Hans Egon Holthusen: Zu Günter Eichs Gedicht „Zum Beispiel“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Günter Eichs Gedicht „Zum Beispiel“ aus Günter Eich: Zu den Akten. –

 

 

 

 

GÜNTER EICH

Zum Beispiel

Zum Beispiel Segeltuch.

Ein Wort in ein Wort übersetzen,
das Salz und Teer einschließt
und aus Leinen ist,
Geruch enthält,
Gelächter und letzten Atem,
rot und weiß und orange,
Zeitkontrollen
und den göttlichen Dulder.

Segeltuch und keins,
die Frage
nach einer Enzyklopädie
und eine Interjektion
als Antwort.

Zwischen Schöneberg
und Sternbedeckung
der mystische Ort
und Stein der Weisen.

Aufgabe, gestellt
für die Zeit nach dem Tode.

 

Wort-Liebe

Das Motiv heißt „Segeltuch“. Ein dreisilbiges, einigermaßen klangvolles und ansehnliches Wort, das hier zunächst einmal nur für sich selber steht, für seine nichts-als-linguistische Identität und seinen Ort im alphabetischen System des Wörterbuchs, ungefähr auf halbem Wege zwischen „Schöneberg“ und „Sternbedeckung“. Eine Aura von X-Beliebigkeit hängt ihm an: so stach man zu Zeiten mit der Stricknadel blindlings in die Bibel hinein, um „Wegzehrung“ und geistliche Führung zu finden, als Adept chinesischer Weisheit bediente man sich zum gleichen Zweck des Buches I Ging. Auch der Dichter will Wahrheit, und zwar in der überwältigenden Form einer Offenbarung.
Seine Art von Frömmigkeit ist: Philologie, also Wort-Liebe, seine Methode wird hier definiert als:

ein Wort in ein Wort übersetzen.

Was ist damit gemeint? Doch wohl nichts anderes, als daß dies rein statistische auf seine nackte „Semantik“ beschränkte Wörterbuchdasein des Wortes durch die Arbeit der dichterischen Einbildungskraft in einen abenteuerlich-vielsagenden, mit raumzeitlichen Eigenschaften, mit „Erlebnis“, Erinnerung, Geschichte imprägnierten Doppelgänger seiner selbst verwandelt wird. Das wäre eine Antwort aber wir werden sehen, daß sie nicht erschöpfend ist.
Günter Eich, den viele seiner Bewunderer für einen sensiblen und „träumerisch“ veranlagten Gemütsmenschen mit edlen („linken“) Grundsätzen gehalten haben, war im Kern seines produktiven Vermögens ganz etwas anderes, nämlich ein Mystiker. Griechisch „myein“ heißt „die Augen schließen“: „mach die Augen zu, / was du dann siehst, / gehört dir“, so liest man’s gleich im ersten Gedicht des Bandes Zu den Akten, dem auch unser Text entnommen ist.
Das Problem des Mystikers (aller Zeiten und Zonen) ist, daß er mit dialektischen Schwierigkeiten zu tun hat, die einen gelernten Hegelianer könnten erröten lassen. Weil das weltlos eine immer nur durch Details von „Welt“, das sprachlose Geheimnis der Innewerdung nur durch ein sprachliches „Zum Beispiel“ vermittelt und durch eben diese Vermittlung auch wieder verschleiert und recht eigentlich vorenthalten wird, darum wird in mystischen Texten nicht selten ein so rigoroser, schmerzlich überspannter Anspruch an den Scharf sinn des Lesers gestellt. Ein Wort in ein Wort übersetzen, das ist eben erst der Anfang einer schlechthin unabsehbaren Reihe von immer neuen Versionen, die sich ihrerseits als Übersetzungen von „etwas“ wesentlich Unübersetzbarem verstehen müssen.
Man erinnert sich an das Hörspiel Allah hat hundert Namenaus einer Zeit (Mitte der fünfziger Jahre), in der Günter Eich als unbestrittener Meister der neuen Kunstform die Szene beherrschte. Es ging darin um die Suche nach dem hundertsten Namen Allahs als dem Inbegriff der Wahrheit, also um eine unverkennbar mystische Expedition, die von Damaskus nach Paris und zurück nach Damaskus führt, eine spannende und liebenswürdige Abenteuergeschichte, die unter geistreicher Verwendung der technischen Möglichkeiten des Mediums Rundfunk inszeniert wird und die damit endet, daß der hundertste Name des Höchsten mit Hilfe eines Besens in der „Glanz dieser Treppe“ (der ägyptischen Botschaft in Damaskus) „übersetzt“ wird.
Das waren goldene Zeiten, diese fünfziger Jahre, man konnte noch in Metaphern reden und mit gutem Gewissen „poetisch“ sein. Zehn Jahre später gibt sich das Gedicht als Akten-Notiz, der Text besteht vorwiegend aus Gruppen von seltsam zusammengeschobenen Nomina, und das unsagbar Eine, in dem alles gesagt ist, wird unter Verzicht auf alle Übersetzungskünste in trocken theoretischer Prosa bezeichnet als „der mystische Ort“, dann gleich noch einmal als „der Stein der Weisen“. Dieser Ort findet sich, wie gesagt, zwischen zwei anderen mit S beginnenden Ortschaften, von denen die erste im Stadtgebiet von Berlin, die zweite in den Sternen liegt. Diese Ortsbestimmung aber wird ergänzt durch eine Art imaginärer Zeitangabe, die es weiß Gott in sich hat, denn durch sie wird das Bewußtsein des Gedichts über den Tod hinaus ins Unendliche erweitert, und mit einer mystisch-dialektischen Pointe wird der Leser entlassen: die zeitliche Existenz des Menschen, die sich, die ihren „unaussprechlichen“ Sinn, erkennen will, wird sich, solange sie zeitlich ist, unweigerlich selber im Licht stehen.

Hans Egon Holthusenaus Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Frankfurter Anthologie. Erster Band, Insel Verlag, 1976

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

0:00
0:00