobaldy: Suchen ist schwer. –
JÜRGEN THEOBALDY
Rille
Die schwarze Scheibe liegt und dreht
und dreht sich um sich selbst,
bewegt vom flachen Teller unter ihr,
indes die Nadel sich nach innen schiebt
und langsam hin zur Mitte zieht,
ein stetes Tasten durch die Rille,
auf der das Licht der Lampe steht
und schwach erhellt, was vor sich geht:
die schwarze Scheibe, die da kreist
und ihren schwarzen Kreis umreißt,
bis meine Hand, anstatt sie anzuhalten,
sie wendet, um ihr einzugeben, fort
und fort sich um sich selbst zu drehen,
in diesem Drehen doch zu stehen,
wo Ton und Klang, Klang und Gesang
im Stelldichein sich wandeln und verwehen.
Früher hätte man diese Verse als Dinggedicht bezeichnet oder als Kunstbeschreibung. Aber das, was hier beschrieben wird, ist kein klassisches Kunstwerk wie Rilkes „Archaischer Torso Apollos“ mit dem berühmten Schlussvers:
Du mußt dein Leben ändern.
Es geht auch nicht um ein Wunderwerk modernster Technik, sondern um einen gewöhnlichen Plattenspieler, der altmodisch und fast schon hausbacken wirkt im Vergleich zu den Smartphones, iPods und Computern, von denen „User“ genannte Konsumenten heutzutage, oft ohne dafür zu bezahlen, Musik herunterladen. Doch das von Jürgen Theobaldy beschriebene Grammophon war und ist mehr als ein gewöhnlicher Gebrauchsgegenstand: Ein Kultobjekt wie der von Kennern geschätzte „Schneewittchensarg“, einst der Porsche unter den Plattenspielern, der auf Internetauktionen nach wie vor Höchstpreise erzielt.
Das liegt nicht so sehr am modischen Design oder an der eher mäßigen Tonqualität als an der Musik, die in den frühen sechziger Jahren aus diesem und anderen Wiedergabegeräten erklang: von Maria Callas über Friedrich Gulda bis zu Herbert von Karajan, von Louis Armstrong bis zu den Beatles und Rolling Stones. Und weil das akustische Gedächtnis ähnlich funktioniert wie der Geruchssinn, der bei Proust die verlorene Zeit der Kindheit heraufbeschwört, macht Jürgen Theobaldy, ein Lyriker der zweiten Nachkriegsgeneration, seine historische Erinnerung an einem Plattenspieler fest, stellvertretend für die amerikanische Popmusik, unter deren Einfluss er groß geworden ist.
Das Gedicht lebt von der Spannung zwischen Inhalt und Form, genauer gesagt vom Kontrast zwischen der modernen Unterhaltungsindustrie, für die das Grammophon steht, und dem traditionellen Versbau, der sich in Reim und Metrum dem Sonett annähert, der klassischen Gedichtform par excellence. Trotz oder wegen ihrer formalen Strenge aber sind Sonette nicht bloß für Liebesseufzer geeignet, sondern auch für Literatur- und Kunstbetrachtungen oder politisch-philosophische Reflexion. Doch in der Regel haben sie nicht sechzehn, sondern nur vierzehn Verse und enden häufig mit einer Doppelzeile, die, als Regel und Beispiel zugleich, den Sinn des Ganzen zusammenfasst:
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben (Goethe).
Ein solches Fazit, das wie ein Wappenspruch das Gedicht umschließt, findet sich auch hier: Die Musik wird zur Endlosschleife, die sich – mit oder ohne helfende Hand – selbst zu reproduzieren scheint. Dabei gibt Jürgen Theobaldy keine Antwort auf die Frage, die Leserinnen und Leser des Gedichts vermutlich am meisten interessiert: Wer hört hier was für Platten, wann, wo und unter welchen Umständen? Ist der Autor allein, skandiert er, wie der junge Goethe, Hexameter auf dem nackten Rücken seiner Geliebten, oder hört er sich, wie der alternde Dichter, Klaviersonaten an, um das durch Ulrike von Levetzow verursachte Liebesleid zu überwinden? Stattdessen schildert Theobaldy exakt, aber umständlich, einen Vorgang, den jeder kennt oder zu kennen glaubt: das Abspielen einer Schallplatte auf einem Grammophon.
Auch hier zeigt die Meisterschaft sich in der Beschränkung, denn paradoxerweise erwächst der Reiz der Verse, ihr poetischer Zauber gerade aus dem, was der Autor ausspart oder ausblendet, weil er es nicht für erwähnenswert hält. „Ich nenne notwendige Fehler solche, ohne welche vorzügliche Schönheiten nicht sein würden“, schrieb Lessing in seinem Essay über „Laokoon“. Zweihundert Jahre später hat der französische Kritiker Roland Barthes mit Blick auf den „nouveau roman“, der mehr beschreibt als erzählt, den gleichen Sachverhalt so auf den Punkt gebracht: „Die ganze Kunst des Autors besteht darin, dem Objekt ein Da-sein zu geben und ihm das Etwas-sein zu nehmen“ – eine Feststellung, die Wort für Wort zu dem Gedicht von Jürgen Theobaldy passt.
Hans Christoph Buch, aus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Siebenunddreißigster Band, Insel Verlag, 2014
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