Hans Christoph Buch: Zu Walter Höllerers Gedicht „Der lag besonders mühelos am Rand“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Walter Höllerers Gedicht „Der lag besonders mühelos am Rand“ aus Walter Höllerer: Der andere Gast. –

 

 

 

 

WALTER HÖLLERER

Der lag besonders mühelos am Rand

Der lag besonders mühelos am Rand
Des Weges. Seine Wimpern hingen
Schwer und zufrieden in die Augenschatten.
Man hätte meinen können, dass er schliefe.

Aber sein Rücken war (wir trugen ihn,
Den Schweren, etwas abseits, denn er störte sehr
Kolonnen, die sich drängten), dieser Rücken
War nur ein roter Lappen, weiter nichts.

Und seine Hand (wir konnten dann den Witz
Nicht oft erzählen, beide haben wir
ihn schnell vergessen) hatte, wie ein Schwert,
Den hartgefrorenen Pferdemist gefasst,

Den Apfel, gelb und starr,
Als wär es Erde oder auch ein Arm
Oder ein Kreuz, ein Gott: ich weiß nicht was.
Wir trugen ihn da weg und in den Schnee.

 

Es war nicht der erste Tote,

den ich in Haiti zu Gesicht bekam, und er schien nicht zu schlafen, wie ein gnädiges Klischee es will: Seine aufgerissenen Augen hatten das Grauen fixiert, das ihm widerfuhr. Seine uniformierten Mörder hatten ihn mit einem Kopfschuss exekutiert und aus dem fahrenden Auto gestoßen, damit er, von Fliegen überkrochen, zur Abschreckung am Wegrand liegenblieb. Das Armenviertel in der Nähe des Flughafens galt als Hochburg des demokratisch gewählten Präsidenten Aristide, den die Armee aus dem Amt gejagt hatte, und die Anwohner wagten es nicht, den Toten zu bestatten, aus Furcht vor Repressalien der Polizei.

Seltsamerweise stellte ich mir keine der Fragen, die die Bildunterschrift einer Zeitung oder der Kommentar des Nachrichtensprechers kurz und bündig beantworten muss: nach Name, Alter, Beruf des Getöteten und nach dem Motiv des Mordes. Stattdessen ging mir ein Vers meines Doktorvaters Walter Höllerer durch den Kopf, den dieser ein halbes Jahrhundert zuvor geschrieben hatte, nicht unter tropischer Sonne, sondern beim Rückzug der deutschen Wehrmacht über einen Gebirgspass:

Der lag besonders mühelos am Rand
Des Weges.

Das Gedicht drückte den existentiellen Ernst der Situation adäquater aus als jeder Medienreport, weil sein Autor in dem Toten kein anonymes Opfer sah, sondern einen Bruder – im Bewusstsein, dass es ihn genauso hätte treffen können. „Kein Knecht ja war es; nein, es starb ein Bruder mir“, sagt Antigone zu Kreon in der Tragödie des Sophokles, und der Tyrann antwortet ihr:

Der Feind ist niemals, auch im Tode nicht, geliebt.

An diese Tradition knüpfte Höllerer an, vermutlich ohne dass es ihm bewusst war, denn die dem Gedicht zugrunde liegende Geschichte wird nicht zum ersten Mal erzählt.
Die Verse haben die Umstände ihrer Entstehung überdauert, und die Rückkehr des Krieges auf die Agenda der Politik verleiht ihnen eine bestürzende Aktualität. Doch auch ohne die ethnischen Massaker im Balkan, wo Höllerer im Zweiten Weltkrieg Geiselerschießungen erlebte, hat das in Anthologien nachgedruckte Gedicht andere Texte des Autors aus dem Bewusstsein verdrängt. Das liegt vor allem an der ersten Zeile, genauer gesagt an dem Adverb „mühelos“, das wie ein Widerhaken im Gedächtnis haftet, obwohl oder weil es unlogisch ist: Mühevoll oder mühelos bezieht sich auf eine Kraftanstrengung, wie sie nur Lebende leisten können. Die Irritation ist vom Autor gewollt, denn trotz oder wegen seiner Ungenauigkeit vermittelt der im Titel wiederkehrende Vers eine einprägsamere Vorstellung des am Wegrand liegenden Toten als jede bemühte Detailschilderung.
Der suggestive Rhythmus der Verse täuscht über die Spannung zwischen Form und Inhalt hinweg: In schlichten, unaufgeregten Sätzen wird ein Anblick beschrieben, von dem man lieber sein Gesicht abwendet, weil auswegloses Leiden kein Mitleid erregt, sondern Abscheu. Durch den behutsamen Sprachfluss wird der tote Soldat aus der Sphäre des Hässlichen – schmutziger Schnee, Blut und Kot – in die der Poesie enthoben, doch nicht zum Helden stilisiert. Höllerer vermeidet auch das entgegengesetzte Extrem, den Toten zum Kronzeugen zu machen für oder gegen die Sinnlosigkeit des Kriegs. Beides liefe auf eine Instrumentalisierung hinaus, und die Vermeidung solcher Klischees ist ein Indiz für die Qualität des Gedichts, das die Schlussfolgerung den Lesern überlässt. Mit einer Ausnahme, die Wortkette: gefrorener Pferdeapfel, Arm, Kreuz, Gott wirkt auf den ersten Blick symbolisch und plakativ. Eine die Blasphemie streifende Provokation, überleitend zum christlichen Kern des Gedichts, der mit dessen humaner Botschaft zusammenfällt: vom Leiden des Einzelnen, das stellvertretend für die Leiden aller steht.

Hans Christoph Buch, aus Hans Christoph Buch: Tunnel über der Spree. Traumpfade der Literatur, Frankfurter Verlagsanstalt, 2019

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