Es regnet voller Zuversicht
wohl schon den neunten Tag,
die Mittagszeit hat kein Gesicht,
nur noch den Stundenschlag.
Die Sonne hängt vielleicht verkauft
in einer andern Welt,
wo sie sich wild die Strahlen rauft
und ihre Stirn zerschellt.
Die Teufelsschirme öffnen sich,
der Löwenzahn bleibt zu,
ein bißchen Gelb glänzt kümmerlich
im wilden Jungfernschuh.
Ich frag mein Herz, das Stundenglas,
wie lang die Welt noch steht,
es zittert wie ein Schmelchengras
und hat sich umgedreht.
Wer ist an diesem Unglück schuld?
Ich sag den Namen nicht.
Schon halbertränkt, doch voll Geduld
blühn die Vergißmeinnicht.
Christine Lavant
Wer es heute unternimmt, eine Anthologie der deutschen Lyrik der letzten fünfzig Jahre herauszugeben, kann nicht mehr den Anspruch erheben, eine revolutionäre Situation sichtbar zu machen. All das Neue, Kühne, das Unerhörte und hinreißend Skandalöse, was vor mehr als dreißig Jahren, auf dem Höhepunkt der expressionistischen Bewegung, in der berühmten Sammlung Menschheitsdämmerung von Kurt Pinthus präsentiert wurde, ist längst historischer Besitz geworden oder aber einer legitimen Vergessenheit anheimgefallen. Der Herausgeber von heute hat keinen Grund, als Verhänger neuer Tafeln aufzutreten und den aktuellen geschichtlichen Moment allzu heftig zu betonen. Denn das künstlerische und politische Pathos, die leidenschaftliche Aufbruchstimmung von 192o hat sich nach 1945 nicht wiederholt. Kaum jemand wird sich heute noch einbilden, durch künstlerischen und politischen Radikalismus der Welt ein gänzlich neues Gesicht geben zu können. Wo schöpferische Kräfte sind, da bewegen sie sich immer noch auf dem vor einem Menschenalter eroberten Gelände, nicht nur im Reiche der Dichtung, sondern auch in allen anderen Künsten. Ein umstürzlerischer Impuls würde heute, so scheint es, durchaus keine „Stunde“ haben, denn die Revolution aller künstlerischen Ausdrucksformen, die um 1900 in der Luft lag, ist von der Generation unserer Väter gemacht worden, und es würde den Gesetzen einer geschichtlichen Rhythmik widersprechen, wenn nicht alle Kräfte noch damit beschäftigt wären, die Errungenschaften der revolutionären Epoche zu verarbeiten, zu erweitern, zu korrigieren und zu modifizieren. Wir befinden uns heute, wie im Politischen und Sozialen, so im Künstlerischen, offenbar in einer nachrevolutionären Situation.
Damit ist, so glauben die Herausgeber der vorliegenden Anthologie, der Augenblick gekommen, die Entwicklung der deutschen Lyrik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einer sorgfältigen, um Sachlichkeit und Gerechtigkeit bemühten Auswahl darzustellen und den Ertrag einer sehr reichen und vielstimmigen Epoche unserer Dichtung nach den Maßstäben eines besonnenen, in aktueller Programmatik nicht befangenen Urteils zu revidieren. Selbstverständlich ist jedes Urteil standortgebunden, durch entschiedene Zeitgenossenschaft beeinflußt, den besonderen Interessen des geschichtlichen Augenblicks verpflichtet. Jede Entscheidung eines lebendigen Wertgefühls hat ihre eigene Fehlbarkeit in Rechnung zu stellen, muß eigene Voreingenommenheiten aus persönlicher und zeitgeistbedingter Sympathie und Unzuständigkeiten gegenüber augenblicklich verdunkelten Werten in Kauf nehmen. Die Herausgeber wissen, daß alles Urteilen und Genießen unter dem magischen Gesetz des Similia similibus steht: wo nicht geliebt wird, da wird auch nichts gesehen. Ihr Urteil bewegt sich im Geltungsbereich eines gemeinsamen Qualitätsbegriffs, der sich in jahrelanger freundschaftlicher Auseinandersetzung verfestigt und immer wieder bestätigt hat.
Darzustellen war eine respektable Epoche deutscher Poesie: als künstlerischer Ausdruck eines halben Jahrhunderts tumultuarischer und krisenhafter Welt- und Seelengeschichte, gleichzeitig aber auch als ein bedeutender und revolutionärer Abschnitt sprachgeschichtlicher Entwicklung, durch die hervorgebracht wurde, was uns als die lyrische Mundart des 20. Jahrhunderts ein unvergleichlich intimer Besitz geworden ist. Zweifellos ist schon in den neunziger Jahren etwas Neues da, eine entscheidende sprachliche Initiative, durch die nicht nur die epigonale Goldschnittlyrik des bürgerlichen Salons erledigt, sondern auch die letzten großen Verwalter des klassisch-romantischen Spracherbes (wie Mörike, Hebbel, Keller) der Vergangenheit überantwortet werden. Nicht eigentlich bei den Lyrikern des Naturalismus, so schien es den Herausgebern, ist dieser neue Ton zu vernehmen, denn was bei ihnen „modern“ erscheint, ist weniger der sprachliche Ansatz als vielmehr die Gesinnung und das stoffliche Interesse. Das entscheidend Neue und in die Zukunft Wirkende scheint erst durch Hofmannsthal und George in die Welt getreten zu sein: ein epochemachendes Ethos der Form und eine eigenständige Thematik. Durch sie und ihre Generation wird ein neues Verhältnis zur Welt und zur Sprache manifestiert, das erst diesseits der großen geistes- und sprachgeschichtlichen Wasserscheide, die durch den Namen Nietzsche bezeichnet wird, erlebt werden konnte, damit aber gleichzeitig auch ein neues Verhältnis zur deutschen Klassik und Romantik. Das in den Händen drittrangiger Epigonen verluderte Erbe unserer Blütezeit wird mit frischen Energien zurückerobert und in Gegenwart und Zukunft verwandelt: was George aus Paris mitbrachte, verband sich mit den Substanzen der deutschen und europäischen Überlieferung; in Hofmannsthals Pathos der Modernität („modern sind alte Möbel und junge Nervositäten“) regte sich eine ganz ursprüngliche Leidenschaft für Tradition, die im Laufe der Zeit nicht nur ein neues, faszinierend unbürgerliches Goethebild beschworen, sondern auch viele andere Bereiche der europäischen Vergangenheit wie mit Zaubersprüchen erschlossen hat. Die revolutionäre Leistung dieser Generation: in unserer Perspektive besteht sie vor allem in einem Akt schöpferischer Re-Integration aus eigener Ursprünglichkeit. Hofmannsthal und George, Borchardt und Schröder stehen daher in dieser Anthologie am Anfang einer Reihe von wesentlich traditionsgebundenen Lyrikern, der man auch den Österreicher Josef Weinheber noch zuordnen kann, denn die besten Kräfte dieses Mannes sind dort zur Geltung gekommen, wo er ein überliefertes Formgut mit der Leidenschaft eines modernen Sprachgeistes zum Leben erweckt und mit der Motivik des eigenen tragischen Schicksals erfüllt hat.
Die zweite Abteilung vereinigt eine Fünfzahl von bedeutenden Einzelgängern, die keiner literarischen Gruppenbewegung zugerechnet werden können und auch untereinander radikal verschieden sind. Das Gemeinsame zwischen ihnen besteht allein darin, daß jeder von ihnen zur Vorbereitung der expressionistischen Kulmination das Seinige beigetragen, andererseits aber, über sie hinausweisend, bestimmte Möglichkeiten der nachexpressionistischen Entwicklung eröffnet hat, und daß sie alle – bis auf einen – von der Um- und Nachwelt nicht eigentlich verarbeitet worden sind und ihre Werke noch immer wie erratische Blöcke im Felde liegen. Der gespenstische Parodist des transzendentalen Idealismus, Otto zur Linde, steht neben den beiden „Kosmikern“ Däubler und Mombert; Rilke, der seraphische Sänger des „Weltinnenraums“, trifft zusammen mit der dunkel-kühnen Christlichkeit eines Konrad Weiss, der als ein „gottverworrner Mund aus deutschem Samen“ hier geradezu als Gegenspieler zu der genialen Ketzerei des modernen Orphikers erscheinen kann.
Die dritte und mittlere Gruppe umfaßt alle diejenigen Dichter, welche die expressionistische Bewegung zum Siege geführt und die neuen Erfahrungen aus dem Umkreis des ersten Weltkrieges lyrisch bewältigt haben: das Thema der Großstadt und der kriegerischen Katastrophe, das soziale und politische Pathos, die schwindelerregenden Bewußtseinsschocks einer von Spätlingsschauern heimgesuchten Gesellschaft, die Agonien einer zu Bruch gehenden Zivilisation, die brennenden, in den Elementarfarben der Brücke und des Blauen Reiters glühenden Visionen des schöpferischen Ichs. Vieles von dem, was um 1920 für bare Münze gehalten wurde, ist inzwischen durch die Zeit entwertet worden. Alles hektische und exaltierte Getue und bramarbasierende Revoluzzertum, auch gewisse pathetische Schaumschlägereien und sprachliche Fehlleistungen mußten in einer heutigen Anthologie unterdrückt werden. Um so klarer tritt nun die wesentliche Leistung der expressionistischen Generation hervor: die großartige und folgenreiche Initiative der Trakl und Heym, die kühnen und inbrünstigen Wagnisse der Else Lasker-Schüler neben denen die Stimme eines Werfel für das heutige Ohr merkwürdig schwächlich klingt, schließlich die starken und originalen Muster der Brecht und Benn, die beide bis heute gegenwärtig und wegweisend geblieben sind, obwohl nur der letztere so etwas wie Tradition gebildet und Schule gemacht hat.
Der vierte Teil, eine Art Zwischenspiel in leichterer, aber nicht weniger geistbestimmter Tonart, bringt eine Gruppe von Autoren zu Gehör, denen es gegeben ist, mit den Mitteln der Satire, der Ironie oder des drastischen Humors bestimmte Aspekte der modernen Wirklichkeit zu enthüllen, die anderswo verborgen bleiben. Hier findet das tiefsinnige Scherzando und die sprachschöpferische Alchemie eines Christian Morgenstern einen Platz, ebenso die burlesken und schmerzlich-witzigen Brettltöne der Wedekind, Klabund und Ringelnatz und die grimmigen Karikaturen des jungen Erich Kästner; aber auch die sinnenkräftige Daseinsfreude und Kamaraderie eines Zuckmayer und der graziös-ernsthafte Secco-Stil eines Peter Gan gehören in dieses Feld. Spielerische, frivole und beißend gesellschaftskritische Stimmen kommen hier zur Geltung, dem Alltag wird sein Recht gegeben, dem Trivialen und Lächerlichen wird Aufmerksamkeit geschenkt, aber auch diesen Autoren geht es dabei immer um das Ganze von Leben und Tod, Himmel und Hölle, und oft genug muß man von einem humoristischen Wortspieler überraschende Lektionen über das Verhängnis des Menschseins entgegennehmen, die erregender sind als die großen Gesten des pathetischen Stils.
Die fünfte und umfangreichste Abteilung unserer Sammlung demonstriert die Entwicklung in der Epoche des zweiten Weltkrieges samt Vor- und Nachkriegszeit und versucht einen charakteristischen Eindruck zu geben von dem Kräftespiel der unmittelbaren Gegenwart, wobei alle diejenigen Autoren weggelassen wurden, die schon in anderen Zusammenhängen einen Platz fanden. Hier mit Oskar Loerke zu beginnen, schien insofern angebracht zu sein, als dieser einsame und eigenwillige Experimentator und Eroberer neuer Provinzen des Ausdrucks durch seinen starken Einfluß auf Wilhelm Lehmann gewissermaßen einen Übergang darstellt von den glühenden Sprachzentren des Hochexpressionismus zu den Wortwelten der modernen Naturlyrik, die das Bild heute so weitgehend bestimmen.
Das Ausdrucksfeld der heutigen deutschen Lyrik ist von starken und fruchtbaren Spannungen beherrscht: Natur und Geschichte, Pastorale und Elegie, bukolische und metaphysische Poesie, so heißen die Gegensätze. Den Dichtern des Dorfteichs treten die Dichter der City und der Zeitgeschichte ergänzend und widersprechend entgegen. Daß die letzteren sich auf bedeutende Vorbilder aus der vergangenen Generation berufen können, liegt auf der Hand, aber jene neue, aus romantischen Überlieferungen gespeiste, merkwürdig radikale Poesie der Landschaft und des elementaren Lebens, wie ist sie zu erklären? Hier scheint eine Analogie zur Schäferdichtung des 16., 17., 18. Jahrhunderts zu bestehen: wie diese sich gegen die heroische und hoch zeremoniöse Welt des großen barocken Stils als eine unerläßliche Neben- und Gegenstimme erhob, so präsentiert sich heute der Naturlyriker als der notwendige Gegenspieler des Dichters der Zeit und des geschichtlichen Bewußtseins. Um neue Sach- und Wortwelten höchst erfolgreich bemüht, die Gefahr des „Eskapismus“, das heißt der Flucht aus der Zeit in eine zeitverlorene Idylle, nicht immer vermeidend, haben diese modernen Schäfer ihre sinnvolle Funktion darin, natürliche Widerstandsordnungen zu behaupten gegen die aufreibenden Tendenzen des geschichtlichen Prozesses und den von kulturpessimistischen Schwindelanfällen bedrohten Geist des Menschen an die zeitlosen Mächte des Seins zu erinnern.
In der sprachlichen Gesamtleistung der Lyrik der Gegenwart sind viele ältere und jüngere Traditionen zu einem neuen und eigentümlichen Ganzen integriert worden. Die Errungenschaften des Hochexpressionismus sind überall noch lebendig, die fortzeugende Meisterschaft verschiedener Initiatoren der älteren Generation, wie Rilke, Benn, Loerke und anderer, ist noch unbestritten, aus den klassischen Überlieferungen unserer Literatur wirkt vieles herein. Außerdem sind Einflüsse aus außerdeutschen Literaturen aufgenommen und verarbeitet worden, französisch-spanische etwa bei Krolow, englisch-amerikanische bei Holthusen und anderen. Von einer sprunghaften Mutation der Sprache, wie sie zwischen 1900 und 1920 zu beobachten ist, kann indessen heute nicht die Rede sein, in Deutschland so wenig wie in den anderen Ländern unseres Kulturkreises. Gewiß sind neue Themen und Motive hinzugekommen: die inkommensurablen Erfahrungen der modernen Katastrophenlandschaft, der zweite Krieg, Gefangenschaft, die Unterwelt des politischen Terrors, das soziale und seelische Chaos der Nachkriegszeit, apokalyptische Bewußtseinskrisen, Genrebilder aus dem Leben der heutigen Gesellschaft. Nicht wenige Dichter haben sich um die Erweiterung des lyrischen Vokabulars und um eine Differenzierung und Potenzierung der metaphorischen Möglichkeiten beträchtliche Verdienste erworben. Aber ein ganz neues, auf die Situation von 1920 nicht mehr bezogenes Muster ist nirgends zu finden; auch wo die surrealistische Manier mit Glück gemeistert wird, wie bei dem jungen Paul Celan, da werden poetische Möglichkeiten genutzt, die schon vor dreißig Jahren gestiftet worden sind.
Wenn man versuchen will, über die Bewußtseinslage der jungen und jüngsten Generation etwas Allgemeines zu sagen, so wird man zunächst feststellen dürfen: weltanschauliche Systeme in lyrischer Form gibt es nicht mehr, der Wille zu großen Entwürfen einer Seins- und Lebenslehre im Sinne Rilkes und Georges hat abgedankt. Auch das revolutionäre Pathos vieler Autoren der expressionistischen Ära, dieses im Grunde hochoptimistische, die ganze Menschheit betreffende, auf Veränderung und Erlösung der Wirklichkeit durch den Geist versessene „Weltfreund“-Gefühl, wird heute nicht mehr empfunden. Eine allgemeine Ernüchterung bis in die Tiefen der Seele hinein hat stattgefunden. über das Ganze, möchte man sagen, hat der heutige Dichter keine Meinung mehr, auch ist er nicht mehr geneigt, sich für die Welt schlechthin verantwortlich zu fühlen oder das Amt eines Stellvertreters der Menschheit für sich zu beanspruchen, wie noch der Autor der Duineser Elegien es tut. Bescheidung und Beschränkung ist sein Teil. Er hält sich an Einzelnes, an eine besondere sinnliche oder seelische Erfahrung und deren präzise Vergegenwärtigung in der Sprache. Seine Aufmerksamkeit entzündet sich wieder am unbezwinglichen Widerstand der äußeren Welt, und wo er ihr heimliches Bröckeln und Zerfallen und ihr gespenstisches Verwehen spürt, da genügt es ihm schon, ein kleines Stück Sicherheit in vier Strophen verfestigt und drei Schritte Wirklichkeit als Existenzgrund für sich gewonnen zu haben. Es herrscht eine ausgesprochen nachsintflutliche Atmosphäre. Der kosmische Aufruhr ist verebbt. Die großspurige, mit Sonnen und Gestirnen ballspielende Demiurgengeste hat im allgemeinen einer Art von kleinmeisterlicher Haltung Platz gemacht. Man nimmt ein bescheidenes Stück Welt an sich, um es in der Sprache abzubilden und dann „dem Unerfahrbaren zurückzugeben“ (Piontek). Damit endet für den Augenblick eine Entwicklung, die mit Hofmannsthals „Lebenslied“ einsetzte und trotz krisenhafter Schübe und radikaler Umwälzungen erstaunlich viel energische Kontinuität beweist. Auch bei den jüngsten Autoren dieser Anthologie bestätigt es sich, daß die deutsche Lyrik ihren heimatlichen Boden nicht verlassen hat und ihren klassischen Traditionen treu bleiben konnte, ohne doch jemals in epigonaler Stagnation zu verharren.
Die Herausgeber haben sich bemüht, nicht nur die Gesamtheit der Erlebnisse und motivischen Möglichkeiten der letzten fünfzig Jahre in charakteristischen Gedichten zu Wort kommen zu lassen, also eine Art welt- und geistesgeschichtlichen Abriß in lyrischer Gestalt darzubieten, sondern auch jeden einzelnen der ausgewählten Dichter möglichst in der ganzen Mannigfaltigkeit seiner Formen und Tonarten, jedenfalls aber mit seinen Hauptmotiven vorzustellen. Wo ein und derselbe Ton von verschiedenen Dichtern gepflegt wurde, war es Grundsatz, den stärksten von ihnen für die anderen sprechen zu lassen, ihm ein Recht der Stellvertretung einzuräumen. Die für den einzelnen Autor kennzeichnende Äußerung wurde nur dann aufgenommen, wenn es sich nach Meinung der Herausgeber gleichzeitig um ein wirklich geglücktes und allgemeingültiges Gedicht handelte. Denn es sollten nur gute Gedichte gesammelt und diese so gruppiert und in Zusammenhänge eingeordnet werden, daß keine Anhäufung interessanter Einzelheiten, sondern ein organisches Ganzes, also ein wirkliches Buch, entstünde.
Die Herausgeber ergreifen gerne die Gelegenheit, folgenden Herren für ihre Ratschläge und Hinweise und ihre fördernde Teilnahme ihren aufrichtigen Dank auszusprechen: Paul Adams, Hanns Arens, Hans Hennecke, Curt Hohoff, Hartfrid Voss.
Die Herausgeber, Herbst 1953, Nachwort
Es hat sich als notwendig erwiesen, diese Anthologie von Zeit zu Zeit zu überarbeiten und zu erweitern, um fragwürdige Entscheidungen zu revidieren, Versäumtes nachzuholen und aus der großen Anzahl von neuen Autoren, die seit 1953 öffentlich sichtbar geworden sind, die jeweils besten, glaubwürdigsten auszuwählen und aufzunehmen. Wenn das Publikum den Herausgebern die Ehre erwiesen hat, ihrem Buche mehr als acht Jahre lang seine lebendige Anteilnahme zu bezeugen, so fühlen die Herausgeber sich verpflichtet, das Publikum nach bestem Wissen und Gewissen auf dem laufenden zu halten, d.h. nicht auf der nachgerade historisch gewordenen Mustersammlung von 1953 sitzen zu bleiben, sondern dem berechtigten Verlangen nach Aktualität Rechnung zu tragen und die ständig weiterblühende Entwicklung des sprachlichen Lebens im Auge zu behalten. Auch gewisse Verschiebungen der kritischen Perspektive konnten von Fall zu Fall nicht unberücksichtigt bleiben. So wurden 1957, anläßlich des Erscheinens der sechsten Auflage, sieben neue Autoren aufgenommen; bei vierzehn anderen wurden Gedichte gestrichen, ausgetauscht oder hinzugefügt. In die hier vorliegende neunte Auflage wurden zwei neue Autoren aufgenommen; in zwei Fällen wurden Gedichte ausgetauscht, wobei einmal, wie auch in einem dritten Fall, der Bestand vermehrt wurde. Ausgeschieden wurden seit der Erstauflage insgesamt drei Autoren. Am Ende des Bandes wurden, einer neuen Akzentsetzung zuliebe, einige Umstellungen vorgenommen.
Trotz aller Veränderungen im einzelnen mußte jedoch die grundsätzliche Disposition des Bandes nicht angetastet werden. Einteilung und Gruppierung der Autoren im großen und ganzen scheinen brauchbar geblieben zu sein; wenn etwas durch die Neuigkeiten der jüngsten Zeit in Frage gestellt worden ist, dann sind es allein die kritischen Prinzipien, mit deren Hilfe die Herausgeber das Ausdrucksfeld der zweiten Nachkriegszeit verstanden und geordnet haben. Was damals unmittelbar einleuchtend zu sein schien: der Gegensatz zwischen Naturlyrik und Zeit- oder Bewußtseinslyrik, zwischen einem idyllischen und einem elegischen Stilwillen und damit zusammenhängend die Kennzeichnung einer neuen „kleinmeisterlichen“ Form im Unterschied zu der großen Prophetengeste einer älteren Generation: das eben ist durch die thematischen und formalen Errungenschaften einiger jüngerer Autoren von Rang, auf die alle diese Merkmale nicht mehr zutreffen, wenn nicht erledigt, so doch relativiert worden. Mit den neuen Namen sind auch ganz neuartige Stimmungen zur Geltung gekommen, ein neuer Sprachgebrauch, eine neue Ästhetik. Einerseits beobachtet man eine immer radikaler werdende Tendenz zur reinen asyntaktischen „Wörtlichkeit“ des lyrischen Ausdrucks und den vielleicht absurden Versuch, sprachliche Entsprechungen zur abstrakten Malerei und zur elektronischen Musik zu schaffen. Andererseits hat man es mit einer neuartigen Empfänglichkeit für die Nötigung des Moralischen und einer bis zum Zorn gesteigerten politischen Leidenschaft zu tun, die mit wütender Deutlichkeit sagt, was sie meint, und die nun endlich auch die (1953 noch offene) Frage nach den Folgen der großen Initiative Bertolt Brechts beantwortet. Für den „linken“ Flügel der jungen Generation scheint in der Tat der Begriff „Gesellschaft“ die gleiche vorherrschende Bedeutung zu besitzen wie einst für die Jugend der Nachkriegszeit die Begriffe „Dasein“ oder „Existenz“.
Eine Anthologie der deutschen Lyrik des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich, solange sie neue Auflagen erlebt, dem Zuwachs an immer neuer Begabung nicht verschließen kann, mußte auch dieser Thematik einen Platz einräumen. So wenig die Herausgeber sich bisher entschließen konnten, die Adepten des sogenannten „abstrakten“ Gedichts, Verfertiger von Buchstabenaggregaten, Silbenrastern und dergleichen, in ihre Sammlung aufzunehmen, so gerne ergreifen sie die Gelegenheit, denjenigen poetischen Leistungen der jungen Generation, die sich durch Kühnheit der Einbildungskraft, Ursprünglichkeit des Fühlens und Eigentümlichkeit der Diktion von der jeweiligen Mode des Tages unterscheiden, den schuldigen Respekt zu erweisen.
Die Herausgeber, Herbst 1961, Nachwort
Gleich nach 1945 sind einige Anthologien deutscher Gedichte erschienen, um dem Menschen, der „dichterisch wohnt“, Lebensbrot zu bieten; denn was war sättigender, nächst der Musik, als Gedichte lesen, auslesen. Damals fehlten noch alle Texte, heute fehlen noch viele. Natürlich fing man da an, wo man 1933 aufgehört hatte. So erschienen schnell hintereinander Verboten und verbrannt (Ullstein-Kindler, München), Vom Schweigen befreit (Rupert, Leipzig), das De Profundis (Desch, München), das mit vielen erinnerungswürdigen Versen des zagenden und wagenden oder auch nachträglichen Widerstandes ein Leidensmal setzte. Schließlich versuchte man das lyrische Nationalvermögen auf Grund älterer Inventare aus der Asche wieder einzusammeln. Wir wollen diese ersten Bemühungen anerkennen, ohne zu verkennen, daß es Notlösungen waren.
Anthologien sind bloße Herbarien, wenn sie nicht auch Bekenntnisse sind. Ehrlicherweise konnte das neue literarische Deutschland noch nichts aus eigener Erfahrung bekennen. Die Vergangenheit war kein Ganzes, zu dem man Ja oder Nein sagt. Ohne eigenes Dasein bliebe das Aeltere museal. Erst mußte sich die neue Generation mit ihrem Jetzt und Hier über die frühere Rechenschaft geben, bevor sie Inventare des Gebliebenen aufstellen konnte. Diese Rechenschaft entwickelte sich als ein dichterischer und analytischer Prozeß, in dem Dichter und Kritiker sich in eine Gemeinschaft der Zustimmung oder der Opposition einlebten. Was ist aber schwieriger und flüchtiger als die Wertbestimmung von Gedichten! Sie hängt für den Anthologen von derselben Voraussetzung ab, auf der das Gedicht gewachsen ist, oder, wie Rudolf Borchardt es im Nachwort zu seinem despotisch bestimmten Ewigen Vorrat deutscher Poesie (Rütten & Loening) ausdrückt, von der „Willens- und Leidenslage eines Zeitalters“. Mehr als jedes andere kritische Urteil ist das über Lyrik vom Zufall der Leseminute abhängig; es ist ein Korrelat zum Wunder des Verses selbst, daß etwas, das zerbrechlicher ist als venezianisches Glas, ewiger besteht als die Völkergeschichte.
Daß Anthologien Auslesen sind, ist nicht ihr einziger Charakterzug. So zeitbedingt wie jedes Geschmacksurteil ist auch das geistig-moralische und politische Kriterium der Wahl. In jedem höheren Sinn ist Kunst ein metapolitisches Phänomen, ganz gleich ob in ihr ein Residium des Gewesenen überwiegt, das Seiende seine Qualen dem Wort einprägt, das Zukünftige herausgefordert oder vorausgesagt wird. In jedem Fall ist Lyrik das, was eine vieldiskutierte Anthologie mit einem Wort, das bleiben wird, als Ergriffenes Dasein bezeichnet. Sie umfaßt deutsche Lyrik von 1900–1950. Ausgewählt wurde sie von Hans Egon Holthusen und Friedhelm Kemp für den Verlag Langewiesche-Brand, der in früheren Zeiten mit seinen beiden Anthologien Die Ernte von Will Vesper die Liebe zum Gedicht in den Grenzen des wohnbürgerlich Erlaubten verbreitet hatte.
*
Meine Sorge, die Nachfolge Vespers könnte vom Verlag auf die Herausgeber abfärben, war leider begründet. Der Titel Ergriffenes Dasein verpflichtet, noch mehr das überlegte und wohlgeformte Nachwort der Anthologen, die sich beide als Essayisten, Uebersetzer, Herausgeber einen Namen gemacht haben. Man täte dem Buch, einem Resultat von tausenden Lesestunden Unrecht, wenn man es nicht beim Worte, beim Titel nehmen würde, der mit einer ganz leichten Wortverbindung viele Tiefen umfaßt. Das Dasein ergreift den Dichter, der Dichter ergreift das Dasein, greift es auf und an. Das Dasein wird Wort, das Wort wird Tat. Der Dichter wird durch das Dasein ergriffen, vernichtet, zerrissen aber er fügt sich und dieses wieder im Vers zusammen. Er verändert es durch sein bloßes Dasein; er kündet Katastrophen an; er lehrt Ueberstehen.
Und wie viel Dasein wurde nicht in dieser Jahrhunderthälfte, der gräßlichsten und verfehltesten der Weltgeschichte, verbraucht, verraucht! Liest man aber nun die Anthologie, vom Titel her zum Nachwort hin, so bleibt überraschender Weise nicht einmal der Eindruck zurück, daß die Dichter dieser fünfzig Jahre noch einmal davongekommen sind. Vom Aspekt der zweiten Jahrhunderthälfte aus, wäre ihr Leben beneidenswert freundlich zu finden. Nur 12 von 60 Dichtern haben Schweres im Gedicht erlebt. Vergleicht man etwa eine Anthologie des Barocks, die ältere von Curt Faber du Faur, oder die neueste von Max Wehrli (Klosterberg) mit der unseres Jahrhunderts, so findet man in jenen aufwühlende Kämpfe, mystische Ausbrüche, apokalyptische Zerfleischungen, kosmische Greuel, tröstendes Heil; und sind wir auch nicht so groß wie das Barock: so wohlerzogen wie diese neue lyrische Versammlung waren wir nicht.
Wie ist diese Diskrepanz entstanden? Durch die restaurative Gesinnung des heutigen Deutschlands, die diese Anthologie nicht vermeldet, sondern selber begeht. Das Nachwort fördert die Vorstellung einer neuen Lesergeneration, daß auf die stillen Zeiten des Vorkriegs die Explosionen der Aktionslyrik (des kürzlich verstorbenen Franz Pfemfert) und die Symphonie der Menschheitsdämmerung folgte, die Kurt Pinthus herausgab; als sich die Flammenfüße bereits verlaufen hatten. In Wirklichkeit beginnt die Katastrophe nicht 1911, sondern 1890. Das bezeugen die Dichter, mit denen die Anthologie beginnt: Hofmannsthal und George. Der Georgekreis verteidigte seinen Herrn gegen das Mißverständnis seiner beliebten Gedichte, die reine Stimmungen formten; gegen die Ueberwertung des Jahrs der Seele. Hier begann der Ruhm, das zu sein, was Rilke in seinem Rodin „den Inbegriff aller Mißverständnisse“ nannte, „die sich um einen neuen Namen sammeln“. Aber sind diese Namen neu?
Kann man nach Robert Boehringers George den Dichter als Rebellen verkennen, als Gesellschaftsrevolutionär, und Hofmannsthal noch immer nach dem Turme? Beide wurden in ihrer revolutionären Gestalt schon 1898 und 1902 von den Sozialistischen Monatsheften durch Ria Classen unter dem Einfluß Joseph Blochs dargestellt und in den Sozialismus übernommen; Holthusen und Kemp haben über 50 Jahre Erkenntnis versäumt; das heißt, sie sind als Exponenten der restaurativen Lyrik nicht mehr gewillt, die Tragik Hofmannsthals und die Gewalttätigkeit Georges in ihre Auswahl mitaufzunehmen. Die Verharmlosung des Beginns ist das würdige Vorspiel zum überlangen Nachspiel, allzuvielen Seiten weltflüchtiger Pflanzenlyrik, dem grotesken Ausklang einer Weltkatastrophe, die damit endet, daß die überlebenden Dichter – nicht alle, allerdings – aus dem Bunker in die Gartenlaube flüchten.
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Die Herausgeber versichern in einem gemeinsamen Nachwort, das an sich viel Gutes enthält – nur die Wertangaben stimmen nicht – sie hätten „die Gesamtheit der Erlebnisse und motivischen Möglichkeiten der letzten fünfzig Jahre in charakteristischen Gedichten zu Wort kommen lassen“. Hätten sie es nur getan, was wäre das für eine Anthologie, für ein Ehrenmal der dichterischen Opferbereitschaft geworden! Denn wie wurde seit 1890 darum gerungen, Dasein zu ergreifen und seinen Ansturm zu bestehen. Aber grade das fehlt: die Todestrauer, das Verzagen dem Leben und Fühlen gegenüber; das entgleitende Ich (Hofmansthal), das sich nach drei Jahrzehnten in den Sonetten an Orpheus konsolidiert und behauptet; der herrische Versuch einer Elitenbildung; das Gericht über die Zeit, als sie noch wirklich groß war; ihre dämonische Verfluchung als sie aus Ohnmacht grausam, aus Schwäche mörderisch wurde; das Ringen um eine neue Religiosität; der Anspruch des Dichters, Vates zu sein; wie viel Not der individuellen und gesellschaftlichen, der erotischen und entsagenden Einsamkeit; die neue Desillusionierung; die Frontbildung gegen die Bourgeoisie in ihrer eigenen Mitte; das Leiden an der mechanisierten Entmenschlichung, die sittliche Verantwortung für das Proletariat; die neuen Volksgänger und Nachfolger Tolstois; ihr Bedürfnis, die Menschheit zu lieben; dies alles war die Europäisierung der deutschen Lyrik.
Die Herausgeber sprechen recht herablassend über das exaltierte Getue der zwanziger Jahre (gemeint ist 1910–1920, nachher hörte es von selber auf), das „unterdrückt werden mußte“. „Unterdrückt“, klingt nicht schön. Anthologien müssen mit einerlei Maß messen. Aber was diese Anthologie an Süßholzreimen und posierter Klassik bringt, ist so belanglos, daß es nur das Vorurteil „als wirklich geglücktes und allgemeingültiges Gedicht“ bezeichnen kann. Was für Schmarren-Strophen. Und wie diskreditiert diese Auswahl den „landschaftlichen Radikalismus“, dessen frühester Vertreter Loerke, mit Keulenversen (sie fehlen natürlich) auf die Zeitenschande schlug, an der er gestorben ist.
Im Gegensatz zu den Herausgebern habe ich vielmehr den Eindruck, daß sie ästhetisch verwerfen, was sie substantiell nicht mögen. Denn sie haben überall, von vorn bis hinten, die Schroffen gemieden, den Trotz unterdrückten, das halbe Jahrhundert entgiftet, verharmlost als dünnen Quell gezeigt, der erst heute als breiter seichter Strom seine Mündung erreicht, allwo man findet, ein schmalbrüstiges Biedermeier, ein neuschwäbelndes Gelbveigleingepiepse, mit mythischen Zutaten von Achill, Theseus, Uranus, auch das angelesen wie das botanische Geklingel, das nicht bloß Weinheber in Nachschlagwerken pflückte, bevor er sich am Schreibtisch auf die Wiese legte, die, wie schon Morgenstern dichtete, nichts für nervöse Leute ist.
Es tut gut, sich nach diesem faden Zeug zu erfrischen und dafür empfehle ich allen, bei denen diese Blümchenpoesie einen schalen Geschmack hinterläßt, die Strophe eines Lektors, zufällig heißt sie „Restauration“, denn „Nabobs Weinberg war schon da“:
RESTAURATION
(nach Durchlesung eines Manuskripts mit Gedichten)
Das süße Zeug ohne Saft und Kraft!
Es hat mir all mein Gedärm erschlafft.
Es roch, ich will des Henkers sein,
Wie lauter welke Rosen und Kamilleblümelein,
Mir ward ganz übel, mauserig, dumm,
Ich sah mich schnell nach was Tüchtigem um,
Lief in den Garten hinterm Haus,
Zog einen herzhaften Rettich aus,
Fraß ihn auch auf bis auf den Schwanz,
Da war ich wieder frisch und genesen ganz. (Mörike)
*
Wie rettet man dieses Buch? Die Anthologie hat zunächst nicht mit Hofmannsthal zu beginnen, sondern mit dem Beginn der neuen Lyrik, das heißt mit Holz, Liliencron, auch mit Dehmel, von dem mindestens zwei Gedichte stand gehalten haben und mehr wert sind als der Schund der Ina Seidel. Die Beseitigung Liliencrons ist indiskutabel. Sein Werk hat ebensoviel Dauer wie dessen Verehrung durch Hofmannsthal, Rilke, Kraus. Diskutabel wäre eher, ob man nicht mit den Naturbildern von Martin Greif und der echten Gärtnerpoesie von Christian Wagner beginnen müßte, um der heutigen Naturdichtung ihre Meister zu zeigen. Es fehlt dann die Zwischengeneration, für die ich aufs Geratewohl Dauthendey, Leo Greiner, Calé, Owlglass nenne. Die beiden letzteren hat Oskar Jancke in seinem sehr angenehmen Piper-Bändchen Wellen und Ufer, deutsche Gedichte seit 1900 wiederentdeckt, das einige Unterlassungen der anderen Anthologie gutmacht, aber selbst auch ein Dutzend Ueberflüssigkeiten durch stärkere Dichter oder Gebilde ersetzen müßte. Schließlich fehlt bei Holthusen-Kemp die wesenhafte Lyrik von Künstlern, die noch anderes als Lyriker waren, aber eben dadurch unentbehrliche Lyriker; ich meine Hawptmann, Kafka, Kraus, Altenberg, Brach, Klee. So recht kennzeichnend für eine leider nicht ausgegangene Gesinnung Deutschlands ist die totale Absenz der Schweiz. Als ob Arp, Gwerder, Lang, Rychner, Strub, Walter, Zemp, Zollinger und manche andere es nicht mit den…, und so weiter, aufnehmen könnten!
Die Beschränkung des religiösen Gedichtes auf das katholische unterdrückt Wesentliches; sie verfälscht George und Rilke. Wenn Lyrik nach Dasein gemessen wird, wie dürften da die Daseinselegien fehlen. Es fehlen auch die starken Gedichte einer jüdischen Rückkehr zum Sinai: Wolfskehl, Broch, Susman; es fehlen die religiösen Gedichte Werfels, das heißt seine echtesten. Es fehlt, natürlich, Arno Nadel, aus dessen Insel-Dünndruck-Ausgabe des Ton unter 2.084 Stücken gewiß zehn auszulesen wären. Es fehlen die Schroffheiten des Expressionismus und Desillusionismus, das heißt Stramm, Bechers genialische Anfänge, van Hoddis, der originelle Ehrenstein, die Absynthverzweiflung von Hardekopf und Ball; es fehlt das politische Pamphlet (soweit es Zähne hat), dagegen ist ein an und für sich plausibles Scherzo von höherem und flacherem Kabarett viel zu geräumig ausgeartet.
*
Und schließlich, das Schlimmste, die numerische Disproportion! Mit wie feinem Takt hat Katharina Kippenberg in ihren Deutschen Gedichten (Insel), einer Anthologie, die ich liebe, Wertgruppen auf kleinstem Raum quantitativ bestimmt. In dieser Anthologie gibt es je: zehn Gedichte von George und – Ringelnatz (der beste Witz von Ringelnatz); acht von Hofmannsthal und Holthusen (ein schlechter Scherz Holthusens; fünf von Borchardt, Erich Kästner, Zuckmayer, Ina Seidel (man schämt sich); vier von Hesse, Piontek, Celan, Horst Lange – und so weiter.
Zahlenmäßig führend sind: Rilke (20), Konrad Weiß (16), ein neugotischer Verskupferstecher, die anthologische Entdeckung seines demütigen Werkes durch Kemp; Loerke, Morgenstern, von der Vring (je 14); Trakl, Schröder, Britting (je 13), Mombert (12); Benn, Lasker-Schüler, Lehmann, Bergengruen, Krolow (je 11); und so weiter. Die Ersten (außer Rilke und Weiß) werden die Wenigen, die Letzten die Zuvielen sein.
Und doch hat diese Anthologie ein großes Verdienst. Alle Verzerrungen können das Wahrbild nicht unkenntlich machen, daß Deutschland nicht im Drama und Roman (mit wenigen Ausnahmen), sondern im Gedicht am meisten der Jahrhunderthälfte gegeben hat. Die Bedeutung dieser Epoche besteht nicht in der Fülle der Vollendung (die oft genug erreicht ist), sondern in den vielfältigen Reaktionen auf die große Daseinsfrage. Es wurde mehr gelitten, bevor das große Leid begann, als da es ausgelitten ward. Das Wort wurde geläutert, der Glaube bekannt, die Verzweiflung war begnadet, der Tod eine Lebensschöpfung. Vielleicht liegt die Lyrik deshalb in Rekonvaleszenz und reproduziert nur noch den eigenen Kamillentee. Eine neue Verzweiflung wird die Lyriker aus den Betten treiben, denn was vor 60 Jahren groß anfing, ist gewiß noch nicht zu Ende. Der neuen Stagnation tut keine Kameraderie not, sondern der scharfe Wind der Kritik. Bitte! Denn daß diese Anthologie in Deutschland unkritisch berühmt wurde ist das Bedenklichste. Gottlob sind noch die Aelteren da, die keinen Geschmack finden an der Limonade der braven Denkungsart.
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