Hans-Georg Gadamer: Zu Paul Celans Gedicht „BEIM HAGELKORN, im…“

Mashup von Juliane Duda zu der Beitragsserie „Im Kern“

Im Kern

– Zu Paul Celans Gedicht „BEIM HAGELKORN, im…“. –

 

 

 

 

PAUL CELAN

BEIM HAGELKORN, im
brandigen Mais-
kolben, daheim,
den späten, den harten
Novembersternen gehorsam:

in den Herzfaden die
Gespräche der Würmer1 geknüpft –:

eine Sehne, von der
deine Pfeilschrift schwirrt,
Schütze.

 

Wie das vorangegangene Gedicht

die Bewußtheit des Denkens an den Tod zum Gegenstand nahm, hat auch dieses Gedicht unmittelbar mit dem Tod zu tun. Daß das letzte Wort ,Schütze“ eine Metapher des Todes ist, ist unzweifelhaft. Aber auch vieles andere weist offenbar auf diese Sphäre hin: das „Hagelkorn“, der „Maiskolben“, der „brandig, wird, „später November“. Celan stammt aus dem Osten, und man spürt, wie ihm dieses langsame Hereinbrechen des schweren östlichen Winters ein Wissen um die Vergänglichkeit des Daseins weckt, das tiefinnerlich in sein Lebensgefühl eingewebt ist: Todesgedanken, die Gespräche der Würmer, sind „in den Herzfaden geknüpft“. Es ist wie ein inneres Nagen oder gar wie eine im Innersten verständigte Gewißheit der Endlichkeit und Vergänglichkeit unseres Daseins.
Die Komposition ist als Ganze von eindeutiger Straffheit. Da sind zwei Doppelpunkte. Der zweite ist durch einen Gedankenstrich verstärkt. Sie lassen die Wendung am Ende des Gedichts wie einen Schluß aus zwei Prämissen folgen. Diese Schlußwendung faßt alles Vorangegangene in die Wendung von der gespannten Sehne zusammen, von der der Pfeil schwirrt. Aber es ist nicht der Pfeil, nicht der Tod selber, sondern die „Pfeilschrift“, die von dieser Sehne schwirrt. Wenn der Pfeil Schrift ist, so ist er Botschaft, Verkündigung. Kein Zweifel, diese Schrift sagt uns etwas Genaues: Es ist die Botschaft der Vergänglichkeit, die aus allem spricht, was da genannt war. Aber es ist Botschaft. Man wird daher diejenigen semantischen Teile des Gedichttextes als die tragenden auszeichnen müssen, die nicht nur die Vergänglichkeit künden, sondern die Botschaft der Vergänglichkeit mit Entschlossenheit annehmen. So ist das „gehorsam“, das den einbrechenden Winter anerkennt, ein tragendes Bedeutungsmoment. In ähnlichem Sinne wird auch das korrespondierende „daheim“, beim Hagelkorn, im brandigen Maiskolben, festgelegt. Es meint natürlich nicht im wörtlichen Sinne die eigentliche östliche Heimat, sondern das Daheimsein in den Boten des Winters, des Todes, der Vergänglichkeit. So ist es eine doppelte Zustimmung, die dem eigentlichen Mittelteil des Gedichtes seine Artikulation verleiht. Die Zeichen des kommenden Winters und die innerste Todesgewißheit des Herzens werden bejaht. Daher sind die „Gespräche der Würmer“ „in den Herzfaden geknüpft“. Das innere Nagen der Vergänglichkeit bleibt nicht ein Angenagtwerden von außen, sondern ist ganz ins Innerste aufgenommen. Damit sind die beiden Prämissen, aus denen der Schluß gezogen wird, durch Zustimmung gesichert. Der Schluß ist gültig: Der Pfeil, der seine Botschaft sendet, ist die Todesgewißheit, die ihr Ziel nie verfehlt. Aber es ist noch mehr darin: es ist eine einzige große Bereitschaft, in die der Schütze Tod sein Wort schreiben läßt.
Vielleicht soll man noch einen Schritt weitergehen und den Herzfaden zugleich als die Sehne erkennen, von der die Pfeilschrift abgeschnellt wird. Denn der Herzfaden, an dem die Würmer nagen, ist in gewisser Weise die Spannkraft des Lebens selbst – und gerade in ihn sind die Gespräche der Würmer geknüpft. Der Schlußsatz folgert nichts Neues – er faßt nur zusammen. Die tiefinnere Gewißheit der Vergänglichkeit und des Todes ist nicht wie die Sehne eines tödlichen Bogens, dessen Geschoß einen plötzlich zerreißt, sondern ist im Gegenteil das, was das Leben selbst spannt. Von dieser Sehne des Herzens kommt nicht so sehr der Tod als die vertraute Gewißheit des Todes, die das Leben ist und die einem jeden immer schon und doch in der jähen Getroffenheit durch die Pfeilschrift – entziffert ist.

Hans-Georg Gadamer, aus Hans-Georg Gadamer: Wer bin Ich und wer bist Du? Kommentar zu Celans Atemkristall, Suhrkamp Verlag, 2019

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